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Coronakrise : Eine Bewährungsprobe

Bundestag beschließt drittes Bevölkerungsschutzpaket unter heftigem Protest

23.11.2020
2023-08-30T12:38:26.7200Z
5 Min

Der Reichstag von Absperrgittern umzäunt, Demonstrationen in Parlamentsnähe verboten, Mannschaftswagen und Wasserwerfer der Polizei in Bereitschaft: Nein, das war kein gewöhnlicher Mittwoch in einer Plenarwoche. Mit dem dritten Bevölkerungsschutzgesetz (19/23944) sollte eigentlich die Rolle des Bundestages in der Coronakrise bei notwendigen Eingriffen in Grundrechte demonstrativ gestärkt und so mehr Akzeptanz in der Bevölkerung erreicht werden. Gleichwohl führte eben dieses Paket im und außerhalb des Parlaments zu heftiger Gegenwehr. Parlamentarier erhielten vor der Abstimmung Tausende Spam-Protestmails, dabei blieb es nicht. Gäste der AfD-Fraktion sorgten im Bundestag für Aufruhr, weil sie Abgeordnete, Minister und Mitarbeiter zur Rede stellten, filmten und offenbar auch beschimpften, ein beispielloser Vorgang. Der Ältestenrat beriet über Konsequenzen, das Plenum befasste sich am Freitag in einer Aktuellen Stunde mit dem Fall (siehe Seite 4). Keine Frage: Nach dem Teil-Lockdown Anfang November ist die Stimmung aufgeheizt, zumal weitere Beschränkungen möglich scheinen, wenn Bund und Länder in dieser Woche erneut über die kritische Infektionslage beraten.

Eilverfahren Auch die Beschlussfassung des Gesetzespakets war alles andere als gewöhnlich. Die Gesundheitspolitiker mussten sich am Wochenende vor der abschließenden Ausschusssitzung durch einen ganzen Stapel an Änderungsanträgen der Koalitionsfraktionen mit komplexen rechtlichen Regelungen arbeiten, was die Opposition unzumutbar fand (siehe Interview Seite 2). Vor den lautstarken Demonstranten abgeschirmt, beschlossen die Abgeordneten sodann den geänderten Entwurf (19/24334) in namentlicher Abstimmung mit 415 Ja-Stimmen, bei 236 Gegenstimmen und acht Enthaltungen.

Noch am selben Tag billigte der Bundesrat die Vorlage in einer Sondersitzung. Der Bundespräsident setzte noch am selben Abend seine Unterschrift unter das Gesetz, das somit sofort in Kraft treten konnte. Die Eile, hieß es, sei geboten, weil Gerichte die Einschränkungen sonst aufheben könnten, zudem bräuchten die Kliniken rasch finanzielle Sicherheit. Zugleich billigten die Abgeordneten mehrheitlich einen Antrag der Regierungsfraktionen, die Feststellung der pandemischen Lage von nationaler Tragweite, die im März vom Bundestag beschlossen worden war, fortzuführen.

Rechtliche Vorgaben Das von vielen Seiten attackierte dritte Bevölkerungsschutzgesetz beinhaltet eine Präzisierung hinsichtlich der Eingriffe in grundrechtliche Freiheiten. In einem neuen Paragrafen 28a des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) werden mögliche Schutzvorkehrungen zur Bekämpfung einer Epidemie konkret aufgeführt. Zudem werden Grenzwerte genannt, die zu Einschränkungen führen können. Die von den Ländern zu erlassenen Beschränkungen sind auf vier Wochen begrenzt, können verlängert werden und sind jeweils zu begründen.

Die Einschränkung von Demonstrationen oder etwa Gottesdiensten wird an besondere Auflagen geknüpft. Die Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite orientiert sich an den Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Festgeschrieben wird auch eine Berichtspflicht der Bundesregierung an den Bundestag. Das Paket sieht zudem Ausgleichszahlungen für Krankenhäuser und eine verlängerte Entschädigungsregelung für berufstätige Eltern vor, Regelungen für kommende Impfprogramme (siehe Seite 3) und eine Stärkung der Testkapazitäten sowie neue Beobachtungsinstrumente für das Robert-Koch-Institut (RKI), um weitre Erkenntnisse über den Verlauf der Pandemie zu gewinnen.

In einer Geschäftsordnungsdebatte lehnte das Plenum einen Antrag der AfD-Fraktion ab, die Schlussberatung über das Bevölkerungsschutzpaket von der Tagesordnung abzusetzen. Die anderen Fraktionen votierten geschlossen dagegen. Mehrere Redner wandten sich energisch gegen die Darstellung der AfD, wonach das aktuelle Gesetzespaket dem sogenannten Ermächtigungsgesetz von 1933 gleichkomme. Sie wiesen darauf hin, dass ein Vergleich mit der Nazi-Diktatur völlig abwegig sei und die Gesetzesvorlage in keiner Weise die Parlamente entmachte.

