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Bürgergeld : Gereizte Stimmung

Koalition und Opposition liefern sich hitzige Wortgefechte um die Sozialreform.

17.10.2022
2024-03-14T15:21:03.3600Z
5 Min

Harz IV erhitzt die Gemüter, seit es diese Grundsicherung gibt. Und offensichtlich hat das Bürgergeld ähnliches Erregungspotenzial. Als am vergangenen Donnerstag unter der Reichstagskuppel erstmals der Gesetzentwurf der Bundesregierung für die Einführung des Bürgergeldes beraten wurde, sah sich Bärbel Bas (SPD) als Bundestagspräsidentin und Sitzungsleiterin veranlasst, die erhitzten Gemüter zu beruhigen. Eigentlich sprach gerade Kai Whittaker für die Union und zerpflückte das Vorhaben der Ampel, als es Andreas Audretsch in den Reihen der Grünen nicht mehr auf dem Sitz hielt. Er durfte eine Zwischenfrage stellen, die aber keine Frage, sondern eher eine Anklage in Richtung Union war: "Sie verbreiten Lügen, Sie verbreiten Hetze mit Begriffen wie Sozialtourismus und biedern sich rechts bei der AfD an." Audretsch ging es dabei um die Sanktionen und die Behauptung, das Bürgergeld sei in bedingungsloses Grundeinkommen. Nach der Erwiderung des CDU-Abgeordneten appellierte Bas an alle: "Wir sollten darauf achten, uns nicht gegenseitig Hetze vorzuwerfen. Draußen machen die Menschen gerade harte Zeiten durch und da spielt es eine große Rolle, wie wir hier miteinander diskutieren."

Foto: picture-alliance/dpa/Michael Kappeler

Hubertus Heils (SPD) Ministerium hat Tempo gemacht bei der Reform der Grundsicherung. Im Januar soll das Bürgergeld kommen.

Mit ihrem Bürgergeld-Gesetz, nach Koalitionsaussagen die größte sozialpolitische Reform seit vielen Jahren, möchte die Ampel-Regierung "Hartz IV hinter sich lassen". Geplant sind unter anderem eine "Kooperation auf Augenhöhe" zwischen Arbeitssuchenden und Jobcenter-Mitarbeitern, die Einführung einer zweijährigen Karenzzeit, in der das Vermögen und die Angemessenheit der Wohnung nicht überprüft werden, die Stärkung von Weiterbildung durch finanzielle Anreize. Außerdem soll der Soziale Arbeitsmarkt verstetigt und Sanktionen deutlich abgemildert werden. Die monatlichen Regelleistungen werden um einen Inflationsausgleich deutlich angehoben.

Streit um Fachkräftemangel

Für die Union, aber auch für die anderen Oppositionsfraktionen, sind diese Pläne allerdings vor allem ein Grund zur Aufregung. So kritisierte Kai Whittaker (CDU): "Wir haben kein Problem mit der Regelsatz-Erhöhung, sondern mit dem, was drum herum passiert. Es interessiert Sie gar nicht mehr, ob sich jemand ernsthaft um Arbeit bemüht!" In Bezug auf die sechsmonatige "Vertrauenszeit", die weitgehend ohne Sanktionen auskommen soll, ergänzte er, je länger die Arbeitslosigkeit dauere, desto schwerer werde der Wiedereinstieg. "Sie wollen den Menschen helfen, schaden ihnen aber nur." Der Fachkräftemangel werde so nicht behoben.

Mit ihrer Kritik brachte die Union nicht nur die Grünen, sondern auch die FDP richtig auf die Palme. So erwiderte Jens Teutrine: Das bisherige Arbeitslosengeld II, an dem die Union so gerne festhalten wolle, habe ebenfalls keine Lösung für das Fachkräfteproblem gehabt. Er warf der Union vor, einerseits einen Inflationsausgleich bei den Regelsätzen zu unterstützen, dann wieder gegen höhere Regelsätze zu wettern. Außerdem stimme es schlicht nicht, dass es künftig keine Sanktionen mehr gebe. "Hören Sie auf, auf Grundlage falscher Fakten Stimmung zu machen! Das ist brandgefährlich", empörte sich Teutrine.

Ähnlich empört, wenn auch aus der anderen Richtung, äußerte sich Jessica Tatti (Die Linke): Sie kritisierte, dass es eben keine echte Erhöhung der Regelsätze, sondern nur einen Inflationsausgleich gebe. Auch die Pläne für einen Sozialen Arbeitsmarkt und Weiterbildung seien "Verarsche auf dem Rücken der Langzeitarbeitslosen", wenn gleichzeitig die Mittel dafür gestrichen würden.


„Ausbildung statt Aushilfsjob - das ist der bessere Weg.“
Hubertus Heil (SPD)

Gerrit Huy (AfD) betonte, dass zu viele erwerbsfähige Menschen Grundsicherungsleistungen bekämen. Das löse auch das Bürgergeld nicht. Sie verwies auf verschiedene Nachbarländer mit deutlich schärferen Sozialleistungs-Auflagen, in denen diese Quote deutlich geringer sei. "Wir wollen nicht, dass Arbeitende die Dummen sind", sagte sie.

Aus Sicht der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen sind sie das auch nicht. Aber Menschen in Not müssten unbürokratische Hilfe bekommen, das Bürgergeld erneuere das "Schutzversprechen des Sozialstaates", entgegnete Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD). Zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen hätten keine abgeschlossene Berufsausbildung und das jetzige System habe sie nur hin und wieder in eine Maßnahme vermittelt. "Ausbildung statt Aushilfsjob - das ist der bessere Weg", bekräftigte er.

Individuelle Hilfen

Ähnlich argumentierte Beate Müller-Gemmeke (Grüne): Langzeitarbeitslose bräuchten neue Chancen und neue Perspektiven. "Dieser Perspektivwechsel ist uns besonders wichtig." Denn auf die unterschiedlichen individuellen Gründe für Langzeitarbeitslosigkeit habe Hartz IV nur eine Antwort gekannt, nämlich "Aktivierung". Bei verschiedenen Vermittlungshemmnissen helfe das aber nicht, erläuterte die Grüne.

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Dagmar Schmidt (SPD) verteidigte die Karenzzeit zu Beginn des Bürgergeld-Bezugs. Es sei gut, dass sich Menschen auf ihre Jobsuche konzentrieren könnten und sich nicht auch noch um ihre Wohnung sorgen müssten. Das Bürgergeld unterstütze die Menschen nicht mehr "von der Stange", sondern individuell. "Es geht nicht mehr um schnelle Vermittlung in irgendeine Arbeit, sondern um nachhaltige Vermittlung in gute Arbeit."