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BERLIN : Eine Kleinstadt in der Großstadt

In Deutschlands größter jüdischen Gemeinschaft findet sich heute wieder vielfältiges Glaubensleben

22.03.2021
2023-11-13T09:51:14.3600Z
6 Min

Wer von jüdischem Leben in Berlin erzählen will, beginnt damit am besten in der Oranienburger Straße. Dort, in Berlins Mitte, erhebt sich über der Neuen Synagoge eine goldene Kuppel. Das 1866 fertiggestellte Haus wurde zwar bei dem Novemberpogrom 1938 vor der Zerstörung gerettet, aber 1943 von Fliegerbomben schwer beschädigt und 1958 weitgehend gesprengt. Nur noch das Kuppelgebäude war im Original erhalten und die einstige Frauenempore; die an der Straße gelegene Bausubstanz blieb als Mahnmal gegen Krieg und Faschismus. 1988 begann ein teilweiser Wiederaufbau mit originalgetreu restaurierter Straßenfront.

Heute beherbergt das Gebäude das Centrum Judaicum, ein Zentrum für die Pflege und Bewahrung jüdischer Kultur. In dem Komplex ist außerdem die Verwaltung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin untergebracht. Das Haus kann in mehr als nur einer Hinsicht als Sinnbild dienen. Man kann noch heute sehen, wie groß die einstige Synagoge einmal gewesen ist. Die Grundmauern sind erhalten und hinter dem Haus im Pflaster hervorgehoben. Es lohnt sich, die Markierungen abzuschreiten. Wer dort umhergeht, kann erfassen, wie groß der Verlust ist. In welchen Dimensionen man denken muss, will man begreifen, was vor Krieg und Nationalsozialismus einmal gewesen ist.

Geht man durch die Stockwerke des Verwaltungsgebäudes und liest auf den Schildern an den Türen, wer hier für was verantwortlich ist, wird deutlich, dass Berlins jüdische Gemeinschaft, wenn auch viel kleiner als vor dem Krieg, heute durchaus wieder vielfältig ist. Die Einheitsgemeinde mit etwa 10.000 Mitgliedern ist eine Körperschaft öffentlichen Rechts, unter deren Dach verschiedene Bet-Gemeinschaften organisiert sind. Vier Friedhöfe gehören dazu, ein Seniorenzentrum, Kitas, Schulen, acht Synagogen. Es ist die Dimension einer kleinen Stadt mit rund 300 Mitarbeitern.

Alle religiösen Richtungen sind in Berlin vertreten, von egalitär über liberal bis orthodox. Es gibt einen jüdischen Schachclub und eine jüdische Volkshochschule. Unter dem Dach der Gemeinde existieren Gruppierungen, die miteinander nur russisch sprechen. Denn die Gemeinschaft ist auch ein Auffangbecken für Zuwanderer. Die meisten jüdischen Zuwanderer kamen in den 1990er und 2000er Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion nach Berlin. Und so sieht die Jüdische Gemeinde auch heute noch eine ihrer Hauptaufgaben darin, als soziales Netzwerk zu dienen. Es gibt Hilfe beim Erlernen der Sprache, Anleitungen für die Religionsausübung, Beratungen in Fragen des Aufenthaltsrechts, um sich in Berlin niederzulassen, oder wie etwa Sozialhilfe beantragt wird.

Mit der Zuwanderung haben sich in der Stadt vermehrt orthodoxe Strömungen ausgebildet. Jüdinnen, die eine Perücke über ihren Haaren tragen, gab es vor einigen Jahrzehnten kaum in Berlin. Das hat sich geändert. Mittlerweile sind mit Chabad Lubawitsch in Wilmersdorf und der Lauder Foundation in Mitte zwei sehr lebendige orthodoxe Gemeinden entstanden, in denen viele junge Menschen ein sehr traditionelles Judentum für sich entdeckt haben. Und gleichzeitig sind aus den USA auch sehr moderne Phänomene nach Berlin gekommen.

