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glaube : Gut wie nie

Das historisch belastete Verhältnis von Christen und Juden hat sich in Deutschland stark verbessert

22.03.2021
2023-11-13T09:51:14.3600Z
6 Min

So gut wie wohl noch nie in der Geschichte" - zu dieser Einschätzung über das christlich-jüdische Verhältnis kam der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, Ende Januar. Auf dem Neujahrsempfang der Evangelischen Akademie Tutzing sagte er: "Die deutsch-jüdische Geschichte ist [...] auch, wenn nicht sogar vorrangig, eine christlich-jüdische Geschichte." Die Auseinandersetzung mit dem christlich-jüdischen Verhältnis ist also elementar - und zugleich vielschichtig, ambivalent und keinesfalls ohne Konflikte.

Für Schusters Feststellung lassen sich viele Belege anführen - auf institutioneller und theologischer Ebene bis hin zu den einzelnen Gemeinden. Zunächst ein Blick auf die institutionelle Zusammenarbeit: Im Corona-Sommer 2020 reiste eine Delegation des Zentralrats der Juden, des Zentralrats der Sinti und Roma und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) nach Oswiecim (Auschwitz/Polen). Dieser Besuch war bedeutsam. Es war nicht nur das erste Mal, dass ein EKD-Ratsvorsitzender während seiner Amtszeit nach Auschwitz reiste, es war auch das erste Mal, dass eine Delegation von Juden, Christen, Sinti und Roma dort gemeinsam der Opfer des Nationalsozialismus gedachte. Für den EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm war es sogar persönlich der erste Besuch im ehemaligen Nazi-Vernichtungslager.

Gemeinsames Gedenken Es sind diese Bilder der Reise, die bleiben: Schuster und Bedford-Strohm gehen Seite an Seite durch das Tor zum Lager Auschwitz-Birkenau, das "Tor zum Ende der Welt", in dem Juden und Sinti und Roma bis zu ihrem Tod interniert wurden. Sie stehen am "Ascheteich", wo sich ein Großteil der Asche der verbrannten Körper aus den Krematorien befindet - der größte Friedhof der Welt. Tags zuvor ist Bedford-Strohm an der Seite Romani Roses, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Sinti und Roma, durch die erste Gaskammer im Stammlager Auschwitz gegangen.

Das gute Verhältnis zwischen Juden und Christen beschränkt sich nicht auf die Beziehungen zwischen Zentralrat, EKD und der katholischen Deutschen Bischofskonferenz (DBK). Es finden jährlich Treffen dieser Akteure mit der Allgemeinen Rabbinerkonferenz und der Orthodoxen Rabbinerkonferenz statt. Die Verbindungen erstrecken sich bis in die Zivilgesellschaft: Die "Woche der Brüderlichkeit", organisiert vom Deutschen Koordinierungsrat der mehr als 80 regionalen Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, findet seit 1952 jedes Jahr im März statt. Schirmherr des Koordinierungsrats ist Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Seit 1968 verleiht der Koordinierungsrat die Buber-Rosenzweig-Medaille, die an die jüdischen Philosophen Martin Buber und Franz Rosenzweig erinnert. Ausgezeichnet werden Personen, Institutionen oder Initiativen, die sich um die Verständigung zwischen Christen und Juden bemühen. Zu den Preisträgern gehörten der Sänger Peter Maffay, der Gesprächskreis "Juden und Christen" des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken (ZdK), der Schriftsteller Navid Kermani und der Architekt Daniel Libeskind.

Theologische Grundlage Dafür, dass sich das Verhältnis auf institutioneller Ebene für beide Seiten gleichermaßen vertrauensvoll entwickelt, ist eine theologische Grundlegung nötig. Denn der christliche Antijudaismus prägt den säkularen Antisemitismus bis heute. "Auf dem Nährboden des religiösen Antijudaismus entstand im 19. Jahrhundert der rassistische Antisemitismus", sagte Josef Schuster in seinem Tutzinger Festvortrag. Dem deutschen Protestantismus kommt dabei eine bedeutende Rolle zu: Es sind nicht nur die antijüdischen Schriften Martin Luthers, die als dunkles Erbe der Reformation bis in die heutige Zeit bleiben. Sie griffen übelste Ressentiments gegen Juden aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit auf, Verschwörungserzählungen vom Gottesmord oder vom jüdischen Verrat. Deutsche Christen übernahmen im 20. Jahrhundert zusätzlich die nationalsozialistische Ideologie und Rassenlehre.

Bedford-Strohm erinnerte anlässlich des Holocaust-Gedenktages am 27. Januar daran, dass nur wenige Christen der Judenverfolgung entgegengetreten sind. Heute sehen sich die Protestanten in Deutschland von der Kirchenleitung bis in die Gemeinden vor allem in der Tradition der Bekennenden Kirche, die in Opposition zur Nazi-Diktatur trat. Der Terror gegen Juden wurde dabei allerdings weitgehend ausgeklammert.

Mitschuld anerkannt "Antisemitismus ist Sünde" - das hat Bedford-Strohm wiederholt betont. Heute sind die katholische und evangelische Kirche in Deutschland ein wichtiges Sprachrohr im Kampf gegen Antisemitismus. So haben DBK, EKD und Zentralrat im vergangenen Jahr die Kampagne gegen Antisemitismus "#beziehungsweise: jüdisch und christlich - näher als du denkst" lanciert.

