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Interview : "Es geht um die Zukunft der europäischen Rechtsordnung"

Der Publizist, Deutschlandkenner und EU-Experte Piotr Buras über Polens Weg vom Kriegszustand 1981 zum Grundwertestreit mit der EU 2021.

13.12.2021
2024-01-08T13:33:31.3600Z
5 Min

Herr Buras, welche Erinnerungen haben Sie persönlich an das Kriegsrecht?

Piotr Buras: Ende 1981 war ich sieben Jahre alt. Da nimmt man die Dinge natürlich anders wahr. Am lebhaftesten erinnere ich mich, dass am Morgen des 13. Dezember im Fernsehen das Kinderprogramm ausfiel. Das war eine kleine Katastrophe. Später habe ich dann die Straßenkämpfe erlebt, die in Warschau auch auf der zentralen Marszałkowska-Straße tobten. Dort wohnten wir damals. Heute treibt mich ein anderer Gedanke um. Meine Familie wollte 1981 noch vor Weihnachten nach Dänemark fliegen, wo mein Großvater lebte. Die Reise fiel dann aus. Hätten wir den Flug für einen etwas früheren Termin gebucht, wären wir noch nach Dänemark gekommen und mit Sicherheit dortgeblieben. Dann wäre mein Leben völlig anders verlaufen.

Foto: seesaw-foto.com
Piotr Buras
Piotr Buras, Jahrgang 1974, arbeitete von 2008 bis 2012 als Deutschland-Korrespondent der "Gazeta Wyborcza", einer der größten Tageszeitungen Polens. Heute leitet er das Warschauer Büro der Denkfabrik European Council on Foreign Relations.
Foto: seesaw-foto.com

Das Kriegsrecht hat den Kommunismus nicht gerettet. 1989 kam es zu einem friedlichen Machtwechsel statt zu einem echten Bruch. Welche Folgen hatte das?

Piotr Buras: Das hat die Politik im demokratischen Polen tief geprägt. Die nationalkonservative PiS, die seit 2015 regiert, begründet damit noch heute ihre Forderungen nach einem Staatsumbau. Im Rückblick auf 1989 muss man aber daran erinnern, dass Polen mit dem Runden Tisch Vorreiter war. Man konnte sich nicht an anderen Ländern orientieren. Die Kommunisten haben dann mit der Solidarnosz-Opposition Kompromisse ausgehandelt. Was wäre die Alternative gewesen: Gewalt wie 1981? Es stimmt, dass die Kommunisten im neuen System zu Partnern wurden, und die Nationalkonservativen haben daraus Vorwürfe gegen die liberalen Eliten abgeleitet. Aber wir haben uns 1997 auf eine absolut tragfähige Verfassung geeinigt. Es folgten die Beitritte zu Nato und EU. Das Ausbleiben eines radikalen Neustarts 1989 hat der demokratischen und rechtsstaatlichen Entwicklung in Polen nicht nachhaltig geschadet.

Die PiS sieht es anders und will vor allem in der Justiz einen radikalen Umbau "nachholen". Ist das nicht legitim?

Piotr Buras: Alle Hinweise auf 1989 sind vorgeschoben. Das Durchschnittsalter von Richterinnen und Richtern in Polen beträgt 42 Jahre. Es ist absurd, von kommunistischen Netzwerken im Justizwesen zu sprechen. Die PiS hadert auch nicht wirklich mit 1989, sondern mit der liberalen Entwicklung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Im Streit mit der EU-Kommission über die Rechtsstaatlichkeit besteht die polnische Regierung darauf, dass die Ausgestaltung des Justizwesens eine nationale Angelegenheit sei. Zu Recht ?

Piotr Buras: Kein anderes EU-Mitglied ist mit seinen Angriffen auf die Unabhängigkeit der Justiz so weit gegangen wie Polen unter Führung der PiS. Richterinnen und Richter stehen extrem unter Druck. Die Regierung hat eine enorme Kontrolle über das Justizsystem. Das ist der Kern des Konflikts, nicht der Kompetenzstreit mit den EU-Institutionen. Es geht um die Zerstörung der Rechtsstaatlichkeit in Polen und damit eines fundamentalen Prinzips der EU, das im Übrigen auch in den EU-Verträgen festgeschrieben ist. Die Union kann nicht gedeihen, wenn Mitgliedstaaten die Unabhängigkeit der Justiz abschaffen.


„Aber rund 80 Prozent der Menschen in Polen sind aktuell für die EU-Mitgliedschaft.“
Piotr Buras, Korrespondent der "Gazeta Wyborcza"

Ist ein Kompromiss denkbar?

Piotr Buras: Es gibt rechtskräftige Urteile des Europäischen Gerichtshofs. Demnach sind zentrale Teile der Justizreformen in Polen nicht mit EU-Recht vereinbar. Die Regierung in Warschau weigert sich aber, diese Urteile umzusetzen. Das ist ein beispielloser Vorgang, und in dieser fundamentalen Frage kann es keinen Kompromiss geben. Die Kommission kann nun Vertragsverletzungsverfahren einleiten, den neuen Rechtsstaatsmechanismus aktivieren und vor allem viele Milliarden Euro aus dem Corona-Wiederaufbauplan zurückhalten. Ob das ausreicht, muss sich zeigen.

In Polen wird vor diesem Hintergrund über einen "Polexit" debattiert, also einen EU-Austritt.

Piotr Buras: Ja, aber das ist eine Scheindiskussion. Sie nutzt vor allem der Regierung, weil sie deren Drohpotenzial in Brüssel erhöht. Das Ziel ist Einschüchterung. Denn wenn ein Polexit in der EU als reales Szenario gehandelt würde, dann würde das zum Nichtstun verleiten. Dann ließe man die PiS im Zweifel lieber gewähren, als eines der wichtigsten Mitgliedsländer zu verlieren. Aber rund 80 Prozent der Menschen in Polen sind aktuell für die EU-Mitgliedschaft. Ein Polexit steht deshalb nicht ernsthaft zur Debatte. Im Gegenteil: Jede Regierung, die einen Schritt in diese Richtung gehen würde, würde abgewählt, noch bevor die Austrittsverhandlungen beginnen könnten.

Welche Möglichkeiten hat die neue Bundesregierung, zu einer Konfliktlösung beizutragen?

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Piotr Buras: Deutschland hat sich in diesem Streit sehr zurückgehalten. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich von der Überzeugung leiten lassen, dass man diesen Konflikt nicht verschärfen sollte, um den Zusammenhalt der EU nicht zu gefährden. Hinzu kam die Furcht, dass die PiS eine aktivere Rolle Deutschlands propagandistisch ausschlachten könnte. Die leidvolle Geschichte und die Zerstörungen, die Deutsche in Polen angerichtet haben, sind im Land noch immer sehr präsent. Unter dem Strich ist die Strategie der Kanzlerin aber nicht aufgegangen. Die Zurückhaltung hat nicht dazu geführt, dass sich die polnische Regierung ihrerseits mit ihrer Kritik an Deutschland zurückgehalten hätte. Vor allem aber hat die PiS beim Abbau der Rechtsstaatlichkeit kein Entgegenkommen gezeigt. Das Dilemma bleibt der neuen Bundesregierung erhalten. Letztlich muss man aber wohl festhalten: In der aktuell so zugespitzten Lage ergibt eine Entschärfung um jeden Preis keinen Sinn. Wenn EuGH-Urteile in Polen nicht umgesetzt werden, ist das der Anfang vom Ende der Europäischen Union. Deshalb sollte auch Deutschland hier eine rote Linie ziehen.