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NATO-EINSATZ : Mission mit fatalen Schwächen

Trotz eines gewaltigen Aufwands scheiterte der Westen an Fehlentscheidungen und Korruption

13.09.2021
2023-08-30T12:39:41.7200Z
4 Min

Der Verbindungsbeamte des Bundeskriminalamts im "Provincial Reconstruction Team" (PRT), das die Bundeswehr erst ein paar Monaten zuvor von den USA in der Stadt Kundus übernommen hatte, stapfte wutschnaubend durch das Lager. "Die richten Kontrollen absichtlich dort ein, wo keine Drogen transportiert werden", schimpfte der Mann 2004 über seine Landsleute von der Bundeswehr, "wie soll das hier in Afghanistan je etwas werden, wenn die lieber wegschauen". Die PRT-Pressestelle des Lagers reagierte achselzuckend: "Wir besitzen kein Mandat für Drogenfahndung."

Die Schimäre des Friedenseinsatzes, wie Berlin die Mission der "International Security Assistance Force" (ISAF) noch betitelte, als Afghanistan längst im Krieg lebte, bedeutete in der Praxis auch bei vielen der 30 Nato-Staaten, die Truppen an den Hindukusch entsendeten: Möglichst nicht anecken. "Wir besitzen Waffen, mit denen wir die Taliban einfach niedermähen könnten", sagte Jahre nach dem Beginn von ISAF ein deutscher Militärexperte, "aber wir wollen sie bewusst nicht nutzen".

Neben dieser Haltung gewann im Laufe der Jahre ein Dilemma an Gewicht, das der Reserveoffizier Olaf Kellerhoff so beschreibt: "Die Bevölkerung steht nicht hinter den Auslandseinsätzen. Abgeordnete üben Druck aus, da sie tote und verletzte Soldaten aus ihren Wahlkreisen fürchten. Dies führt bei militärischen Entscheidungsträgern mit Blick auf die eigene Karriere zu einem Vermeidungsverhalten in puncto Auftragserfüllung und entschlossenem Handeln." Kellerhoff diente 1993 beim ersten Bundeswehrauslandseinsatz in Somalia, war von 1999 bis 2001 dreimal im Kosovo stationiert, zwischen 2002 und 2006 dreimal in Afghanistan und 2008 im Libanon. Die Bilanz des Veterans: "Die Ziele einer Mission werden zur Nebensache."

Besiegt Das Ergebnis ist alles andere als eine Nebensache: Nach zwei Jahrzehnten am Hindukusch besiegte erstmals eine radikalislamische Miliz das mächtige Militärbündnis Nato - ausgerechnet jene Truppe, die im November 2001 aus Kabul verscheucht worden war.

Die Nato trat nach den Terroranschlägen in den USA vom 11. September 2001 am Hindukusch an, um auf den Al-Qaida-Terror zu antworten und die Weltsicht des Westens als politisches Zukunftsideal zu präsentieren. Als ISAF 2003 seine Mission von Kabul auf ganz Afghanistan ausdehnte, gab es längst Meinungsverschiedenheiten. Kanada, bis dahin größter Truppensteller, wollte nicht außerhalb der Hauptstadt agieren und zog ab. Der damalige US-Präsident George W. Bush interessierte sich mehr für den Irak.

Ohne Taliban Der UN-Sonderbeauftragte Lakhdar Brahimi lud im Dezember 2001 prominente Vertreter Afghanistans auf den Petersberg bei Bonn ein. Möglichst viele wichtige Vertreter sollten unter dem Dach des neuen Afghanistans versammelt werden. Die Taliban, die im November 2001 aus Kabul in den Bergen der Grenzregion zu Pakistan versickert waren, standen nicht auf der Gästeliste. Schließlich hatten sie Al-Qaida Unterschlupf gewährt und nach den Attentaten vom 11. September Osama bin Ladens Auslieferung verweigert.

Die Ausgrenzung rächte sich. Pakistan schloss sich nach 9/11 zwar offiziell dem US-geführten Krieg gegen den Terror an. Gleichzeitig päppelte Islamabad, das vor 2001 den Siegeszug der Taliban massiv unterstützt hatte, die radikalislamischen Milizen wieder auf. Denn ohne Taliban war Pakistan ohne verlässlichen Partner am Hindukusch.

