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Korrekturen, Wechsel und Wenden: Die deutsche Energiepolitik seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist voll davon.

Historie : Kohle, Kehrtwenden, Klimaschutz

Die Bundesrepublik hat ihre Energiepolitik häufiger neu ausgerichtet. Jetzt braucht es einen tiefgreifenden Umbau.

15.11.2021
2024-04-04T14:00:37.7200Z
10 Min

Ein "Klimaschutzministerium", wie es die Grünen für eine neue Bundesregierung wollen, soll mit Vetomacht ausgestattet sein und Klimaschutz zur obersten Richtschnur des Regierens machen. Ein eigenes Ministerium für Klimaschutz würde zeigen: Die Energiepolitik hat einen neuen Schwerpunkt.

Schon einmal gründete eine Bundesregierung ein Ministerium für ihren neuen energiepolitischen Kurs: Ein "Atomministerium", 1955, das Franz Josef Strauß (CSU) führte. SPD und Union waren gleichermaßen von der damals neuartigen Energiequelle begeistert. Grundlegender Unterschied: Damals versprach sich die Politik von der Atomkraft Wohlstand und Unabhängigkeit vom teuren Erdöl. Es ging in erster Linie um Wirtschaftswachstum. Heute um den Erhalt der Lebensgrundlagen.

Foto: picture-alliance/Klaus Rose

Spazierengehen und Rollschuhlaufen auf der Autobahn am Kamener Kreuz in Nordrhein-Westfalen im Dezember 1973. Vier autofreie Sonntage waren damals eine Antwort auf die Ölkrise der 1970er Jahre.

Die deutsche Energiepolitik seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist voller Korrekturen, Wechsel und Wenden. Oft reagierte die jeweilige Bundesregierung dabei auf Katastrophen, Entwicklungen im Ausland oder nach Dauer-Protesten der eigenen Bevölkerung. Energie sollte zunächst vor allem billig sein, um den wirtschaftlichen Aufschwung zu befeuern. Zu den zwei traditionellen Zielen der sicheren und der wirtschaftlichen Energieversorgung kam erst später das der Umweltverträglichkeit hinzu - und steht heute im Vordergrund.

Atom und Erdöl statt Kohle

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist Energiepolitik Kohlepolitik. Ziel der Alliierten und der späteren ersten Bundesregierung ist es, die Energieversorgung der Bevölkerung überhaupt irgendwie sicherzustellen. Die Leute hungern und frieren. Energieträger Nummer eins ist die Steinkohle, bei der es aber immer noch Engpässe gibt. Erst 1951 bringt ein französischer Plan Besserung: Die Montanunion, in der Frankreich und Deutschland mit vier weiteren Staaten ihre Stahl- und Kohleproduktion zusammenschließen. Sie wird zur Vorläuferin der Europäischen Union und gilt als ein Baustein des deutschen Wirtschaftswunders.

Um den wachsenden Energiebedarf zu decken, erhält der Steinkohlebergbau Subventionen. Mit der billigen Import-Kohle kann die heimische Steinkohle nicht konkurrieren. Bereits in den 1950er Jahren beginnt der jahrzehntelang anhaltende Prozess des Zechensterbens im Ruhrgebiet. Er zieht sich über Jahrzehnte, in denen Milliardenhilfen hunderttausende Jobs stützen. 2018 schließt mit "Prosper Haniel" in Bottrop die letzte aktive Steinkohlezeche Deutschlands. Von einst 530.000 Beschäftigten in der Steinkohle blieben 1980 noch 137.000 und zuletzt 4.000.

Erdöl liefert in den 1960ern die Energie für die wachsende Wirtschaft

Was machen Politiker, die latent Sorge haben, die Kohlevorräte gingen bald zur Neige, und parallel wachsender Kritik an den Schadstoffen durch die Kohleverstromung ausgesetzt sind? Sie werden offen für Neues. In den 1950er Jahren kommen zwei neue Energieträger auf: Erdöl und Kernenergie.

