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Russland verstört die Nachbarn : Osteuropa rechnet mit einer Flüchtlingswelle

Von der EU erwarten die Staaten Osteuropas ein geschlossenes Handeln gegen das imperiale Gebaren des Kremls.

21.02.2022
2024-02-26T11:52:53.3600Z
6 Min
Foto: picture-alliance/dpa/Philipp Schulze

Verlegung von Panzerhaubitzen der Bundeswehr aus der Hindenburg-Kaserne in Munster (Lüneburger Heide) nach Litauen: Deutschland entsendet seit dem 14. Februar rund 350 Soldatinnen und Soldaten mit etwa hundert Fahrzeugen und unterschiedlichen Waffensystemen ins Baltikum.

Vier Turnhallen hat die Stadt Elblag an der Ostsee für die Kriegsflüchtlinge bereitgestellt, 250 Schlafplätze insgesamt. Olsztyn (Alleinstein) in den Masuren will die Ukrainer im Hotel "Relax" willkommen heißen. Bei einem größeren Ansturm würden weitere Schulgebäude bereitgestellt, heißt es in der Gemeinde.

Nur 48 Stunden hatten Polens Lokalverwaltungen im Angesicht einer drohenden russischen Invasion in der Ukraine Zeit, um bei der Zentralregierung in Warschau erste Unterbringungsmöglichkeiten für ukrainische Flüchtlinge anzumelden.

Ukraine rechnet mit bis zu sechs Millionen Flüchtlingen

Insgesamt rechnet die Regierung mit ein bis zwei Millionen Ukrainern, die nach Polen flüchten könnten, sollte es zu einer Invasion kommen. Seit Sommer 2017 brauchen Besitzer eines biometrischen Reisepasses kein Visum mehr und können sich bis zu 90 Tage lang legal in Polen und damit auch im gesamten Schengenraum aufhalten.

 Laut ukrainischen Schätzungen könnten insgesamt fünf bis sechs Millionen Bürger bei einer Besetzung durch Russland in die EU fliehen. Viele von ihnen würden das benachbarte Polen als erstes Zielland wählen, denn hier leben bereits bis zu zwei Millionen ukrainische Gastarbeiter. In polnischen Großstädten sind die Fahrkartenautomaten des öffentlichen Verkehrs daher neben Englisch auch auf Ukrainisch beschriftet, viele Dienstleister-Hotlines bieten Ukrainisch im Sprachmenü an. Auch in den drei baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland, aber auch im slawisch-sprachigen Tschechien und der Slowakei, leben viele Ukrainer; sie gelten dort als zuverlässige Arbeiter und leicht integrierbare Mitbürger.

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Besonders eng sind allerdings die polnisch-ukrainischen Beziehungen. Sie begannen nicht erst mit der Waffenbrüderschaft im Warschauer Pakt zu Sowjetzeiten, sondern reichen weit in die Vergangenheit zurück. Für das nach den Teilungen nach mehr als hundert Jahren wieder auferstandene Polen ist die "Rzeczpospolita" (1569-1791), die polnisch-litauische Adelsrepublik, die auch weite Teile der heutigen Ukraine und Belarus umfasste, der Angelpunkt seiner Ostpolitik. In anti-kommunistischen Dissidentenkreisen wurde lange vor der Wende von 1989 eine enge Freundschaft eines freien, demokratischen Polens mit den Nachbarn im Osten, den in spe freien Ex-Sowjetrepubliken Litauen, Belarus und Ukraine, propagiert. In ähnlichem Ton hatte sich Mitte des 19. Jahrhunderts bereits der ukrainische Nationaldichter Taras Schewtschenko an die Polen gewandt.

Es war deshalb kein Zufall, dass Polen Ende August 1991 als erstes Land der Welt die Unabhängigkeit der Ukraine anerkannte. Warschau war damit ein paar Stunden schneller als Kanada mit seiner ebenfalls großen ukrainischen Diaspora. Trotz vieler historischer Probleme und Ressentiments, ethnisch motivierten Gräueltaten und Vertreibungen in der polnisch-ukrainischen Grenzregion im und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, haben alle polnischen Regierungen ab 1991 die europäischen Ambitionen der Ukraine unterstützt. Auch wenn sie unter den Präsidenten Leonid Kutschma (1994 bis 2005) und Wiktor Janukowitsch (2010 bis 2014) einen Schaukelkurs zwischen Russland und der EU verfolgte, blieb die polnische Regierung in Warschau immer in engem, wohlwollendem Kontakt und unterstützte tatkräftig die Transformation zur rechtsstaatlich abgesicherten Marktwirtschaft. Dies war und ist übrigens auch unter allen Kabinetten der aktuell regierenden Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) der Fall.


