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Freies Mandat und Fraktionsdisziplin : Mandat mit Spagat

Abstimmungen im Bundestag werden nur selten »freigegeben«. Nur ihrem Gewissen unterworfen, haben Abgeordnete auch die Fraktionsdisziplin zu achten.

21.03.2022
2024-03-18T08:44:38.3600Z
9 Min
Foto: Deutscher Bundestag/Presse-Service Steponaitis

Entscheidung nach mehr als elf Stunden Debatte über den künftigen Sitz des Parlaments: Sowohl Bonn als auch Berlin hatten Befürworter in allen Fraktionen und Gruppen.

Es war ein Paukenschlag, für den Angela Merkel am 26. Juni 2017 en passant im Berliner Maxim-Gorki-Theater sorgte. Dort absolvierte die Regierungschefin, CDU-Vorsitzende und -Kanzlerkandidatin im anlaufenden Bundestagswahlkampf eine öffentliche Polittalk-Veranstaltung, als sie ein junger Mann aus dem Publikum fragte, wann er seinen Freund denn als seinen Ehemann bezeichnen dürfe. Merkel antwortete, dass sie sich - wie CDU und CSU insgesamt - mit einer Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare schwertue, in der Diskussion aber "eher in Richtung einer Gewissensentscheidung" wolle.

"Gewissensentscheidung" - das war das Schlüsselwort. "Im Klartext: die ParlamentarierInnen sollen ohne Fraktionszwang über die Ehe für alle entscheiden", war am nächsten Tag in der "taz" zu lesen. Einen "Fraktionszwang" freilich gibt es nicht, wie zu sehen sein wird, wohl aber eine "Fraktionsdisziplin", nach der die Abgeordneten bei Abstimmungen der Mehrheitsmeinung ihrer Fraktion folgen. Das gilt nicht, wenn das jeweilige Thema zur "Gewissensfrage" erhoben und das Abstimmungsverhalten daher "freigegeben" wird, wie es im üblichen Parlamentsdeutsch heißt.

Ethische Fragen werden zu »Sternstunden«

Meist passiert das bei schwierigen ethischen Fragen, in denen es etwa um Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch geht, zur Sterbehilfe oder zur Embryonenforschung, zuletzt Anfang 2020 zur Organspende. In der Berichterstattung ist dann oft von "Sternstunden des Parlamentarismus" zu lesen. Es können aber auch Entscheidungen freigegeben werden wie bei der legendären Bonn/Berlin-Debatte des Bundestages vom Juni 1991 über den künftigen Sitz des Parlaments. Die Meinungen gehen dabei oft quer durch die einzelnen Fraktionen und die gegensätzlichen Beschlussvorlagen werden meist von interfraktionellen Abgeordnetengruppen eingebracht. Solche "Gruppenanträge" gab es auch vergangene Woche bei der ersten Lesung unterschiedlicher Vorlagen zu einer Impfpflicht gegen das Corona-Virus.

Dass Bundestagsabstimmungen indes mit Talkshow-Einlassungen der Kanzlerin auf einer Theaterbühne freigegeben werden wie bei der "Ehe für alle", darf als Einzelfall vermerkt werden. Nur vier Tage nach Merkels Auftritt im Gorki-Theater kam es in der letzten Plenarsitzung des Bundestags vor der Sommerpause zur Abstimmung: Mit 393 Ja- gegen 226 Nein-Stimmen votierte das Parlament bei vier Enthaltungen für den bereits 2015 vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf "zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts". Ein Streitthema, das Jahrzehnte hindurch für erbitterte Auseinandersetzungen gesorgt hatte, war abgeräumt.

"Ehe für alle" kam plötzlich

Dabei zeigt die Diskussion um die Gleichstellung von homo- mit heterosexuellen Paaren exemplarisch das Spannungsverhältnis zwischen dem von der Verfassung garantierten "freien Mandat" der Bundestagsabgeordneten und den nicht gesetzlich fixierten, für die Parlaments- und Regierungspraxis aber elementaren Grundsätzen der Fraktionsdisziplin und Koalitionstreue. Vor allem die CDU/CSU lehnte die "Ehe für alle" mehrheitlich stets ab. Zwar konnte Rot-Grün im Jahr 2000 durchsetzen, dass Frauen mit Frauen und Männer mit Männern eine "eingetragene Lebenspartnerschaft" eingehen können, aber im Bundesrat verweigerte die Union dem weiter gehenden Ergänzungsgesetz damals die erforderliche Zustimmung.