Erdöl treibt die Massenmotorisierung der Deutschen an und liefert in den 1960er Jahren die Energie für die rasant wachsende Wirtschaft, etwa die Chemieindustrie mit ihren zunehmenden Plastikprodukten. Die multinationalen Ölkonzerne sind auch in Deutschland auf dem Vormarsch.

Ölpreisschock: Verdreifachung des Preises zwischen 1972 und 1978

Hart trifft die Ölpreiskrise das Land, die 1973 beginnt. Die arabischen OPEC-Staaten drosseln damals ihre Produktion, um den Westen für die Unterstützung Israels zu bestrafen. Zwischen 1972 und 1978 verdreifacht sich der Preis für Erdöl nahezu. Die Folge: In Deutschland sinkt das Wirtschaftswachstum 1975 deutlich. Die Erkenntnis über die Abhängigkeit vom billigen Öl ist ein Schock für den Westen.

Als Reaktion hält die Bundesregierung die Menschen zum Energiesparen an und führt Ende 1973 vier autofreie Sonntage ein. Spaziergänger auf menschenleeren Autobahnen - das Bild symbolisiert bis heute die Ölpreiskrise. Zudem setzt die Bundesregierung wieder verstärkt auf die heimische Steinkohle. Sie führt 1974 den "Kohlepfennig" ein, eine Abgabe auf den Strompreis, bezahlt vom Verbraucher, um die international nicht konkurrenzfähige Steinkohle als Energieträger zu sichern. Erst 1995 wird er abgeschafft.

Folge: Ausbau der Kernenergie stößt auf breite Zustimmung

Eine weitere Konsequenz aus der Ölkrise: Die Bundesregierung forciert den Ausbau der Kernenergie. Schon in den 1950er Jahren hatte sie begonnen, Forschung und Entwicklung der Atomkraft zu fördern. Die gilt damals als sauber und unendlich zur Verfügung stehend. Die Begeisterung geht durch alle Parteien und die Bevölkerung.

Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) schafft 1955 ein eigenes Atomministerium, doch auch die SPD hat nahezu grenzenlose Erwartungen an die neue Energiequelle. In einem "Atomplan" von 1956 schreibt sie, die Atomenergie könne "entscheidend helfen, die Demokratie im Innern und den Frieden zwischen den Völkern zu festigen". Allgemein scheint damals keine Erwartung an die Atomkraft zu abwegig: Mit ihr sollten Meerwasser entsalzen, Gewächshäuser betrieben und in kleinerer Form Autos angetrieben werden. Allein bis 2006 fließen nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung mehr als 50 Milliarden Euro Subventionen für die Kernenergie.

Oktober 1973: Die erste sowjetische Gaslieferung strömt nach Deutschland

Ende der 1960er Jahre bahnen westdeutsche Unternehmen - allen voran Hoesch, Mannesmann, Thyssen - Geschäfte mit der Sowjetunion an: Röhren gegen Gas. Sie entpuppen sich als ideale Ergänzung zur Ostpolitik des ab 1969 amtierenden Kanzlers Willy Brandt (SPD). Der Bezug von sowjetischem Gas wird als vertrauensbildende Maßnahme bewertet. Außerdem freut sich die Bundesregierung über günstige Energielieferungen und gewährt Hermesbürgschaften für Bankkredite an die Sowjetunion.

Im Oktober 1973 strömt die erste sowjetische Gaslieferung nach Deutschland. Die "Zeit" titelt: "Die Russen sind da." Danach werden - auch unter dem Eindruck des Ölpreisschocks - in enger Taktung weitere Gas-Geschäfte ausgehandelt, die auch den Ausbau der Pipelines forcieren. Zum Lieferland Sowjetunion kommen unter anderem die Niederlande und Norwegen. Auch die heimische Gasförderung wird bis heute betrieben, kleine Vorkommen gibt es vor allem in Niedersachsen.