„Heute Georgien, morgen die Ukraine, übermorgen das Baltikum und dann Polen.“
Staatspräsident Lech Kaczynski (PiS) im Jahr 2008

Als prophetisch erscheint inzwischen die Rede von Staatspräsident Lech Kaczynski (PiS) in der vor dem Einmarsch russischer Truppen unmittelbar bedrohten georgischen Hauptstadt Tiflis im August 2008. Er warnte darin vor dem Szenario "heute Georgien, morgen die Ukraine, übermorgen das Baltikum und dann Polen", wenn der Westen Wladimir Putin (damals russischer Ministerpräsident) nicht Einhalt gebiete. Doch erst nach der völkerrechtswidrigen russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim im Frühjahr 2014 kam diese Warnung auch in der Europäischen Union an. Es dauerte indes noch einmal bis Juni 2017 bis die Nato ihre Ostflanke stärkte und multinationale Kampftruppen (Battle Groups) nach Polen (unter US-Führung), Litauen (unter deutscher Führung), Lettland (unter kanadischer Führung) und Estland (unter britischer Führung) entsandte.

Unter dem Eindruck der aktuellen Bedrohung der Ukraine durch eine massive russische Truppenkonzentration jenseits der Grenze im Osten und Norden, auf der Krim und in Belarus werden diese Kontingente gerade auf Bestreben Polens, des Baltikums und Rumäniens - das eine 650 Kilometer lange Grenze mit der Ukraine hat - aufgestockt. Die Bundeswehr hat 350 Soldaten zusätzlich nach Rukla in Litauen abkommandiert. Fast 5.000 US-Soldaten werden nach Polen verlegt und sind teils schon dort angekommen. Erwartet werden dort außerdem rund 350 britische Soldaten. Spanien hat bereits vier Kampfjets und rund 130 Soldaten nach Bulgarien entsandt; die USA haben ihre Präsenz in Rumänien auf 1.900 Soldaten verdoppelt. Auch die Nato will neue Soldaten nach Rumänien und Bulgarien verlegen, wie viele ist noch unklar.

Die Osteuropäer erwarten Solidarität von der EU

Ausschlaggebend für die Aufstockung der westlichen Truppen war der Druck der Nato-Mitglieder an der Ostflanke. Allesamt haben sie schlechte historische Erfahrungen mit dem imperialen Russland und teils auch mit der von Russland dominierten Sowjetunion gemacht. Alle drei Baltenstaaten wurden 1940 nach dem Molotow-Rippentrop-Pakt von der Sowjetunion besetzt und nach 1945 gegen ihren Willen in diese einverleibt. Dasselbe Schicksal teilten jene Gebiete Ostpolens, die heute teils zu Belarus und der Ukraine gehören.

Von der EU erwarten die Osteuropäer in der aktuellen Situation Solidarität und geschlossenes Handeln gegen das imperiale Gebaren des Kremls. Putins Forderung nach einer de facto-Rückgängigmachung der Nato-Osterweiterungen ab 1997 würde alle ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten, das Baltikum und einige Staaten Ex-Jugoslawiens betreffen. Auch ehemals sozialistische Staaten wie Albanien und Rumänien, die sich früh von Moskau entfernt hatten, müssten nach Russlands Willen wieder aus der Nato austreten.

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Mit einiger Genugtuung wird in Warschau dieser Tage beobachtet, dass sich Deutschland und Frankreich in die Solidarität der EU mit der von dem massiven russischen Truppenaufmarsch bedrohten Ukraine eingereiht haben. Doch die Weigerung der Bundesregierung, Waffen in die Ukraine zu liefern, stößt auf großes Unverständnis. Für Polen, Tschechien und die drei Baltenstaaten sind derartige Lieferungen eine Selbstverständlichkeit. Vor allem Polen hat bereits viel Munition sowie Ein-Mann-Raketenwerfer des Typs "Grom" in die Ukraine geschickt. Litauen liefert sogar Stinger-Raketen zur Flugabwehr nach Kiew, die es zuvor selbst von den USA erhalten hatte.

Vor allem in Polen und dem Baltikum sind die 1939 zwischen Hitler und Stalin geschlossenen Verträge bis heute ein Trauma. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt und seine geheimen Zusatzprotokolle ebneten den Weg für den deutschen Überfall auf Polen, mit dem der Zweite Weltkrieg begann - und für eine bis 1989/90 andauernde kommunistische Zwangsherrschaft für Millionen Einwohner in den baltischen Staaten und den Ländern Ostmitteleuropas. Sämtliche Schritte Deutschlands, die Russland auf Kosten der Ukraine oder anderer osteuropäischer Staaten begünstigen, erinnern die Länder im Osten an dieses Trauma.

Umstrittene Pipeline Darunter fällt auch das besonders sensible Thema der Nord Stream 2-Pipeline auf dem Ostseegrund zwischen Russland und Deutschland. Sie umgeht die bisherigen Gastransitländer, allen voran die Ukraine, und erhöht aus Sicht der Staaten die wirtschaftliche und politische Abhängigkeit Deutschlands von Moskau. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat bei seinem Besuch in der ukrainischen Hauptstadt Kiew die Gaspipeline im Zusammenhang mit EU-Sanktionen im russischen Invasionsfall erneut nicht explizit beim Namen genannt. Nicht nur in Polen, auch in den baltischen Staaten, lässt das die Alarmglocken schrillen.

Der Autor ist freier Korrespondent in Warschau.