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Andreas Mihm, FAZ-Wirtschaftskorrespondent für Südosteuropa und die Türkei

TÜRKEI

Nie war die türkische Lira billiger, mit 80 Prozent erreicht die amtliche Inflationsrate ein lange nicht gesehenes Niveau, während die Exportwirtschaft von einem Hoch zum nächsten eilt. Verrückte Türkei?

Das Land hat viele Gesichter. Es wird von einem dominiert: dem des seit bald 20 Jahren als Ministerpräsident und Präsident amtierenden Recep Tayyip Erdogan. Seit Einführung des Präsidialsystems 2016 regiert er unumschränkt. Die Justiz fällt, wo es die politische Linie verlangt, willfährige Urteile. Für die Wirtschaft wichtige Institutionen sind auf Linie gebracht.

Das Vertrauen in eine unabhängige, ökonomischem Kalkül folgende Geldpolitik der Notenbank ist weg, nachdem drei Gouverneure gehen mussten, weil sie nicht taten, was Ankara wollte: Niedrige Zinsen, um den Binnenkonsum und die Exportwirtschaft anzukurbeln. Das Ergebnis sind explodierende Preise. Die für Lebensmittel verdoppeln sich im Jahresschnitt, die für Häuser noch mehr. Wer kann, flieht in Sachwerte, Devisen und Gold. Zweimal hat die Regierung den für die Masse der Beschäftigten wichtigen Mindestlohn anheben müssen.

Die Basis des Inflationsschocks war gelegt, bevor die Preise für den Import von Energie und Getreide wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine hochschossen. Dass die Türkei auf die Produkte aus Russland angewiesen ist, wirkt wie ein Brandbeschleuniger.

Erdogans simples Rezept geht nicht auf: Der Anstieg der Exporte um 20 Prozent im ersten Halbjahr 2022 reicht nicht, um den der Importe zu decken. Die Dollarlücke in der Leistungsbilanz wächst wie der Abwertungsdruck auf die Lira. Je weniger die Lira wert ist, desto mehr Lira müssen erwirtschaftet werden, um Dollarschulden zu finanzieren.

Daher sucht der Präsident sein Heil bei Russlands Wladimir Putin und Kreditgeschäften mit Notenbanken im Mittleren Osten und Asien. Er schreckt vor Eingriffen in den Kapitalverkehr nicht zurück. Exporteure müssen einen Teil ihrer Devisen in Lira halten, günstige Firmenkredite in Lira bekommt nur, wer sein Devisenkonto geplündert hat. Anlegern, die Euro, Dollar und Gold in Lira tauschen, wird versprochen, Verluste zum Dollar aus der Staatskasse zu begleichen. Das wird ein teures Vergnügen für die Steuerzahler.

Erdogans Karriere gründet auf Wirtschaftspolitik, der Zusage, die Inflation zu bändigen und die Mittelschicht zu stärken. Er ließ Autobahnen und Flughäfen bauen, Industriezentren entstehen; er hat das Land modernisiert und attraktiv für Investoren gemacht.

Die schätzen niedrige Löhne, das Potenzial junger Leute und ausgebildeter Fachkräfte, die Nähe zu Europas Märkten (mit denen die Türkei die Hälfte ihres Handels abwickelt), insbesondere wenn die Lieferketten nach Asien wieder einmal brechen. Doch die Skepsis wächst. Bei einer Umfrage der deutsch-türkischen Handelskammer äußerten sich die meisten Betriebe zurückhaltend zu den Geschäftschancen. Ein Hemmnis sei die wechselhafte Wirtschaftspolitik des Präsidenten.

Der preist das islamische Finanzsystem und streichelt die Seele der sich von ihm abwendenden Wähler, indem er die internationale Landesbezeichnung "Turkey" durch "Türkiye" ersetzen lässt. Die Gleichsetzung mit "Truthahn" beleidige das Land. Viele Türken wären froh, könnten sie sich einen Truthahn auf dem Teller leisten.

Der Autor ist Wirtschaftskorrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" für Südosteuropa und die Türkei.

Aus Politik und Zeitgeschichte

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