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Interview zur Grundsicherung : "Es reicht noch nicht"

Grünenpolitiker Wolfgang Strengmann-Kuhn fordert eine neue Art der Berechnung der Regelsätze in der Grundsicherung. Das sei trotz des Inflationsausgleichs nötig.

17.10.2022
2023-11-27T15:13:39.3600Z
5 Min

Herr Strengmann-Kuhn, Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit dem Thema Armut und fordern, dass soziale Sicherungssysteme armutsfest sein müssen. Wie groß waren Ihre Bauchschmerzen bei der Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung?

Wolfgang Strengmann-Kuhn: Ich habe das aus politischer und aus wissenschaftlicher Perspektive sehr kritisch gesehen. Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe war richtig, aber man hätte es besser und sozialer machen und damals auch schon mit einem Mindestlohn verknüpfen müssen. Das ist leider nicht passiert. Deswegen habe ich mich über die Forderung im Koalitionsvertrag nach Überwindung von "Hartz IV" gefreut und mich auch dafür stark gemacht.

Foto: Deutscher Bundestag/Achim Melde

Der Regelsatz ist insgesamt zu gering und die Berechnung muss so umgebaut werden, dass er existenzsichernd ist, sagt der Sozialexperte der grünen Fraktion, Wolfgang Strengmann-Kuhn.

Mit dem Bürgergeld soll ein "Sozialstaat auf Augenhöhe" geschaffen werden. Reicht es dafür, auf die Sanktionsdrohungen in den Anschreiben zu verzichten?

Wolfgang Strengmann-Kuhn: Das ist ein Baustein. Aber wir verändern grundsätzlich die Systematik des Umgangs miteinander. Das fängt mit dem Kooperationsplan an, der am Anfang erstellt wird. Gemeinsam sollen die Kunden und Arbeitsvermittler überlegen, was sinnvoll und notwendig ist, um den Bürgergeldbezug wieder zu überwinden. Danach beginnt die sechsmonatige "Vertrauenszeit" - weitgehend ohne Sanktionen. Im Moment gibt es viel Misstrauen und ein wesentliches Ziel der Bürgergeld-Reform ist, beidseitiges Vertrauen aufzubauen.

Was unterscheidet den Kooperationsplan von der jetzigen Eingliederungsvereinbarung?

Wolfgang Strengmann-Kuhn: Die Eingliederungsvereinbarung kann einseitig vorgegeben werden und der Kunde oder die Kundin muss sie dann unterschreiben. Das ist beim Kooperationsplan nicht mehr so. Können sich Arbeitssuchende und Arbeitsvermittler nicht einigen, soll erstmal einen Mechanismus greifen, um zu vermitteln. Das neue System ist wirklich auf Kooperation aufgebaut, während die Eingliederungsvereinbarung teilweise ein einseitiger und kaum verständlicher Verwaltungsakt war.

Arbeitgeberverbände kritisieren die entschärften Sanktionen als fehlenden Anreiz, sich ernsthaft um eine neue Arbeit zu bemühen.

Wolfgang Strengmann-Kuhn: Es ist eine grundsätzlich falsche Annahme, dass Menschen nur deswegen eine Arbeit aufnehmen oder eine Weiterbildung machen, weil sie mit Sanktionen bedroht werden. Dahinter steckt ein fragwürdiges Menschenbild. Die überwiegende Mehrheit ist motiviert, für den eigenen Lebensunterhalt zu sorgen. Auf diese Motivation setzen wir. Deswegen soll es künftig unter anderem ein Weiterbildungsgeld geben und das hinzuverdiente Einkommen soll weniger angerechnet werden. Insgesamt führt das neue System zu mehr Motivation und besserer Arbeitsvermittlung.


„Die Löhne müssen so hoch sein, dass man nicht noch Bürgergeld beziehen muss. “
Wolfgang Strengmann-Kuhn (Bündnis 90/Die Grünen)

Ihre Partei möchte eigentlich ein Ende jeglicher Sanktionen. Wie viel von der grünen Garantiesicherung steckt im neuen Bürgergeld?

Wolfgang Strengmann-Kuhn: Was das Verhältnis von Jobcentern zu den Betroffenen angeht, steckt da eine Menge von unserem Konzept drin. Das wollten wir insgesamt neu aufstellen und da waren wir uns in der Koalition auch einig. Ansonsten werden zwar Sanktionen nicht komplett abgeschafft. Aber die meisten Bürgergeld-Beziehenden werden nach den geplanten Neuregelungen überhaupt nichts damit zu tun haben. Momentan steht auf jedem Schreiben grundsätzlich eine Sanktionsandrohung unten drunter, künftig soll das erst nach mehrfachen Termin- oder Mitwirkungsverweigerungen so sein und dann können auch Sanktionen verhängt werden.

Sie sind schon lange ein Verfechter des Grundeinkommens. Warum lohnt es sich, für diese Idee zu streiten?

