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Editorial : Gefühlte Wirklichkeit

Trügerische Wahrnehmungen sind gefährlich. Dies betrifft nicht nur den Fußballstandort Deutschland.

28.11.2022
2024-01-12T13:48:49.3600Z
2 Min

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) eine verschwommene Wahrnehmung der Wirklichkeit vorgeworfen. Die Suche nach der richtigen Wahrnehmung erscheint gerade als Herausforderung, nicht nur bei der Bewertung der Bundespolitik im Plenarsaal. Da gibt es auch die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar, die nicht mehr als Sportereignis, sondern als Politikum wahrgenommen wird. Statt den Toren auf dem Platz gehört die Aufmerksamkeit der für den Spitzensport zuständigen Innenministerin Nancy Faeser (SPD) mit One-Love-Armbinde auf der Tribüne. Viele Fußballfans reagieren auf diese WM ähnlich rat- und emotionslos, wie schon 2018 in Russland. Gefühlt fand das letzte Fußballfest in Brasilien statt, und wir sind immer noch Weltmeister.

Riesiger Schuldenberg

Trügerische Wahrnehmungen sind gefährlich. Dies betrifft nicht nur den Fußballstandort Deutschland, der übrigens in zwei Jahren eine Europameisterschaft ausrichten soll. Kein Gas mehr, Arbeitslosigkeit, Absturz: Gemessen an diesen düsteren Prognosen von vor einigen Monaten fühlt sich die Lage in diesen Novembertagen geradezu gut an. Der nun beschlossene Haushalt für 2023 zeigt aber auch die Bedrohung, denn die Lage wurde durch einen noch vor kurzem kaum vorstellbaren Schuldenberg erkauft.

Eine Folge: Der Bundestag musste im Haushalt 10 Milliarden Euro mehr für Zinsen einplanen, 39,8 Milliarden Euro gehen im Jahr 2023 an Deutschlands Kreditgeber, 2021 waren es noch 3,8 Milliarden Euro. Die Bundesregierung gibt damit künftig mehr Geld für Zinsen und Co. aus, als die Etats für Bildung und Forschung sowie Familie und Jugend zusammen zur Verfügung haben. Selbst die in einem Kraftakt von Finanzminister Christian Lindner (FDP) erreichte Einhaltung der Schuldenbremse im Haushalt kann mit Blick auf die wahre Lage trügerisch wirken. Die Bremse erlaubt schlicht mehr Schulden, je schlechter es dem Land geht.

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Welche Wahrnehmung denn jetzt die richtige ist, hängt also sehr vom Standpunkt ab. Was der Oppositionsführer als "unangenehme Wahrheiten" formuliert, ist für den Bundeskanzler "blanker Unsinn". Klar scheint aber eins: Der Sieger von Doha wird am Ende tatsächlich Weltmeister sein und die Schulden im Haushalt von heute müssen in Zukunft tatsächlich zurückgezahlt werden.