Die Deutschen gelten als ordnungsliebend, leistungsorientiert, berechenbar und gefühllos. Das liegt vor allem an den beiden Weltkriegen und den ungeheuerlichen Verbrechen, die im deutschen Namen verübt wurden. Während Thea Dorn einem breiten Publikum die deutschen "Tugenden" grandios vermittelte, erschließt die Historikerin Ute Frevert den Außenstehenden unsere Gefühlswelt.
In ihrem gründlich recherchierten und gut lesbaren Buch beschreibt die Autorin, welche Gefühle die Deutschen leiteten, als sie zusammen mit dem Kaiser in den Ersten Weltkrieg zogen oder warum in den späten 1990er-Jahren die Ostdeutschen eine Ostalgie-Welle erfasste. Frevert gelingt es dabei, eine Verbindung zwischen zeitlich entfernt liegenden Ereignissen über die Gefühlsebene herzustellen. Die Liste der Gefühle ist lang: Sie reicht von A wie Angst, Demut, Ehre, Hass und Hoffnung bis zu Z wie Zuneigung. Betrachtet der Leser historische Ereignisse durch diese Brille, dann versteht er, dass Gefühle nicht nur Geschichte machen. "Sie werden auch von ihr gemacht."
Als "Tag der Scham und Schande" bezeichnete Bundespräsident Steinmeier den 9. Oktober 2019, den Tag des Anschlags auf die Synagoge in Halle. "Schande" hatte auch die "Bild am Sonntag" am 6. September 2015 getitelt und Bilder der Flüchtlinge an der Grenze zu Ungarn veröffentlicht. Sie konnten nur unter Anwendung von massiver Gewalt gestoppt werden. "Solche Bilder waren der deutschen Öffentlichkeit jedoch nicht zumuten", notiert Frevert. Daher war die Entscheidung der Kanzlerin, die Grenze zu öffnen "ebenso logisch wie alternativlos".
Ute Frevert ist Direktorin des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin und Trägerin des Leibniz-Preises und des Sigmund-Freud-Preises für wissenschaftliche Prosa. Ihre Publikation ist eines der besten politischen Bücher des Jahres 2020.
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