Im Bundestag sollten nach dem Regierungswechsel von 2005 sowohl die FDP- wie auch die SPD-Fraktion als abwechselnde Koalitionspartner der Union Oppositions-Initiativen zur weiteren Gleichstellung die Unterstützung lange Zeit versagen. Während die Freidemokraten in der Wahlperiode von 2009 bis 2013 mit Verweis auf die Koalitionstreue gegen die Vorlagen stimmten, ließen Union und Sozialdemokraten in der folgenden Legislaturperiode entsprechende Gesetzentwürfe angesichts ihrer Uneinigkeit in dieser Frage jahrelang nicht zur Abstimmung kommen.

Klauseln in Koalitionsverträgen

Dabei spielt eine Klausel in den damaligen Koalitionsverträgen der beteiligten Parteien eine Rolle, die sich wortgleich auch im aktuellen "Ampel"-Vertrag von SPD, Grünen und FDP findet: "Im Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab. (...) Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen", heißt es darin. Diese Vereinbarung wird schon so manchen Koalitionsabgeordneten bei Abstimmungen Bauchgrimmen verursacht haben; sie zu brechen kann indes den Bruch der Koalition und eine Regierungskrise nach sich ziehen. Am Ende kann es um die Regierungsfähigkeit des Landes gehen.

Vor Merkels Theaterauftritt von 2017 hatte indes die SPD ebenso wie die FDP und die Grünen die Öffnung der Ehe für alle zur Bedingung für ihre Unterschrift unter einen künftigen Koalitionsvertrag erhoben. Die Rechtsprechung ging ebenso wie die gesellschaftliche Entwicklung längst in diese Richtung; auch die Unions-Fraktion war von diesem Wandel nicht unberührt geblieben. Von ihr votierten schließlich immerhin 75 Abgeordnete für die "Ehe für alle" und 225 - darunter die Kanzlerin - dagegen. Das Abstimmungsergebnis zeigt, dass es im Bundestag spätestens seit dessen Wahl 2013 eine große Mehrheit für die Neuregelung gab, die aber erst zum Tragen kommen konnte, als die Kanzlerin den Abgeordneten ihr Abstimmungsverhalten quasi freistellte.

"Quasi" - denn die Parlamentarier sind in ihrem Abstimmungsverhalten eigentlich immer frei. Sie sind, heißt es im Grundgesetz-Artikel 38, "an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen". Das unterscheidet ihr "freies" von einem "imperativen Mandat", mit dem sie etwa verpflichtet werden könnten, Parteitagsbeschlüsse umzusetzen. Die Abgeordneten müssen weder Instruktionen ihrer Partei noch sonstiger Gruppierungen oder gar Einzelpersonen folgen.

"Fraktionszwang" ist verfassungswidrig

Ein "Fraktionszwang", von dem nicht nur an Stammtischen häufig geredet wird, ist verfassungswidrig. Ein solcher Zwang bestünde etwa, wenn ein von der Partei- oder Fraktionslinie abweichendes Abstimmungsverhalten mit dem Verlust des Mandats geahndet würde. Zu solchen Fällen kam es in den Anfangsjahren des Bundestages durchaus. So verlangte etwa, wie der Historiker Michael Feldkamp schreibt, neben anderen Kleinparteien die KPD 1949 von ihren Abgeordneten eine Blankoverzichtserklärung, mit deren Hilfe ihr Parlamentarier Robert Leibbrand 1950 zum Mandatsverzicht gezwungen wurde. Der Bundestag erklärte die Blankoerklärungen damals für ungültig und verweigerte das Nachrücken eines Ersatzkandidaten.

Anders sieht es aus bei der "Fraktionsdisziplin", denn die "politische Einbindung des Abgeordneten" in Parteien und Fraktionen, urteilte das Bundesverfassungsgericht 2013, ist "verfassungsrechtlich erlaubt und gewollt". Die Karlsruher Richter verwiesen damals darauf, dass der Grundgesetz-Artikel 21 den Parteien eine besondere Rolle im Prozess der politischen Willensbildung zuweist, und sahen in den von Abgeordneten gebildeten Fraktionen "notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens". Um den Fraktionen die Erfüllung ihrer verfassungsmäßigen Aufgaben zu ermöglichen, heißt es dazu in einer Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages, werde ihnen zugestanden, "ein möglichst geschlossenes Auftreten im Parlament durch Verfahrens- und Verhaltensregeln herbeizuführen". Ein einheitliches Abstimmungsverhalten einer Fraktion dient nicht nur dem Erhalt ihrer Handlungsfähigkeit, sondern gegebenenfalls auch dem der Regierungsmehrheit.