Kaum minder verheerend für Afghanistans Zukunft war die Bildung der neuen Übergangsregierung. Hamid Karzai, der bei der Bonn-Konferenz als Übergangspräsident eingesetzt wurde, musste sich mit den Kriegsfürsten des Landes und deren Familiensippen arrangieren. Als gemäß der Petersberg-Vereinbarung Anfang 2004 eine Loya Jirga, eine Ratsversammlung von Stammesvertretern, eine neue Verfassung verabschieden sollte, bastelte Karzai gemeinsam mit Bushs Sonderbotschafter Zalmay Khalilzad ein Parlament ohne politische Parteien. Khalilzad sollte zwei Jahrzehnte später als Sonderbeauftragter von US-Präsident Donald Trump bei Gesprächen mit den Taliban dem Untergang des eigenen Projekts den Boden bereiten. Eine Folge des Karzai-Khalilzad-Deals: Von 2001 bis 2019, so ein Bericht an den US-Kongress, versickerten 19 Milliarden US-Dollar - knapp die Summe, die Deutschland in zwei Jahrzehnten am Hindukusch ausgab.

Afghanistans Elite berauschte sich am westlichen Geldsegen, die Taliban verstärkten ab 2006 ihre Aktionen und ISAF antwortete mit mehr Truppen. Zwischen 2010 und 2012 waren rund 130.000 ausländische Soldaten auf etwa 400 Militärstützpunkten der insgesamt 700 Lager in ganz Afghanistan verteilt, berichtete die Zeitschrift "Foreign Policy in Focus". Afghanistans Sicherheitskräfte lagen in den Jahren 2010 bis 2012 bei etwa 135.000 bis 140.000, die Taliban bei etwa 35.000.

Entsender Alle 30 Nato-Staaten entsandten Truppen an den Hindukusch. Soldaten der Mitgliedstaaten des Euro-Atlantic-Partnership Council (EAPC) wie die Ukraine oder Österreich schickten manchmal einen und manche 100 Soldaten. Australische und neuseeländische Soldaten mischten mit bei der "Operation Enduring Freedom" (OEF), die parallel zu ISAF den Terror bekämpfte. Selbst Soldaten aus Thailand, Singapur, Tonga und den Vereinigten Arabischen Emiraten sammelten Erfahrungen am Hindukusch.

Opfer Sie erlebten einen Krieg, der neben einer hohen Zahl ausländischer Soldaten - darunter allein fast 2.500 US-Amerikaner - zunehmend Opfer unter afghanischen Sicherheitskräften und Zivilisten forderte. Seit die Vereinten Nationen im Jahr 2009 begannen, die zivilen Opfer zu zählen, kamen 111.000 Afghanen ums Leben oder wurden verletzt.

Ende 2012 zeichnete sich ab, dass Afghanistan auf dem besten Weg war, seinem Ruf als "Friedhof der Imperien" erneut alle Ehre zu erwiesen. Insiderattacken, bei denen westliche Ausbilder afghanischer Sicherheitskräfte getötet wurden, schürten Misstrauen zwischen den einheimischen Kräften und ihren westlichen Partnern. Ein australischer Nachrichtendienstler beschrieb vor drei Jahren die afghanische Realität so: "Wir sind isoliert. Wir sind fast nur auf gekaufte Informationen angewiesen. Ob sie zuverlässig sind, weiß keiner."

Mit dem Abzug westlicher Kampftruppen vom Hindukusch, dem Ende der ISAF-Mission im Dezember 2014 und dem Beginn der Mission "Resolute Support" mit 13.000 Soldaten erlebte Afghanistan einen deutlichen wirtschaftlichen Einbruch. Die Afghanen erkannten die Zeichen der Zeit und flohen 2015 zu Hunderttausenden Richtung Europa. Vor die Wahl gestellt, bevorzugten die afghanischen Sicherheitskräfte dann im August 2021 einen Frieden unter der Knute der Taliban statt einer Fortsetzung des Krieges - sozusagen ein Ende mit Schrecken statt ein Schrecken ohne Ende.

Der Autor hat als Südostasien-Korrespondent mit Sitz in Bangkok Afghanistan seit 1997 jährlich mehrfach besucht.