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ortskräfte : Nackte Angst

Viele ehemalige Helfer deutscher Behörden und Firmen müssen sich in Afghanistan vor den Taliban verstecken

13.09.2021
2023-08-30T12:39:41.7200Z
5 Min

Der junge Mann, der aus der Notunterkunft für Flüchtlinge in Radolfzell am Bodensee schlendert, hat es geschafft. Der ehemalige Bundeswehr-Dolmetscher ist einer der wenigen Ortskräfte, die die Bundesregierung, zusammen mit Ehefrau und zwei Kindern, bereits im Juli aus Afghanistan herausgeholt hat.

Der Mann hat von 2011 bis 2012 für die Berater der Bundeswehr gedolmetscht. Ab 2017 arbeitete er erneut in Kabul für die Bundeswehr. Er sei vor allem als Dolmetscher beim Schießtraining eingesetzt worden, erzählt er, sowie bei Gesprächen mit Dorfältesten. Nachdem der Abzug der Bundeswehr beschlossen war, ging in seinem Fall alles glatt: "Ich musste meinen Pass, meine Heiratsurkunde und meinen Personalausweis vorlegen, dann bekam ich das Visum." Zusammen mit der Aufenthaltserlaubnis erhielt er auch eine Arbeitserlaubnis. Ihm ist somit auch gestattet, innerhalb des Kreises Konstanz eine eigene Wohnung zu suchen.

Dramatische Flucht Wie die chaotischen Szenen vom Flughafen in Kabul andeuten, hatten nicht alle afghanischen Helfer so viel Glück. Manche, berichtet der 31-jährige, hätten keine Pässe gehabt, bisweilen nicht einmal Personalausweise. Sie wurden ebenso abgelehnt wie jene Dolmetscher-Kollegen, die für Subunternehmen arbeiteten, statt direkt für die Bundeswehr.

Inzwischen steht das Schicksal der Ortskräfte im Zentrum der Afghanistan-Debatte, und die Kritik an der Bundesregierung reißt nicht ab. Denn in Berlin war man offensichtlich noch Anfang August der Meinung, über ausreichend Zeit zu verfügen. Mit der Eroberung Kabuls durch die Taliban Mitte August wurde jedoch plötzlich klar, dass kaum jemand auf eine solche Katastrophe vorbereitet und imstande war, schnell jenen zu helfen, die zwei Jahrzehnte lang dem Westen in Afghanistan geholfen hatten. Empörung brandete auf, der Druck auf die Bundesregierung stieg. Es hagelte Vorwürfe, doch die Mehrheit der Ortskräfte wartet bis heute verzweifelt auf Hilfe.

Unklarer Begriff Während sich die westlichen Partner in den beiden Wochen, als der Flughafen in Kabul noch genutzt werden konnte, um schnelle Hilfe bemühten, entstand der Eindruck, dass sich die deutsche Regierung selbst im Wege stand. Offiziell heißt es, die Bundesregierung werde den Ortskräften und anderen gefährdeten Menschen helfen. Tatsächlich aber haben zahllose Ortskräfte bis heute keinerlei Hinweise erhalten, wie das geschehen soll.

Längst ist klar, dass das Problem auch aus einer unklaren Lesart des Begriffes Ortskräfte herrührt. In der Bundesregierung gab es zunächst die Auffassung, dass Ortskräfte diejenigen seien, die offiziell der Bundeswehr oder staatlichen deutschen Organisationen dienten. Nur sie seien potenziell bedroht und damit berechtigt, in Deutschland Schutz zu finden. Es sollten zudem nur diejenigen berücksichtigt werden, die nach 2019 für ihre deutschen Arbeitgeber tätig waren. Erst nach dramatischen Entwicklungen am Hindukusch wurde der zu berücksichtigende Zeitrahmen von 2013 bis heute erweitert.

Dabei sind diese amtlichen deutschen Kriterien jenen herzlich egal, die nun das Land am Hindukusch erneut mit Terror und Angst beherrschen. Im Weltbild der Taliban sind Landsleute, die mit dem Westen kooperiert haben, Verräter. Sie unterscheiden nicht, ob jemand mit oder ohne Arbeitsvertrag, bei einer Hilfsorganisation, der Bundeswehr oder einem Subunternehmen sein Brot verdiente. In den Augen der Taliban sind selbst jene Afghanen Kollaborateure, die Fremden, seien sie Uniformträger, Zivilisten oder Journalisten, Essen lieferten, für sie recherchierten, dolmetschten oder Auto fuhren.

Zum Beispiel Menschen wie Nilofar (Name geändert). Als junge Uniabsolventin arbeitete sie 2017 ein Jahr für eine deutsche Organisation, die mit Geldern des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Kabul im Bereich Demokratieförderung tätig war. Kurz vor 2019 entschied sich die Organisation, das Büro angesichts der sich verschlechternden Lage in Afghanistan zu verkleinern und entließ Nilofar. Sie arbeitete anschließend für afghanische Medien und engagierte sich in der Frauenbewegung. Auf die Evakuierungsliste jener deutschen Organisation kam und kommt sie daher nicht.