Rechte der Fraktionen 

Natürlich können Abgeordnete gegebenenfalls aus ihrer Fraktion austreten. Aus Sicht der wohl allermeisten ist jedoch ihre Einbindung in eine Fraktion unerlässlich, die deutlich mehr Rechte als ein einzelner Parlamentarier hat. Gestützt auf mindestens fünf Prozent der Abgeordneten, kann nur ein solcher Zusammenschluss etwa Anträge und Gesetzentwürfe einbringen. Abgeordneter mit Aussicht auf Effizienz könne nur sein, wer eingebunden ist in eine Fraktion, sagte Wolfgang Schäuble (CDU), dienstältester Volksvertreter der deutschen Parlamentsgeschichte, vor einigen Monaten dieser Zeitung. Das entspreche auch dem repräsentativen Prinzip der parlamentarischen Demokratie: "Man findet sich in Fraktionen zusammen und bildet in diesen eine gemeinsame Position. Anders geht es auch nicht, weil stabile Mehrheiten sonst schwer zu erreichen wären."

Abgeordnete könnten für ihre Position kämpfen und um Mehrheiten ringen, müssten aber genau überlegen, ob sie nicht akzeptieren, wenn die Fachleute und die Mehrheit ihrer Fraktion nach intensiven Diskussionen anders entscheiden, argumentierte der damalige Bundestagspräsident. Und wer es nicht akzeptiert? Schäuble erinnerte an Wolfgang Bosbach, einst CDU/CSU-Fraktionsvize und später Kritiker des Euro-Rettungskurses der Regierung, der als Innenausschuss-Vorsitzender 2015 seinen Verzicht auf eine erneute Bundestagskandidatur damit begründete, dass er nicht immer "die Kuh sein wolle, die quer im Stall steht". Das "gehört auch zu den Gewissensentscheidungen", fügte Schäuble hinzu, der den Parlamentsbetrieb sowohl als "einfacher" Abgeordneter kennengelernt hat als auch als Fraktionschef.

Wer entgegen der Fraktionslinie votieren will, kann letztlich davon nicht abgehalten werden, soll sich aber an Regeln halten. So beschloss etwa die SPD-Fraktion 1981, dass ihr die Absicht, von ihren Beschlüssen bei einer Abstimmung abzuweichen, "spätestens in der der Abstimmung vorausgehenden Fraktionssitzung mitzuteilen" ist. Und die Unions-Fraktion verpflichtet in ihrer "Arbeitsordnung" ihre Mitglieder, ein geplantes abweichendes Stimmverhalten der Fraktionsführung oder -versammlung am Vortag der Abstimmung bis 17 Uhr anzuzeigen.

Und dann? Die Konsequenzen können gegebenenfalls weit reichen: Vorbei mit einflussreichen Posten wie Ausschussvorsitzende oder fachpolitischer Sprecher etwa, Schluss mit Redezeiten im Parlamentsplenum beispielsweise, und schließlich: das Aus bei der Kandidatenaufstellung zur nächsten Bundestagswahl.

Als "Warnung, nicht als Drohung" verstanden

Josef Klein ist einer, dessen Politikerkarriere ein solches Ende nahm. Der spätere Sprachwissenschaftler zog zeitgleich mit Schäuble 1972 in den Bundestag ein, in dem er ein Jahr später für den Grundlagenvertrag der sozialliberalen Bundesregierung unter Willy Brandt (SPD) mit der DDR stimmte - als einer von vier CDU-Abgeordneten, entgegen der Fraktionslinie. Der Druck seitens mancher Fraktionskollegen sei vor der Abstimmung damals "sehr, sehr stark" gewesen, erinnert sich der 81-Jährige noch heute. Schließlich seien die Abweichler in Einzelgesprächen vom damaligen Fraktionschef Rainer Barzel (CDU) ins Gebet genommen worden, erzählt Klein. Letztlich habe Barzel ihn dabei indes sachlich auf mögliche Folgen eines abweichenden Votums hingewiesen - "nicht in der Fraktion", sondern bei der Kandidatenaufstellung für die nächste Bundestagswahl.