Glaubwürdig wird der Einsatz der Kirchen aber erst, weil nach 1945 theologische Positionen aufgegeben wurden und die Mitschuld am mörderischen Antisemitismus und der Shoah anerkannt worden ist. In der katholischen Kirche wurde die Abkehr von jeglichem Antijudaismus 1965 nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil mit der Schrift "Nostra Aetate" besiegelt.

In Vorbereitung des Reformationsjubiläums 2017 setzte sich die Synode, also das Kirchenparlament der EKD, mit Luthers Antijudaismus auseinander und kehrte sich 2016 endgültig von der Judenmission ab. Schon viel früher haben die meisten der 20 evangelischen Landeskirchen in ihrer Grundordnung anerkannt, dass Gottes Bund mit dem Volk Israel bis heute gilt.

Ergebnis dieser erneuten Reflexion in der evangelischen Kirche ist auch das Amt des Antisemitismus-Beauftragten. An der Berliner Humboldt-Universität gibt es zudem seit 2020 eine evangelische Stiftungsprofessur für Geschichte und Gegenwart des christlich-jüdischen Verhältnisses. Die Professur hat die israelische Religionswissenschaftlerin Karma Ben Johanan inne.

Die katholischen Bischöfe veröffentlichten im vergangenen Jahr ein Dokument über das Verhalten ihrer Amtsvorgänger im Zweiten Weltkrieg. Es ist ein doppeltes Schuldeingeständnis: Die Bischöfe hätten die Soldaten und Gläubigen zu Treue, Gehorsam und Pflichterfüllung aufgerufen, ein offener Protest gegen den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg sowie gegen die Judenverfolgung sei ausgeblieben. Außerdem habe die Bischofskonferenz die Soldaten mit ihren Glaubenskonflikten an der Front alleingelassen.

Heute herrscht in weiten Teilen des deutschen Protestantismus und Katholizismus das uneingeschränkte Bekenntnis vor: Jesus war Jude, und die ersten Christen waren Juden. Auch christliche Kirchengemeinden setzen sich mit dem jüdischen Erbe in ihrer Tradition auseinander. In evangelischen Kirchengemeinden findet etwa jedes Jahr im August ein Israel-Sonntag statt, an dem sich Gemeinden mit dem jüdischen Fundament ihres Glaubens befassen.

Aktuelle Konflikte Ist nun alles (wieder) gut? Dialog- und Versöhnungsarbeit haben sicher viel erreicht. Dennoch bleibt das christlich-jüdische Verhältnis nicht ohne Konflikte. Bis heute kann man (evangelische) Theologie studieren, ohne sich mit der Geschichte des christlich-jüdischen Verhältnisses zu beschäftigen. Der Antisemitismus-Beauftragte der EKD, Christian Staffa, fordert, dieser Aspekt müsse in der Ausbildung evangelischer Theologen verankert werden.

Konflikte gibt es auch im Umgang mit Darstellungen von sogenannten "Judensauen" an alten Kirchenbauten. Der Streit um die als Wittenberger "Judensau" bekannte Schmähplastik kommt jetzt sogar vor den Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Ein Mitglied einer jüdischen Gemeinde hatte auf Abnahme der Plastik aus dem 13. Jahrhundert geklagt. Der Mann fühlt sich durch die verhöhnende Darstellung diffamiert. Das Oberlandesgericht Naumburg und das Landgericht Dessau-Roßlau wiesen die Klage jedoch ab. Die Plastik zeigt eine Sau, an deren Zitzen sich Menschen laben, die Juden darstellen sollen.

Unter Verdacht Schließlich kommt es immer wieder zu Antisemitismus-Vorwürfen gegen kirchliche Akteure. Wer sich für Palästinenser oder palästinensische Christen einsetzt, kommt leicht in den Verdacht, gegen den Staat Israel zu sein. Unter deutschen Protestanten finden sich Unterstützer der Kairos-Palästina-Bewegung, die die Besetzung der Palästinensergebiete als Bruch des Völkerrechts und "Sünde" bezeichnet. Gegner kritisieren, dass es offenbar Verbindungen zur israelkritischen BDS-Bewegung (Boycott, Divestment, Sanction) gibt und Kairos-Palästina die Schuld im Nahostkonflikt einseitig bei Israel sieht.

Im Vatikan wird zurzeit die Rolle der katholischen Kirche während des Nationalsozialismus untersucht. Dokumentenfunde aus den vatikanischen Archiven zeigen, dass Papst Pius XII. wesentlich umfangreicher über den Holocaust Bescheid gewusst haben muss, als bislang bekannt.

Zentralratspräsident Schuster lobt dennoch die Haltung der Kirchen in der Aufarbeitung ihrer Geschichte, die dazu beitrage, dass das christlich-jüdische Verhältnis so gut ist, wie es nach seinen Worten wohl noch nie in der Geschichte war. Auf diesem Urteil können sich die Christen in Deutschland aber nicht ausruhen.

Die Autorin ist Redakteurin des Evangelischen Pressedienstes (epd) in Frankfurt am Main.