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FALL AMRI : Zuständige mit düsteren Ahnungen

Gefährung von Weihnachtsmärkten wurde laut Ex-Geheimdienstkoordinator Fritsche regelmäßig erörtert

23.11.2020
2023-08-30T12:38:26.7200Z
3 Min

Etwa Mitte Dezember 2016 soll Thomas de Maizière (CDU), damals Bundesinnenminister, seinem besorgten Herzen Luft gemacht haben. Wenn die Weihnachtsmarkt-Saison vorübergehe, ohne dass es zu einem terroristischen Zwischenfall gekommen sei, so äußerte, wie es heißt, der Minister vor einer Betriebsversammlung seines Hauses, "dann mache ich drei Kreuze". Eine Woche später preschte der Tunesier Anis Amri am Steuer eines 25 Tonnen schweren, mit Stahlträgern beladenen Lastwagens in den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz.

Zu jener Zeit war Klaus-Dieter Fritsche im Rang eines Staatssekretärs Geheimdienstkoordinator des Bundeskanzleramts, und er teilte de Maizières Befürchtungen. Das Jahr 2016 hat er, wie er in der vorigen Woche dem Amri-Untersuchungsausschuss anvertraute, als extrem bedrohlich in Erinnerung. Die Zahl der islamistischen Gefährder in Deutschland sei stetig angewachsen, ebenso wie die der Hinweise auf konkrete Attentatsplanungen, und erstmals seien deutsche Ziele direkt ins Fadenkreuz der Terroristen geraten.

Fritsche erinnerte an den Anschlag auf deutsche Touristen in Istanbul im Januar, die Messerattacke auf einen Bundespolizisten in Hannover einen Monat später, die Angriffe auf Touristen aus Hongkong in einer Regionalbahn bei Würzburg und auf ein Musikfestival in Ansbach im Juli. Insgesamt habe 2016 "eine hochgefährliche Lage" geherrscht, "die alle Kräfte aller Sicherheitsbehörden in hohem Maße angespannt" habe.

Exponierte Situation Den Zuständigen sei bekannt gewesen, dass der "IS", der sogenannte Islamische Staat, dazu aufgerufen hatte, in Europa Anschläge auf "Feierlichkeiten zum Jahresende" zu begehen. "Rumiya", das Online-Magazin des IS, dessen Ausgabe vom 11. November 2016 die Anregung enthielt, mit schwer beladenen Fahrzeugen große Menschenansammlungen zu attackieren, hatte selbstverständlich auch im Bundesnachrichtendienst (BND) aufmerksame Leser gefunden.

Die Präsidenten des BND, des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) und des Bundeskriminalamts (BKA) traf Frische jeden Dienstag in der "Nachrichtendienstlichen Lage" im siebten Stockwerk des Kanzleramtes. Darüber hinaus hatte er eine vierteljährlich tagende Runde auf Ebene der Referatsleiter ins Leben gerufen, um über die brisantesten aktuellen Ermittlungen auf dem Laufenden zu bleiben. Regelmäßig, betonte der Zeuge, sei bei solchen Anlässen auch die besonders exponierte Situation der Weihnachtsmärkte zur Sprache gekommen.

"Das hat man besprochen, es war immer Thema", sagte Fritsche. Dass ein Weihnachtsmarkt "durchaus Ziel eines Anschlages" werden konnte, sei "immer ein latent vorhandenes Wissen" gewesen. "Weihnachtsmärkte sind für Sicherheitsbehörden eine Zeit, in der man sehr nervös ist", bekam der Ausschuss auch von einem damaligen Untergebenen Fritsches zu hören. Sven-Rüdiger Eiffler, heute Direktor beim BND, leitete von 2008 bis 2017 im Kanzleramt das Referat 604, zuständig für die Rechts- und Fachaufsicht über die Terrorismusabteilung des BND.

Dass sich ein Weihnachtsmarkt "immer für Anschläge eignet", war im "latenten" Wissensbestand Eifflers nicht minder präsent als in dem seines Chefs. Er wusste auch, was in der Novembernummer von "Rumiyah" zu lesen war. Es hätte freilich, sagte er dem Ausschuss, einer solchen Warnung gar nicht bedurft. Der Anschlag von Nizza, wo im Juli 2016 ein Islamist mit einem Lastwagen 86 Menschen in den Tod gerissen hatte, war in lebendiger Erinnerung: "Es war ja nicht so, dass das eine Neuigkeit war."

Gab es besondere Schutzmaßnahmen für Weihnachtsmärkte? "Das kann ich nicht sagen, das war nicht die Zuständigkeit meines Referats." Die Frage, die so in der Sitzung freilich nicht gestellt wurde, lautet dennoch, warum nicht damals schon Weihnachtsmärkte mit Wällen aus Betonpollern umgeben wurden, wie es seit dem Breitscheidplatz-Attentat die Regel ist.

An Zuständigkeitsfragen lag es, dass ein Name in den Sicherheitsrunden im Kanzleramt nie genannt wurde, der des späteren Attentäters Amri. "Das Kanzleramt war von der operativen Bearbeitung Amris sehr weit weg", formulierte es Eiffler. Dass Amri "kein Thema" gewesen sei, bestätigte auch Fritsche. Im übrigen betonte der frühere Geheimdienstkoordinator, dass die Flüchtlingskrise von 2015 sich auf die prekäre Sicherheitslage nicht zusätzlich negativ ausgewirkt habe. Gewiss habe der IS die Gelegenheit genutzt, um Leute einzuschleusen. Der IS hätte aber auch andere Zugänge gefunden, so Fritsche.