Klein verstand das als "Warnung, nicht als Drohung", und blieb bei seiner Position. Für die Wahl 1976 fand er keinen aussichtsreichen Listenplatz mehr und unterlag auch bei der Bewerbung um ein Direktmandat. Ein "wesentlicher Grund" dafür sei sein Abstimmungsverhalten insbesondere beim Grundlagenvertrag gewesen, sagt er. Dennoch scheint er nicht im Zorn zurückzublicken. Dass es damals um eine Gewissensentscheidung gegangen sei - ohne dass die Abstimmung von seiner Fraktion freigegeben war -, habe niemand bestritten. Fraktionsdisziplin findet der einstige Abweichler gleichwohl unverzichtbar. Auch für ihn ist der Normalfall, dass man in einer Fraktion geschlossen abstimmt: "Sonst würde eine Fraktion als Gemeinschaft ja überhaupt nicht existieren können."

Gleichwohl votieren Abgeordnete nicht so selten anders als ihre Fraktion, wie es in der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wird. Die Aufmerksamkeit steigt, je gewichtiger das Thema und je knapper die Mehrheitsverhältnisse sind. Dass über die aktuelle Frage der Impfpflicht nach den Worten von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) "ohne Fraktionszwänge" und ohne Regierungsvorlage entschieden werden soll, mag auch der Uneinigkeit seiner Koalition in dieser Frage geschuldet sein. Anders reagierte sein SPD-Vorgänger Gerhard Schröder 2001, als es nach den Terroranschlägen vom 11. September erstmals um die Beteiligung der Bundeswehr an Kampfeinsätzen in Afghanistan ging. Zwar unterstützten damals auch die Oppositionsfraktionen von Union und FDP den Regierungsantrag zum "Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte" bei der "Operation Enduring Freedom", doch gab es Widerstand bei SPD und Grünen; acht Grünen-Abgeordnete kündigten öffentlich an, mit "Nein" zu stimmen.

Vertrauensfrage als Ultima ratio

Damit hätte Rot-Grün den Antrag nicht mit eigener Mehrheit durchbringen können, doch Schröder verband daraufhin die Abstimmung erstmals in der Geschichte mit einer Vertrauensfrage. Für den Bundeswehr-Antrag hätte die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen gereicht; um dem Kanzler das Vertrauen auszusprechen und so das Ende von Rot-Grün abzuwenden, brauchte es die Mehrheit aller Abgeordneten. Union und FDP kündigten an, trotz ihrer Unterstützung des Bundeswehreinsatzes die Vertrauensfrage mit Nein zu beantworten, und Schröders Koalition durchlebte ihre größte Zerreißprobe. Die SPD-Frau Christa Lörcher, eine Gegnerin des Einsatzes, verließ ihre Fraktion; bei mehr als sechs Nein-Stimmen aus dem eigenen Lager wäre Rot-Grün Geschichte gewesen.

Aber gegen die eigene Überzeugung Soldaten in einen Kampfeinsatz schicken? Für eine Entscheidung von solcher Tragweite sei es unabdingbar, dass sich die Regierung auf eine eigene Mehrheit stützen könne, argumentierte der Kanzler in der Schlussdebatte. Fast im letzten Moment verständigten sich die acht Grünen-Abweichler, dass nur vier von ihnen gegen die eigene Regierung stimmen: "Wir beantworten eine Machtfrage strategisch, indem wir Ja zum Fortbestand der Koalition und Nein zur Legitimation des Bundeswehrmandats sagen", begründete die heutige Bundesumweltministerin Steffi Lemke, die dann mit Ja stimmte, das Splitting. Eine Reihe weiterer Koalitionsabgeordneter machte in Erklärungen deutlich, trotz grundsätzlicher Bedenken gegen den Einsatz für den Erhalt von Rot-Grün zu stimmen.

An Ende votierte die Koalition bis auf die vier Grünen geschlossen für die Regierungsvorlagen. Die Entscheidung für den Bundeswehr-Einsatz war gefallen, Rot-Grün gerettet. So dramatisch freilich ist der Spagat zwischen der Freiheit des Mandats und der Fraktionsdisziplin im Bundestag selten vorgeführt worden.