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Wo politischer Streit geschlichtet wird : Die Schlichter der Nation sitzen im Vermittlungsausschuss

In den vergangenen Jahren hatte der Vermittlungsausschuss eher wenig zu tun. Das war nicht immer so. Früher hat es lange Sitzungen und viele Streitpunkte gegeben.

28.11.2022
2024-02-16T16:08:40.3600Z
7 Min

Dezember 2003: Im Streit um die "Agenda 2010" von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) verständigt sich der Vermittlungsausschuss in einer neunstündigen Nachtsitzung auf einen Kompromissvorschlag zur Einführung des Arbeitslosengeldes II; noch in derselben Woche billigen der Bundestag, in dem Rot-Grün die Mehrheit hat, und der unionsdominierte Bundesrat die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe (Hartz IV) mit verschärften Zumutbarkeitsregeln für Langzeitarbeitslose.

Bei den Hartz-Gesetzen habe man "eine Woche jede Nacht bis morgens um halb fünf getagt", während "die Journalisten draußen, die uns belagert hatten", auf dem Fußboden schliefen, sollte sich der damalige Vorsitzende des Vermittlungsausschusses und Bremer Regierungschef Hennig Scherf (SPD) gut anderthalb Jahrzehnte danach noch in einem Interview erinnern.

Foto: Bundesrat/Sascha Radke

Der Vermittlungsausschuss verhandelte vergangene Woche über das neue Bürgergeld.

19 Jahre später wurde jetzt um eine Nachfolgeregelung für Hartz IV gestritten, nachdem die Union im Bundesrat das von der Ampel-Koalition im Bundestag beschlossene Bürgergeld blockiert hatte. Diesmal rief die Bundesregierung den Vermittlungsausschuss an, um einen Einigungsvorschlag zu erarbeiten. Als das Schlichtungsgremium vergangenen Mittwoch zusammentrat, war es zugleich seine Konstituierende Sitzung in der laufenden Legislaturperiode des Bundestages. Zuletzt hatte der Ausschuss am 6. September 2021 getagt, da ging es um die Ganztagsförderung von Kindern im Grundschulalter.

Gremium erarbeitet Kompromisse bei Streit zwischen Bundestag und Bundesrat

Aufgabe des Vermittlungsausschusses ist es, bei Streit zwischen Bundestag und Bundesrat über Gesetzesbeschlüsse des Parlaments Kompromissvorschläge zu erarbeiten. Da geht es nicht selten um die ganz großen Themen, die Einführung der Pflegeversicherung 1994 etwa oder eben "Hartz IV", gerne auch um Finanzfragen zwischen Bund und Ländern. Es gab es Zeiten, in denen der Vermittlungsausschuss fast als das entscheidende Beschlussgremium der Republik in wichtigen Streitfragen wirkte, obwohl die Runde nur Empfehlungen erarbeiten kann.

In anderen Jahren wurde er dagegen gar nicht oder kaum angerufen. Das ist letztlich eine Frage der Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat. Sind die gegensätzlich, ist eine häufige Anrufung des Vermittlungsausschusses wahrscheinlicher als bei einer Mehrheit der jeweiligen Regierungskoalition sowohl im Parlament als auch in der Länderkammer, in der die 16 Landesregierungen sitzen.

Besonders oft wurde der Ausschuss zwischen 2002 und 2005 angerufen

In der zurückliegenden Wahlperiode von 2017 bis 2021, in der Union und SPD die Bundesregierung stellten, wurde der Ausschuss sieben Mal angerufen. In der Wahlperiode davor, in der ebenfalls die Große Koalition im Bund regierte, gab es gar nur drei Anrufungen, so wenig wie in keiner anderen Wahlperiode. Ähnlich wenige waren es zwischen 1983 und 1987 mit sechs Anrufungen. Höchstwerte wurden zwischen 1972 und 1976 unter der sozialliberalen Bundesregierung erzielt, als der Ausschuss 96 Mal zu Gesetzesbeschlüssen des Bundestages angerufen wurde, sowie in der verkürzten Wahlperiode von 2002 bis 2005, in der Rot-Grün ein unionsdominierter Bundesrat gegenüberstand und die Vermittler 100 Mal zu Gesetzesbeschlüssen angerufen wurden.

Laut Grundgesetz-Artikel 50 wirkt der Bundesrat bei der Gesetzgebung des Bundes mit, weshalb jedes vom Bundestag beschlossene Gesetz auch durch die Länderkammer muss. Manche Gesetze bedürfen deren expliziten Zustimmung; wozu die absolute Mehrheit von 35 der insgesamt 69 Länder-Stimmen erforderlich ist; bei den anderen kann sie lediglich Einspruch einlegen.