Kritische Phase Karin Maag (CDU) verteidigte die Vorlage und forderte die Bürger auf, sich selbst eine Meinung zu bilden. Sie betonte: "Wir befinden uns weiter in einer kritischen Phase der Pandemie." In Anspielung auf die Impfgegner stellte sie klar: "Wir sehen einen Anspruch auf Impfungen vor und keine Impfpflicht." Maag räumte mit Blick auf die Präzisierungen im IfSG ein: "Ich habe noch nie erlebt, dass ein Gesetz so missverstanden wurde." Sie fügte hinzu: "Wir weiten den Spielraum der Bundesregierung nicht aus, wir engen ihn ein." Alle Einschränkungen blieben gerichtlich in vollem Umfang überprüfbar.

Auch Bärbel Bas (SPD) hob die Verbesserungen hervor. Bisher habe es im IfSG eine Generalklausel gegeben, die werde präzisiert. Sie mahnte: "Wir müssen im Moment unsere Kontakte reduzieren." Bas verwies auf Labore, die am Limit seien und Kliniken, die finanziell gestärkt werden müssten. Es gebe aber auch gute Nachrichten, sagte die SPD-Politikerin und erwähnte die jüngst entwickelten Impfstoffe. Auch bei den Arzneimitteln gegen Covid-19 seien Fortschritte zu verzeichnen.

Manuela Rottmann (Grüne) sagte, es gehe jetzt darum, die Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens zu sichern. "Wir legen heute die Grundlage dafür, dass gut begründete, evidenzbasierte Maßnahmen auch einer gerichtlichen Kontrolle standhalten." Rottmann ergänzte, es müsse jedoch unbedingt ein Minimum an sozialen Kontakten gewahrt bleiben. Sie räumte ein, dass die Grünen sich mehr soziale Regelungen vorgestellt hätten. Auch wäre ein Pandemierat sinnvoll. Insofern sei das Gesetz nur ein Anfang, "vielleicht auch nur ein Provisorium".

Vertrauensverlust Heftige Gegenwehr kam von der AfD-Fraktion, die Plakate mit Hinweisen auf das Grundgesetz hochhielt und dafür von Parlamentspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) ermahnt wurde. Nach Ansicht von Fraktionschef Alexander Gauland haben die gesetzlichen Regelungen zu einem Vertrauensverlust in der Bevölkerung geführt. Das Misstrauen werde wachsen, sagte Gauland voraus. Viele Bürger hätten existenzielle Nöte und fürchteten um ihre Freiheit. Gauland sagte: "Wir werden noch viele Monate mit dem Virus leben müssen." Die Bevölkerung verhalte sich kooperativ und einsichtig. "Dass man sie zusperrt ist unerträglich, und das läuft auf Diktatur hinaus." Solche Schlussfolgerungen wollte FDP-Fraktionschef Christian Lindner nicht ziehen, wenngleich er rügte, das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik werde "unnötig auf die Probe gestellt". Linder betonte: "Wir können und müssen die Entscheidungen der Regierungen lenken und ihnen klare Leitplanken geben, wenn in Grundrechte eingegriffen wird." Das neue Gesetz gebe der Regierung keine Leitplanken vor, sondern stelle einen Freifahrtschein aus.

Prioritäten Jan Korte (Linke) kritisierte, die Bundesregierung habe "den Sommer verpennt", statt die Lage zu analysieren. Das jetzt gewählte Eilverfahren der Gesetzgebung sei zwar zulässig, aber politisch unklug. Die Mehrheit der Menschen zeige ein solidarisches Verhalten. Daher trage es fast schon "monarchische Züge", wenn nach den Bund-Länder-Gesprächen die Neuerungen verkündet würden. Damit werde Akzeptanz verspielt.

Jeder Eingriff in Grund- und Freiheitsrechte, die so bitter erkämpft seien, bedürfe vorher einer Debatte im Bundestag. Korte mahnte: "Die schreckliche Coronakrise darf nicht zu einer schleichenden Demokratiekrise werden."

Nach Ansicht von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ist die Corona-Pandemie ein "Jahrhundertereignis, eine Naturkatastrophe, eine Zumutung und eine Bewährungsprobe". Es gehe in dieser Lage darum, die richtigen Prioritäten zu setzen. Die Wissenschaft könne die Politik beraten, aber kein Virologe könne der Politik die Entscheidungen abnehmen.

Spahn sagte: "Wir wollen keine Überforderung des Gesundheitssystems akzeptieren." Steigende Infektionszahlen führten zu Leid und Kontrollverlust. Zwar sei das exponentielle Wachstum der Infektionen zuletzt gestoppt worden, "aber wir sind noch nicht über den Berg". Angesichts der erfolgreich getesteten Impfstoffe sprach Spahn von Licht am Ende des Tunnels. Den Impfgegnern versicherte er: "Ich gebe Ihnen mein Wort. Es wird in dieser Pandemie keine Impfpflicht geben." Er warb für Zusammenhalt in der Krise und forderte: "Das Virus ist dynamisch, wir müssen es auch sein."