Wolfgang Strengmann-Kuhn: Zunächst einmal ist das Bürgergeld keineswegs so etwas wie ein bedingungsloses Grundeinkommen, wie es derzeit öfter behauptet wird. Es bleibt eine bedürftigkeitsgeprüfte Grundsicherung, die beantragt werden muss. Das Grundeinkommen ist dagegen die Idee, dass Menschen eine finanzielle Leistung bekommen, ohne dass sie sich als bedürftig erklären müssen. Der Vorteil ist, dass die Hürden, die es im jetzigen Sozialsystem gibt, abgeschafft werden und allen Menschen das Existenzminimum garantiert wird, was ja im Übrigen ein Grundrecht ist. Verdeckte Armut wird dadurch deutlich reduziert, vielleicht sogar ganz beseitigt. Ich glaube, dass es die Gesellschaft und die Arbeitswelt positiv verändern würde. Deswegen steht das für uns Grüne als Leitidee nach wie vor auf der Agenda.

Die Gesellschaft lebt seit Jahren in einem Ausnahmezustand, erst Corona, dann Ukraine-Krieg und Inflation. Das sind nicht gerade gute Voraussetzungen, um diese Idee umzusetzen, oder?

Wolfgang Strengmann-Kuhn: Im Gegenteil: Gerade die Corona-Krise hat gezeigt, wie gut es gewesen wäre, wenn es ein Grundeinkommen gegeben hätte und dadurch bestimmte Berufsgruppen wie Künstler abgesichert gewesen wären. Auch bei den Entlastungspaketen hatten wir Mühe, dafür zu sorgen, dass wirklich alle, die es brauchen, Hilfe bekommen. Wenn es bereits ein Grundeinkommen gegeben hätte, dann hätten wir diesen Auszahlmechanismus schon, der jetzt erst mühsam geschaffen werden muss.

Foto: Stefan Kaminski
Wolfgang Strengmann-Kuhn
Der Volkswirt Wolfgang Strengmann-Kuhn (Bündnis 90/Die Grünen) ist seit 2008 Mitglied des Bundestages und dort für Renten-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zuständig. Derzeit ist er Obmann seiner Fraktion im Ausschuss für Arbeit und Soziales.
Foto: Stefan Kaminski

Mit dem Bürgergeld werden auch die Regelsätze deutlich angehoben. Sozialverbände wie Ökonomen kritisieren, dass auch dies wieder nicht armutsfest ist.

Wolfgang Strengmann-Kuhn: Bei der geplanten Anhebung geht es um einen Inflationsausgleich. Der beseitigt aber nicht das grundsätzliche Problem: Der Regelsatz ist insgesamt zu gering und die Berechnung muss so umgebaut werden, dass er existenzsichernd ist. Ein paar finanzielle Verbesserungen gibt es immerhin. So werden Erwerbseinkommen weniger angerechnet, für Kinder gibt es schon seit dem 1. Juli 20 Euro im Monat mehr, in Weiterbildungsphasen gibt es 150 Euro im Monat mehr. Für bestimmte Gruppen bewegen wir uns also in Richtung armutsfeste Leistungen. Aber das reicht noch nicht.

Der Niedriglohnsektor hat sich seit der Agenda 2010 auf einem Niveau von zirka 20 Prozent verfestigt. Das Problem wird seit Jahren beklagt - ohne Folgen.

Wolfgang Strengmann-Kuhn: Es war explizit ja Ziel von Gerhard Schröder, Wolfgang Clement und anderen, den Niedriglohnsektor auszuweiten. Mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 wurde auf die krassesten Auswüchse reagiert. Noch wichtiger ist: Wir wollen die Tarifbindung verbessern durch ein Tariftreuevergabegesetz, das die Vergabe öffentlicher Aufträge an die Tarifbindung regelt. Das ist in Vorbereitung, damit mehr tarifgebundene Beschäftigung entsteht. Die Löhne müssen so hoch sein, dass man nicht noch Bürgergeld beziehen muss.

Was bedeutet Armut für Menschen?

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Wolfgang Strengmann-Kuhn: Armut bedeutet, dass Menschen aufgrund fehlenden Einkommens vom normalen gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen sind. Für Kinder ist das besonders schwierig, weil es den ganzen Lebensverlauf prägt, wenn sie in Armut aufwachsen. Aber es ist auch für Erwachsene ausgrenzend, wenn sie sich zum Beispiel keinen Gaststätten- oder Kinobesuch mehr leisten können, denn das gehört zum normalen Leben dazu. Deswegen sollte das Ziel sein, dass jeder Mensch am normalen Leben teilhaben kann und das ist auch möglich.

Viele Menschen, die Anspruch auf Sozialleistungen hätten, nehmen diese nicht in Anspruch, aus Scham oder wegen der umständlichen Beantragung. Erwarten Sie eine spürbare Veränderung mit dem Bürgergeld?

Wolfgang Strengmann-Kuhn: Ja, denn wir bauen Stigmatisierungen ab und auch bürokratische Hürden, indem wir in den ersten zwei Jahren Vermögen und Wohnung nicht antasten. Aber wir müssen noch mehr für die Information tun, denn viele Menschen wissen gar nicht, dass sie Hilfe bekommen könnten, gerade auch Erwerbstätige mit geringem Verdienst.