Seitdem die Taliban Kabul besetzt haben, versteckt sich Nilofar und schickt per WhatsApp flehentliche Bittgesuche an alle erdenklichen Kontakte und offiziellen Adressen. "Bitte helfen Sie mir, sie sind meine letzte Hoffnung" schreibt sie aus ihrem Versteck. Sie ist eine junge, unverheiratete Frau, ihre Familie lebt nicht in Kabul. Noch dazu ist sie eine Hazara, Angehörige einer schiitischen Minderheit, die von den sunnitisch-paschtunischen Taliban verfolgt wird. Ohne schnelle Hilfe muss die junge Frau mit Zwangsheirat und Misshandlung rechnen.

Helfer für Medien Gewalt und Strafen könnte es von den Taliban auch für Mustafa und Wakil (Namen geändert) geben. Beide arbeiteten für deutsche Medienvertreter, Mustafa für einen freien Journalisten, Wakil für das öffentlich-rechtliche deutsche Fernsehen. Bereits vor Jahren, während sie für die deutschen Journalisten arbeiteten, wurden sie und ihre Familien von den Taliban bedroht. Die Islamisten entführten schließlich Wakils Bruder und hielten ihn monatelang gefangen, bis er flüchten konnte.

Nach dem Fall Kabuls wandten sich beide verzweifelt an ihre einstigen Arbeitgeber, die Journalisten. Diese sammelten die benötigten Informationen ein, auf die das Auswärtige Amt in diesen Fällen besteht. Doch es reichte nicht, denn sie hatten ihre Unterlagen aus Angst vor den Taliban vernichtet. Es fehlte ein offizielles Dokument zum Nachweis, dass sie für deutsche Medien gearbeitet hatten.

Mustafa und Wakil warten bislang vergebens auf Hilfe und verstecken sich irgendwo in Kabuls Häusermeer vor den Taliban. Sie haben Angst, denn die Taliban sind gründlich. Von ihren einstigen Nachbarn hören sie, dass Taliban-Kämpfer alle paar Tage ihre alten Wohnungen durchsuchen und nach ihnen fragen.

Dass sie zwei unter Tausenden sind, tröstet sie nicht. Selbst der gut vernetzten Journalisten-Hilfsorganisation "Reporter ohne Grenzen" ist es bislang nicht gelungen, Medienschaffende, Stringer und Reporter wie sie auf eine Evakuierungsliste der Bundesregierung zu setzen. Dabei hätte kaum eine Organisation in Afghanistan ihre Arbeit ohne einheimische Fahrer, Wächter, Köchinnen, Büromanager und Fachkräfte sinnvoll erledigen können. Es ist daher bittere Ironie, dass die Bundesregierung wertvolle Wochen benötigte, um ihre enge Ortskräfte-Definition zu überdenken.

Bürokratische Kategorie Auch die zahlreichen afghanischen Mitarbeiter deutscher und internationaler Firmen, die im Auftrag der Bundesregierung, der EU oder der Entwicklungsbanken arbeiteten, sind in Lebensgefahr, schaffen es aber eher nicht in die bürokratische Kategorie Ortskräfte. So versucht der Leiter des Kabuler Büros einer Stuttgarter Firma, die im Auftrag der GIZ und der KfW-Bank im Energiebereich tätig war, seit Wochen vergeblich, seine acht ehemaligen Kabuler Ingenieure zu retten. Frustriert berichtet er, der selbst deutsch-afghanischer Ingenieur ist, dass er sich mehrfach an deutsche Behörden und Bundestagsabgeordnete gewandt habe. Niemand habe helfen können.

Debatte über Flüchtlinge Niemand kann derzeit sagen, ob sich das Fluchtfenster für die Helfer endgültig geschlossen hat. Die bevorstehende Bundestagswahl habe, mutmaßen Beobachter, dazu beigetragen, dass sich die deutschen Ministerien gegenseitig behinderten, als es noch Handlungsspielraum gab. Während die Helfer in Afghanistan noch auf ihre Rettung warten, wird in Deutschland die Flüchtlingsfrage diskutiert. Wahlkämpfer fordern, dass sich "2015 nicht wiederholen darf", als die Flüchtlingswelle aus Syrien kam. Dabei meinen aber viele Menschen, dass Deutschland es "geschafft" habe.

Auch führen manche Parteien, statt Evakuierungspläne zu diskutieren, eine erhitzte Debatte über einen möglichen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Afghanistan-Krise. Ehemaligen afghanischen Kollegen und Mitarbeitern wie Nilofar, Mustafa und Wakil ist, so viel steht fest, damit nicht geholfen.

Der Autor ist freier Journalist.