Unterscheidung: Zustimmungsgesetz oder Einspruchsgesetz

Deshalb wird zwischen "Zustimmungsgesetzen" und "Einspruchsgesetzen" unterschieden. Zustimmungsgesetze sind neben Grundgesetzänderungen, die sogar der Zustimmung einer Zweidrittelmehrheit des Bundesrates (und Bundestages) bedürfen, solche Gesetze, die sich auf die Länderfinanzen auswirken oder für deren Umsetzung in die Organisations- und Verwaltungshoheit der Länder eingegriffen wird. In den Jahren nach der Föderalismusreform von 2006 bis zum Beginn der laufenden Legislaturperiode 2021 traf dies auf rund 38 Prozent der Bundesgesetze zu.

Der Bundesrat kann aber - wiederum mit absoluter Mehrheit - zu jedem Gesetzesbeschluss des Bundestages den Vermittlungsausschuss anrufen. Erst nach einem Vermittlungsverfahren kann er gegebenenfalls Einspruch gegen eine Gesetzesvorlage einlegen, den der Bundestag indes mit gleichfalls absoluter Mehrheit zurückweisen kann. Beschließt der Bundesrat den Einspruch mit Zweidrittelmehrheit, ist auch für die Zurückweisung eine Zweidrittelmehrheit erforderlich.

Bei Zustimmungsgesetzen hat der Bundesrat eine deutlich stärkere Stellung

Bei den Zustimmungsgesetzen hat der Bundesrat eine deutlich stärkere Stellung, denn ohne sein Plazet kommt das Gesetz nicht zustande. Findet sich in der Länderkammer keine 35-Stimmen-Mehrheit für die Zustimmung, ist das Vorhaben gescheitert - aber nicht sofort. Denn bei diesen Gesetzen können auch Bundesregierung und Bundestag den Vermittlungsausschuss anrufen - so wie jetzt die Bundesregierung beim Bürgergeld.

Zu einem zustimmungspflichtigen Gesetzesvorhaben kann es also bis zu drei Vermittlungsverfahren geben, beantragt jeweils von Bundesrat, Bundestag oder Bundesregierung. Zwei Anrufungen bei einem Gesetz gab es zuletzt in der Wahlperiode von 2009 bis 2013; zu drei Anrufungen bei einem Gesetz ist es in der Geschichte der Bundesrepublik nur fünf Mal gekommen, zuletzt in der Wahlperiode von 1994 bis 1998. Seit 1949 wurde der Vermittlungsausschuss in 904 Gesetzgebungsverfahren angerufen, davon in rund 88 Prozent der Fälle vom Bundesrat, in zehn Prozent von der Bundesregierung und in zwei Prozent vom Bundestag.

Die vom Bundesrat entsandten Mitglieder sind nicht an Weisungen gebunden 

Seine Grundlage hat der Vermittlungsausschuss, im Politjargon kurz "VA" genannt, im Grundgesetz-Artikel 77, der einen "aus Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates für die gemeinsame Beratung von Vorlagen gebildeten Ausschuss" vorsieht. Dort ist auch festgelegt, dass die vom Bundesrat entsandten Mitglieder, die ja einer der 16 Landesregierungen angehören, nicht an Weisungen gebunden sind - was für Bundestagsabgeordnete laut Artikel 38 ohnedies gilt. Ohne diese Weisungsfreiheit wäre die Kompromissfindung deutlich erschwert.

Manuela Schwesig (SPD) ist derzeit Vorsitzende des Vermittlungsausschusses.   Foto: picture alliance/SZ Photo/Mike Schmidt

Insgesamt gehören dem Ausschuss je 16 Mitglieder von Bundesrat und Bundestag an und ebenso viele Stellvertreter. Die 16 Mitglieder des Bundestages verteilen sich auf dessen Fraktionen entsprechend ihrem Stärkeverhältnis, während auf der Bundesrats-Seite jede Landesregierung je ein Mitglied entsendet. Mit Ausnahme von Bayern und Brandenburg handelt es sich dabei aktuell um die jeweiligen Regierungschefs; von den Bundestagsabgeordneten im Ausschuss gehören je vier der SPD- oder der CDU/CSU-Fraktion an und drei der Grünen-Fraktion, während FPD und AfD je zwei Mitglieder stellen und Die Linke ein Mitglied.

Die stellvertretenden Mitglieder dürfen an den Sitzungen nur teilnehmen, sofern eine Vertretung notwendig ist. Sowohl die ordentlichen als auch die stellvertretenden Mitglieder können abberufen werden, aber ein solcher Wechsel ist nur viermal innerhalb einer Legislaturperiode des Bundestages zulässig.

Der Vorsitzende muss darauf dringen, dass lange Redebeiträge nicht ausarten.