Ebenfalls in der Oranienburger Straße ist eine egalitäre Synagogengemeinschaft beheimatet. Sie wird von der Rabbinerin Gesa Ederberg betreut - eine von sehr wenigen Rabbinerinnen in Deutschland. Die Masorti-Gemeinschaft folgt einem traditionellen Ritus. Männer und Frauen haben trotzdem gleiche Rechte; auch Frauen leiten Gebete an. Frauen werden von wenigen Ausnahmen abgesehen erst seit den 1970er Jahren ordiniert. Inzwischen sind auch schwule und lesbische Rabbiner akzeptiert. In der Oranienburger Straße sitzen im Gottesdienst beide Geschlechter gemischt.

Berlin zieht seit Jahren viele junge Israelis an. Man trifft sie inzwischen auf fast jedem jüdischen Fest; es gibt eigene Netzwerke, Treffpunkte, Cafés, Restaurants. Etwa 10.000 Israelis leben in Berlin, schätzt die israelische Botschaft. Staatsbürger Israels reisen allerdings visafrei ein; wenn ihre Großeltern Deutsche waren, können sie auch die deutsche Staatsbürgerschaft führen, ohne die alte aufgeben zu müssen. Es könnten also auch viel mehr oder weniger sein; man weiß es nicht. Messbar ist indes, dass sich diese jüngste Zuwanderungswelle jüdischer Menschen in der Stadt kulturell bemerkbar macht, etwa mit dem israelisch-deutschen Kulturfestival.

Das ist ein durchaus erstaunliches Phänomen, denn die Berliner Geschichte ist auch eine der Judenvertreibung. 1295 werden Juden in Berlin zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Die erste brandenburgische Judenvertreibung ist 1446 nachweisbar, es folgen weitere. Und trotzdem entsteht 1671 die Jüdische Gemeinde Berlins. Der größte Bruch kommt mit den Nationalsozialisten. Bei ihrem Machtantritt 1933 leben in Berlin rund 160.000 Juden. Während der NS-Zeit werden 55.000 ermordet, 7.000 sterben durch Selbsttötung, 90.000 gelingt die Flucht. Nur 8.000 Berliner Juden erleben die Befreiung. Nach dem Krieg geht der Wiederaufbau nur langsam voran. Erst der große Zustrom aus Osteuropa ab dem Ende der 1980er Jahre ändert das.

In den vergangenen 20 Jahren hat die Gemeinschaft einen Sprung gemacht. Gerade errichtet Chabad Lubawitsch in Wilmersdorf ein Bildungszentrum mit Begegnungsstätte, Krippe, Kindergarten, Schule, Jugendclub, Sport- und Freizeitzentrum. Die Gemeinde rund um den Rabbiner Yehuda Teichtal gehört einer weltweit vertretenen, sehr traditionell lebenden Gruppierung an. Sie hat sich in den zurückliegenden beiden Jahrzehnten fest in der Stadt etabliert.

Junge Familien Auch in der jüdischen Gemeinschaft an der Brunnenstraße in Mitte trifft man auf eine eher orthodoxe Welt. Selbst einige Kinder tragen große runde Hüte, schwarzen Anzug und Weste, mit langen weißen Fäden unter der Kleidung. Sie sehen aus wie orthodoxe jüdische Männer am Festtag, sind aber Kindergartenkinder im Lauder-Nitzan-Kindergarten. Auch die Erzieherinnen tragen dort Kopfbedeckungen. Kindergarten, Schule, Talmud-Thoraschule und Rabbinerseminar, finanziert von dem US-Milliardär Ronald S. Lauder, waren der Anfang. Mittlerweile haben sich drumherum zahlreiche tief religiöse junge Familien angesiedelt. Die Gemeinde nennt sich Kahal Adass Jisroel.