Anti-AKW-Bewegung startet harte Auseinandersetzungen

Anfang der 1980er beunruhigt das Waldsterben die Bevölkerung; die Umweltbewegung wächst. Die Politik verabschiedet 1983 die "Großfeuerungsanlagenverordnung", in der Emissionsgrenzwerte für Schwefeldioxid, Stickoxide und Staub festgelegt werden. Viele Kohlekraftwerke können nach einer Umrüstung weiterlaufen.

Auch die Atomenergie mobilisiert inzwischen im ganzen Land große Bevölkerungsgruppen. Mit dem Bau zahlreicher Atomkraftwerke wächst der Widerstand. Die Namen Wackersdorf, Brokdorf, Mühlheim-Kärlich oder etwa Kalkar beschreiben nicht nur Standorte von Atomkraftwerken und -anlagen, sondern stehen heute für harte Auseinandersetzungen mit Wasserwerfern, fliegenden Steinen und Verletzten.

Foto: picture alliance/dpa/Mlit

Die Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima im Jahr 2011 beschleunigte den deutschen Atomausstieg.

Der Protest führt 1980 zur Gründung der Grünen. Als 1986 in Tschernobyl in der Ukraine ein Reaktor explodiert, der größte anzunehmende Unfall tatsächlich geschieht, will laut Umfragen danach etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung aus der Atomkraft aussteigen. Die Ablehnung reicht bis weit ins bürgerliche Lager. Während die Grünen und verzögert auch die SPD eine Abkehr von der Atomkraft fordern, halten Union und FDP daran fest.

Wissenschaftler warnen vor dem menschengemachten Klimawandel

Das Treibhausgas Kohlendioxid wird ab 1990 ein Begriff. Wissenschaftler warnen vor dem menschengemachten Klimawandel. Von jetzt an gehört Klimaschutz zum Zielkatalog der Bundesregierung. Mit einem vergleichsweise vorsichtigen Stromeinspeisegesetz werden erstmals Öko-Energien aus Wind, Sonne und Wasser gesetzlich gefördert. Die Stromversorger werden darin verpflichtet, Strom aus erneuerbaren Energiequellen aufzunehmen und zu einem festen Preis zu vergüten - der Vorläufer des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG), das Jahre später den Ökoenergien zum Durchbruch verhilft.

Mit dem Versprechen, aus der Atomkraft auszusteigen, gewinnt Rot-Grün 1998 die Bundestagswahl. Nach zweijährigen Verhandlungen einigt sich der Bund mit den Atom-Konzernen RWE, Eon, Vattenfall und EnBW auf ein Ende der Kernkraft. Im Ausstiegsvertrag werden Reststrommengen vereinbart und eine maximale Laufzeit bis höchstens 2021.

EEG tritt in Kraft und Energiewende startet

Parallel tritt im Jahr 2000 das EEG in Kraft, mit dem Ökostrom eine über 20 Jahre lang festgelegte Vergütung bekommt. Damit gilt "Vorfahrt für Erneuerbare", die Energiewende startet. Das Gesetz löst einen Boom beim Bau von Solaranlagen, Windparks und Biogasanlagen aus. Der Energiemix in Deutschland ändert sich im doppelten Sinn nachhaltig: Im Jahr 2000 machen die Erneuerbaren nur sechs Prozent am deutschen Stromverbrauch aus, 2020 sind es 46 Prozent.

Den Boom drosselt eine schwarz-rote Koalition, die 2005 Rot-Grün ablöst. Es kommt zu einem merkwürdigen Zwiespalt der Energiepolitik: Während Kanzlerin Angela Merkel (CDU) auf internationaler Bühne weitreichende Klimaschutzziele verkündet und als "Klimakanzlerin" gefeiert wird, kürzt sie zu Hause die Förderung, vor allem bei Photovoltaik. Das überleben zahlreiche Solarfirmen nicht.

