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Reaktion auf den russischen Überfall in Russland : Ob die russische Gesellschaft da mitspielt?

Die Kritik in Russland an Putin offenbart, dass selbst die Zensur nicht vorbereitet war.

21.03.2022
2024-01-05T18:43:55.3600Z
4 Min

Am 24. Februar 2022 um 6 Uhr Moskauer Zeit verkündete Präsident Putin dem russischen Volk den Beginn der "Militäroperation" gegen die ukrainischen "Nazis". Ziel sei es, die Ukraine zu entmilitarisieren. Einmütig kritisierten die wenigen noch verbliebenen unabhängigen Medien in Russland den Krieg. Viel Zeit blieb ihnen nicht: Eine Woche später wurden der Radiosender "Echo Moskvy" und der Fernsehsender "Dozd" geschlossen. Die Zeitung "Novaja gazeta" kann noch erscheinen, sie beschloss aber, keine Nachrichten über das Kriegsgeschehen zu veröffentlichen.

Neuer Kalter Krieg

Offenbar traf der Kriegsbeginn auch die Zensur unvorbereitet: Es gelang ihr nicht, Anti-Kriegs-Sendungen und eine kritische Berichterstattung über den Angriff auf die Ukraine rechtzeitig zu stoppen. Die renommierte Denkfabrik "Moskauer Carnegy Zentrum" hatte Glück: In einem ihrer letzten Berichte gelang es ihr, die Sitzung des Sicherheitsrates vom 21. Februar zu analysieren und den Beginn eines neuen Kalten Krieges zu konstatieren. Wie schon so oft habe Putin die Opferrolle der Russen betont. Angesichts der Nato-Politik wolle der Kreml-Herrscher Machtpolitik betreiben, schrieb Alexander Baunow. Tatsächlich gehe es Putin aber nur um die Fortsetzung seiner Alleinherrschaft nach 2024. "Ob die russische Gesellschaft da mitspielt?", rätselte Andrej Perzew, Journalist der in Russland verbotenen Internet-Zeitung "Medusa".


„Dieses Mal können wir uns keine Hoffnungen auf westliche Investitionen machen.“
Andrej Mowtschan, Wirtschaftsexperte

"Warum haben die Experten nicht an die Möglichkeit eines militärischen Konflikts mit der Ukraine geglaubt?", fragte Iwan Timofeew, Programmdirektor der regierungsnahen Denkfabrik Russischer Rat für internationale Politik, und gab sich die Antwort gleich selbst: "Angesichts der kolossalen Schäden für Russland konnten wir einfach nicht glauben, dass der Kreml eine so falsche Entscheidung treffen würde", meinte der Wissenschaftler in seiner vielleicht letzten kritischen Analyse. "Dass Russland einen Krieg beginnen werde, habe man in Moskau als eine gezielte Kampagne von Russophoben gewertet, die Russlands Ruf absichtlich zerstören wollen". Timofeew schreibt, im Kriegsfall wäre Russland unzweifelhaft der Aggressor. Daher werde der Kreml mit dem Krieg nur eine "Konsolidierung des Westens" erreichen. Sicherheitspolitisch führe dieser "Konflikt" - Timofeew darf das Wort Krieg nicht verwenden - "zu einer bedeutenden Stärkung der Nato-Militärpräsenz in Osteuropa. Sogar Deutschland hat sich für eine Remilitarisierung entschieden". Damit habe es die Politik des Kremls erreicht, dass die Deutschen ihre "Nachkriegskomplexe" überwinden und zusammen mit der Nato "eine mächtige Militärmacht mit Abschreckungswirkung gegenüber Russland" bilden würden. Selbst wenn Russland die Ukraine besetze, würde der Nato-Beitritt nur hinausgezögert. "Die notwendigen Ausgaben für die Kontrolle der antirussischen Gesellschaft in der Ukraine sowie die Militärausgaben werden mögliche Gewinne in Russland zunichtemachen", betonte der Moskauer Politologe.

Folgen für die Wirtschaft

Noch kritischer fallen die Stimmen der russischen Experten aus, die sich mit den Folgen des Krieges und der Sanktionen für die heimische Wirtschaft beschäftigen. Im Falle eines vollständigen westlichen Embargos auf die russischen Öl- und Gasexporte verliert der Haushalt Einnahmen in Höhe von 280 Milliarden US-Dollar, schätzt Andrej Mowtschan im Interview mit "Novaja gazeta". Kämen weitere Sanktionen hinzu, falle die russische Gesellschaft auf eine Stufe zwischen Venezuela und Iran zurück. Und er schließt nicht aus, dass der Westen den Ölmangel auf den Weltmärkten durch die Aufhebung des Embargos gegen Iran und Venezuela kompensieren wird. Das russische Volk werde nicht verhungern, aber der Rückzug der westlichen Industrie werde verheerende Schäden für die Wirtschaft des Landes haben. Mit früheren Krisen sei die aktuelle Lage nicht zu vergleichen, so Mowtschan. Denn "dieses Mal können wir uns keine Hoffnungen auf westliche Investitionen machen".

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Gewinner der Entwicklung werde die Volksrepublik China sein, betont der Wirtschaftsexperte Wladislaw Inosemzew in der "Novaja gazeta" vom 14. März 2022. Moskau werde gezwungen sein, den Chinesen russisches Öl und Gas zu Ramschpreisen zu verkaufen. Für seine Importe könne Russland nicht mehr bezahlen, da die russischen Banken von der Weltwirtschaft abgetrennt seien. "Alle Autofabriken werden stillgelegt. Aber letztendlich wissen wir noch nicht, wie tief wir fallen. Es geht nur noch abwärts". Einen Binnenmarkt wird Russland weiter haben, "aber die Repressionen werden stärker werden".

Doch wie lange solche kritischen Stimmen zu vernehmen sein werden, ist fraglich: In der vergangenen Woche erklärte Präsident Putin alle, die seine Politik kritisieren, zu "Nationalverrätern" und zur "Fünften Kolonne".