Zu seinen Vorsitzenden wählt der Ausschuss je ein Mitglied des Bundestages und des Bundesrates, die sich im Vorsitz vierteljährlich abwechseln und einander vertreten. Vergangene Woche übernahm neben Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD), die schon in der letzten Wahlperiode den Vorsitz innehatte, der CDU-Bundestagsabgeordnete Hendrik Hoppenstedt den Job, der fordernd und lockend zugleich ist. Der Vorsitzende müsse darauf dringen, dass lange Redebeiträge nicht ausarten, resümierte Scherf, und man dürfe "nie kränken, man muss es fröhlich halten".

Große Chance, auf Inhalte Einfluss zu nehmen

Der frühere Bundestagsabgeordnete und langjährige Ausschussvorsitzende Heribert Blens (CDU) formulierte es vor Jahren in einem Interview so: Man müsse "versuchen, das Klima einigermaßen freundlich zu halten, was nicht immer einfach ist". Das könne die Kompromissbereitschaft vergrößern. Wichtig sei zudem, dass der Vorsitzende "in der Sache drin ist", da er sonst keine vernünftigen Vorschläge machen könne. Für Blens besteht in dem Ausschuss für einen Parlamentarier "die größte Chance, auf die Inhalte von Politik Einfluss zu nehmen". Als Ausschussvorsitzender habe man da "manchmal mehr Möglichkeiten als mancher Minister".

Für Beschlüsse des Gremiums ist die einfache Mehrheit erforderlich; also mehr Ja- als Nein-Stimmen. Um beschlussfähig zu sein, müssen im Ausschuss mindestens zwölf Mitglieder anwesend sein; ein Einigungsvorschlag kann nur in Anwesenheit von mindestens je sieben Mitgliedern der Bundestags- als auch der Bundesratsseite beschlossen werden.

Die Sitzungen des Vermittlungsausschusses sind nicht öffentlich; es gilt der Grundsatz der Vertraulichkeit, die sich auch auf die Sitzungsprotokolle erstreckt. Allerdings beschließt der Ausschuss regelmäßig zu Beginn einer Wahlperiode die Freigabe der Protokolle aus der jeweils vorletzten Legislaturperiode für die Öffentlichkeit. Teilnehmen dürfen an den Sitzungen lediglich die Ausschussmitglieder oder - wenn diese verhindert sind - ihre Stellvertreter sowie die Mitglieder der Bundesregierung. Hinzu kommen der Geschäftsführer, Mitarbeiter der Geschäftsstelle und zwei Stenografen. Eine Teilnahme weiterer Personen muss vom Ausschuss ausdrücklich beschlossen werden.

In Bonn hielten die beteiligten Politiker Kontakt über eine Feuertreppe

Auch diese Begrenzung des Teilnehmerkreises sowie der Möglichkeit der Abberufung von Ausschussmitgliedern soll der Vertraulichkeit dienen, um die Kompromisssuche zu erleichtern. Die oft vor den Türen wartenden Journalisten sind da aus Teilnehmersicht bisweilen eher störend: "Es war nicht immer sehr fruchtbar, dass die jeden ansprachen, der pinkeln ging", erinnerte sich Heribert Blens. Jeder Politiker wolle dann auch etwas sagen, "und das erschwert manchmal die Kompromissfindung." In Bonn, wo Besprechungsräume der schwarz-gelben Koalition und der SPD übereinander lagen, habe man deshalb über eine Feuertreppe, die beide Räume verband, Kontakt gehalten, ohne dass die Journalisten es merkten.

Es gibt auch "unechte" Vermittlungsergebnisse, bei denen eine Seite die andere überstimmt.

Nicht immer kann sich der Ausschuss auf einen Kompromiss verständigen. Dann kann das Vermittlungsverfahren zu einem Gesetz frühestens nach drei ergebnislosen Einigungsversuchen beendet werden, wobei sich ein "Einigungsversuch" auch über mehrere Sitzungen hinziehen kann. Daneben gibt es auch "unechte" Vermittlungsergebnisse, bei denen eine Seite die andere überstimmt. Bestätigt der Einigungsvorschlag den Gesetzesbeschluss des Bundestages, braucht dieser keinen erneuten Beschluss dazu fassen, während der Bundesrat zu entscheiden hat, ob er der Vorlage die Zustimmung verweigert beziehungsweise Einspruch einlegt.

Schlägt der Vermittlungsausschuss dagegen Änderungen des Bundestagsbeschlusses vor, haben hierüber erst die Abgeordneten zu entscheiden. Dabei stimmen sie nur über den Einigungsvorschlag ab; andere Anträge zur Sache sind unzulässig. Billigen sie die Kompromissempfehlung, hat die Länderkammer über den so geänderten Gesetzesbeschluss zu entscheiden. Am Freitag fand so auch das Bürgergeld den Weg über die parlamentarischen Hürden.

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In acht von neun Fällen schlichtete der Vermittlungsausschussschuss übrigens erfolgreich: Seit 1949 konnten bislang 800 Gesetze, bei denen er vermittelt hatte, auch tatsächlich verkündet werden; 109 blieben indes auf der Strecke.