Der Klimaschutz dient als Argument für eine Kehrtwende beim Atomausstieg. Inzwischen führt Merkel eine Koalition mit der FDP. Beunruhigt über steigende Strompreise für die Industrie, verlängert die Regierung die Laufzeiten der Atommeiler um bis zu 14 Jahre gegenüber dem rot-grünen Ausstiegsbeschluss. Kernenergie sei als "Brückentechnologie" für den Klimaschutz unverzichtbar.

Nuklearkatastrophe von Fukushima: Merkel verkündet erneute Wende

Die Verlängerung gilt nur ein knappes Jahr. Ein verheerender Tsunami löst im japanischen Fukushima 2011 eine Atomkatastrophe aus. Merkel verkündet im Bundestag eine erneute Wende. Sie sagt, sie habe erkennen müssen, dass die Technologie nicht beherrschbar sei - und kassiert die Laufzeitverlängerung. Sechs der ältesten Atomkraftwerke werden sofort abgeschaltet, die anderen gehen nach einem Abschaltplan bis Ende 2022 vom Netz.

Nicht gelöst ist bis heute die Frage, wo die 27.000 Kubikmeter hochradioaktiver Abfall gelagert werden sollen, die bis zum endgültigen Ausstieg übrig bleiben. Immerhin nähert sich Deutschland einer Antwort an. 2013 verabschiedet der Bundestag das "Standortauswahlgesetz", das einen neuen Anlauf bei der Suche nach einem Atommüll-Endlager nimmt. Eine "Endlagerkommission", bestehend aus Wissenschaftlern und Vertretern von Interessengruppen, legt fest, welche Bedingungen ein Endlager erfüllen muss und wie ein faires Auswahlverfahren aussehen kann. Nicht die Politik, sondern einzig Geologie und Wissenschaftlichkeit sollen den Ausschlag geben. Bis 2031 soll ein Standort feststehen.

Kohle-Kommission soll Braunkohle-Ausstieg planen

Jahrelang bleibt es bei Widersprüchen der Energiepolitik. Kanzlerin Merkel schwört 2015 beim G7-Gipfel in Elmau die Staatenlenker auf das Ziel der "Dekarbonisierung" ein und bekennt sich auch auf dem Klimagipfel von Paris zu einer quasi CO2-freien Energieerzeugung - also eine ohne Kohle, Öl und Gas. Gleichzeitig setzt sie zu Hause auf den Abbau und die Verfeuerung von Braunkohle.

2018 gründen Bund und Länder eine Kohle-Kommission, die den sozialverträglichen Ausstieg aus der Braunkohle planen soll. 2020 wird er beschlossen, das Ergebnis ist der kleinste gemeinsame Nenner: Bis spätestens 2038 sollen Braunkohlekraftwerke abgeschaltet werden, es fließen rund eine Milliarde Euro Stilllegungsprämien an die Kraftwerksbetreiber. Die Kohle-Bundesländer bekommen 40 Milliarden Euro für den Strukturwandel.

Die "Fridays for Future"-Bewegung gegen die Tatenlosigkeit beim Klimaschutz wächst - und hinterlässt 2019 Spuren in der Politik. Die "GroKo" verabschiedet ein Klimaschutzgesetz, das das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 vorsieht. Kurz vor den Bundestagwahlen 2021 macht ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts Druck: Das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung, so die Richter, verschiebe zu viele Lasten der Klimareduktion auf die jüngere Generation. Schwarz-Rot bessert nach und zieht das Ziel der Klimaneutralität auf 2045 vor - wie das gelingen kann, lässt sie offen.

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Das wird die Aufgabe der neuen Bundesregierung. Die Herausforderung ist groß, betrifft die Energiewende doch nicht nur die Stromerzeugung, sondern auch den Verkehr, das Bauen, die Industrie, die Landwirtschaft. Ob mit oder ohne "Klimaschutzministerium", die neue Regierung hat Handlungsdruck. Das Umweltbundesamt mahnte jüngst, es gehe nicht mehr um die Frage, welche Maßnahmen zuerst umgesetzt werden sollten, sondern darum, "schnell und in allen Bereiches des Klimaschutzes zu handeln".