Ganz anders geht es in der Synagoge am Fraenkelufer in Kreuzberg zu. Aber auch dies ist ein Ort, an dem sich zeigt, wie sich jüdisches Leben in Berlin verändert. Während die Mitgliederzahlen der jüdischen Gemeinden in Deutschland sinken und die Gemeinschaften einen immer höheren Altersdurchschnitt haben, etablieren sich daneben wachsende junge Gesellschaften, die bewusst jüdisch leben, mit der alten Struktur aber nur noch lose verbunden sind. Jüdisches Leben ist an dieser Stelle jung, unter 40 Jahre alt, vielfältig von orthodox bis liberal, hetero- wie homosexuell, und mit großem Enthusiasmus. Auffällig viele Beter sind junge Familien mit kleinen Kindern, und ebenso auffällig ist, dass viele davon aus Israel und den USA stammen.

Vor dem Krieg stand am Fraenkelufer ein prächtiger Synagogenbau. Aber nach den Beschädigungen durch Novemberpogrom und Zweiten Weltkrieg wurde er Ende der 1950er Jahre abgerissen. Überdauert hat nur die kleinere Jugendsynagoge. Heute ist sie eine von acht Synagogen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Die Mitglieder verfolgen einen ambitionierten Plan: den Wiederaufbau der 1938 bei dem Pogrom zerstörten Hauptsynagoge. Das Gotteshaus soll ein richtiges Gemeindezentrum erhalten mit einem Kindergarten und viel Platz zum Zusammentreffen.

In Deutschland, dem Land, von dem die Shoah ausging, besteht oft der Eindruck, jüdisches Leben sei, wenn es wieder entsteht, zwangsläufig orthodox. Die auffälligere Kleidung hebt diese Gruppen hervor. Rituelle Handlungen erfahren große mediale Verbreitung wie etwa das Entzünden der Lichter zum Chanukkafest an einem großen Leuchter am Brandenburger Tor. Und doch hat sich auch ein reformatorisches liberales Judentum mit gleichen Rechten für Männer und Frauen etabliert.

Man sieht es am Abraham Geiger Kolleg in Charlottenburg, dem ersten liberalen Rabbinerseminar, das nach der Shoah in Kontinentaleuropa gegründet wurde. Es beruft sich auf den Rabbiner Abraham Geiger, der in Berlin 1872 eine Hochschule für die Wissenschaft des Judentums mitgründete. Auffälligster Unterschied zu anderen Ausbildungsstätten für Rabbiner ist, dass dort Frauen jüdische Geistliche werden können. Das ist in Deutschland noch immer eine Seltenheit. Dabei ist das liberale Judentum ursprünglich eine deutsche Entwicklung. Die Berlinerin Regina Jonas (1902 bis 1944) war die erste Frau weltweit, die zur Rabbinerin ordiniert wurde, und predigte in den 1930er und 1940er Jahren in Berliner Synagogen. Die weitere Einwicklung wurde dann durch den Nationalsozialismus, durch Unterdrückung und Auslöschung abgeschnitten, Regina Jonas in Auschwitz ermordet.

Eine Notwendigkeit Während liberale Gemeinschaften heute weltweit das Judentum prägen, ist im Mutterland dieser Bewegung die Situation umgekehrt. Ein Großteil der hiesigen Juden ist mit liberalem Judentum noch gar nicht in Verbindung gekommen. Hier setzt sich die jüdische Gemeinschaft vor allem aus Menschen zusammen, die ihre Wurzeln in Osteuropa haben und damit in der Orthodoxie. Liberale Ideen kamen lange von außen.

Fragt man den Rabbiner Walter Homolka, Rektor und Gründer der Einrichtung, aus welchem Impuls er vor 20 Jahren das Abraham Geiger Kolleg schuf und wo es heute steht, gewinnt man den Eindruck, dass es eine Notwendigkeit für eine solche Ausbildungsstätte gab. Ob es Ehen von Juden und Nicht-Juden sind, die Gleichstellung der Frau oder die Anerkennung von Homosexualität: Das Mutterland der Reformbewegung im jüdischen Glauben hat durch die Shoah den Anschluss verloren. Ganz langsam ändert sich das jetzt. Mehr als 70 Jahre nach Kriegsende. Julia Haak

Die Autorin ist Redakteurin der "Berliner Zeitung".