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Ostdeutschland - eine Erfindung des Westens? : Der Westen soll sich erklären

Der Leipziger Germanist Dirk Oschmann wettert gegen Vorurteile und fordert eine kritische Reflexion über den Westen ein.

24.04.2023
2024-02-28T13:53:02.3600Z
4 Min

Mehr als drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall ist noch nicht "zusammengewachsen, was zusammengehört", wie es Altkanzler Willy Brandt (SPD) einst hoffnungsvoll formulierte. Spezifische Mentalitäten entlang der alten Grenze halten sich hartnäckig, und vor allem gibt es nach wie vor riesige ökonomische Differenzen. In Westdeutschland wird viel mehr Vermögen vererbt; das Lohngefälle liegt bei 22,5 Prozent, der Anteil Ostdeutscher in Spitzenpositionen von Wissenschaft, Verwaltung und Unternehmen liegt bei nur 1,7 Prozent. Für Dirk Oschmann sind das Belege für Ungleichheit und Benachteiligung. Diese betreffe auch Jahrgänge, die die DDR gar nicht mehr persönlich erlebt haben. Im Sinne des französischen Soziologen Pierre Bourdieu analysiert er: "Noch heute fehlen die Netzwerke, der Stallgeruch, die Verwandtschaft im Habitus - mit einem Wort: alles, nämlich das kulturelle, symbolische, soziale und ökonomische Kapital."

Der 1967 im thüringischen Gotha geborene Germanist ist Professor an der Uni Leipzig und spezialisiert auf die deutsche Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Schon deshalb ist sein Buch keine politikwissenschaftliche Abhandlung, eher ein Zeitzeugen-Bericht über die "innerdeutsche Gemengelage". Der Text beruht auf einem provokativen Artikel in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom Februar 2022, auf den Oschmann zahlreiche Leserbriefe und private Reaktionen erreichten.

Einseitig verteilte Diskursmacht

Die zornige Kernthese des Verfassers: Nicht "der Osten" habe sich zu erklären, sondern der Westen. Negative Attribute wie Rassismus, mangelndes Demokratieverständnis, Verschwörungsglaube und Armut würden vorrangig den 1990 zur Bundesrepublik beigetretenen Ländern zugeschrieben. Der "Osten" sei keine Himmelsrichtung mehr, sondern bezeichne das "prinzipiell Rückständige, Unkultivierte, Barbarische". Die Ursache solcher Vorurteile sieht Oschmann in der "einseitig verteilten Diskursmacht", denn auch sämtliche Leitmedien seien in westdeutscher Hand.

Wie der Zeitungsbeitrag ist das Buch in einer zuspitzenden Sprache geschrieben. Oschmann hat eine Mission, er will aufrütteln - und schießt dabei manchmal über sein Ziel hinaus. So nimmt der Fußballfan den äußerst künstlich etablierten, vom Getränkehersteller Red Bull finanzierten "Dosenklub" RB Leipzig gegen Angriffe in Schutz, weil dieser zum ostdeutschen Selbstbewusstsein beitrage - ein erheblich sympathischeres Beispiel dafür wäre Union Berlin gewesen. Zu wenig erklärt der Autor auch die großen Wahlerfolge der AfD. Die hohe Zustimmung zu rechtspopulistischen Ansichten gerade in ländlichen Regionen lässt sich nicht allein auf Demokratieverdrossenheit aufgrund westdeutscher Hegemonie zurückführen.

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Beeindruckend sind dagegen die Beispiele für Kränkungen im Kulturbetrieb, denen Oschmann ein eigenes Kapitel widmet. So kritisiert er die abwertenden Kampagnen gegen angebliche "Gesinnungs"-Schriftsteller wie Christa Wolf oder Stefan Heym nach der Wende. Ebenso wendet er sich gegen den von westlichen Kunstkritikern betriebenen Versuch, den Leipziger Maler Neo Rauch in die Nähe des Rechtsextremismus zu rücken.

Dirk Oschmann:
Der Osten.
Eine westdeutsche Erfindung.
Ullstein Verlag,
Berlin 2023;
224 Seiten, 19,99 €