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Geschichte Israels : Zuflucht im Land der Täter

Jüdische Flüchtlinge suchten nach 1945 Zuflucht in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands. Bei der Staatswerdung Israels waren diese ein wichtiger Faktor.

02.05.2023
2024-01-24T09:49:03.3600Z
8 Min

Der letzte Teil des Weges geriet zu einer wahren Triumphfahrt. Als David Ben Gurion im Oktober 1945 in den Lagern der Displaced Persons (DP) auftauchte, schlug ihm überschwängliche Begeisterung und Verehrung entgegen. Ob in Zeilsheim (Frankfurt), Feldafing (München), Landsberg, Belsen: Überall, wo der Sprecher des Jischuw, der jüdischen Gemeinschaft in Palästina, im besetzten Deutschland auftrat und redete, traf er auf gerührte Zuhörer und jubelnde Sympathisanten. Der Rabbiner Judah Nadich, damals Jewish Adviser bei der US-Armee und Ben Gurions Begleiter, hat eine solche Begegnung am Beispiel Zeilsheim anschaulich geschildert: "Im Lager kamen einige Menschen auf uns zu, sahen ihn und fingen an zu schreien. Ich hatte Angst vor einem Tumult."

Foto: picture-alliance/Courtesy Everett Collection

Verwaiste jüdische Jugendliche nach ihrer Entlassung aus Buchenwald im Juni 1945 auf dem Weg nach Palästina.

Die Befürchtung war allerdings überflüssig. Denn bei Nadich heißt es weiter: "Ich bat, überall Bescheid zu sagen, dass Ben Gurion im Lager sei und dass er nachher im Versammlungsraum zu ihnen sprechen werde und forderte sie auf, sich diszipliniert zu verhalten. Die Nachricht verbreitete sich rasch, und als wir dort ankamen, war der Raum brechend voll. Fenster und Türen standen offen, und draußen wartete ebenfalls eine große Menschenmenge.

Ben Gurion weinte, ich weinte, alle weinten

Als ich Ben Gurion auf die Bühne führte, erhoben sich alle und sangen die haTikwa. Ben Gurion weinte, ich weinte, alle weinten. So einen Augenblick vergisst man sein Leben lang nicht - nie." Und dann liefert er die Begründung: "Die meisten Menschen hatten alle die schwarzen Jahre hindurch gehofft, dass sie eines Tages nach Eretz Jisroel gelangen würden, und nun war Eretz Jisroel zu ihnen gekommen." Und über einen Auftritt in Landsberg hieß es: "Es scheint, als wenn sich mit ihm alle ihre Hoffnungen verbinden, nach Palästina zu gelangen."

Aber Ben Gurion erfüllte seine Zuhörer damals auch mit seiner Vision, als er die DPs aufforderte: "Im bevorstehenden Kampf werdet ihr eine entscheidende Rolle spielen. Ich weiß, was ihr durchgemacht habt, und es ist nicht leicht, das von euch zu verlangen. Ihr müsst es tun, weil ihr ein enormer Faktor seid. Ihr seid nicht nur bedürftige Personen, sondern auch eine politische Macht."

Dann fügte er noch hinzu: "Ihr dürft euch nicht subjektiv betrachten, sondern vom Standpunkt der jüdischen Nation. Ihr müsst stark sein, und ich bin überzeugt, ihr werdet stark sein." Ben Gurion wusste um seine Mission, die sein Biograf, der israelische Historiker Tom Segev, treffend benennt: Ein Staat um jeden Preis. Und dieser Plan beherrschte sein Denken und Handeln.

In der polnischen Provinzstadt Kielce wütete im Juli 1946 ein gewalttätiger Mob

Dass sich für dieses historische Projekt viele Weichenstellungen gerade in Nachkriegsdeutschland, dem Land der Täter und des Holocaust, vollzogen, war kein Zufall. In den östlichen Ländern, Polen vor allem, aber auch Ungarn und der Tschechoslowakei, lud sich selbst nach 1945 eine aggressive Stimmung gegen die überlebenden Juden auf. Es begann mit Ablehnungen und Diskriminierungen, steigerte sich zu Hass und Hetze und endete schließlich bei Verfolgungen und Pogromen.

Beispielhaft steht dafür die polnische Provinzstadt Kielce südlich von Warschau. Dort wütete im Juli 1946 tagelang ein gewalttätiger Mob. Das Ergebnis: 42 Tote, Männer, Frauen, Kinder. Auch andere Gemeinden und Städte wurden von diesem Terror erfasst, beispielsweise Krakau. Dass die Behörden und Milizen nicht eingriffen, dass der katholische Episkopat die Gläubigen nicht ermahnte, ist traurige Erkenntnis.

Die jüdischen Flüchtlinge betrachteten Deutschland nur als Transitstation

Ein Zurück in die früheren Wohnungen, die alte Heimat: Nach dem Fanal von Kielce war dies unmöglich. Und daher entschlossen sich immer mehr Juden, aus den osteuropäischen Ländern gen Westen zu flüchten. Dabei wurde ausgerechnet das Land der Täter zum ersten Ziel. Gewiss wollten sie sich dort nicht niederlassen, sondern betrachteten Deutschland nur als Transitstation für die Weiterreise nach Palästina, aber auch den USA, Australien - Hauptsache weit weg vom verfluchten alten Kontinent.

Vornehmlich flüchteten sie in den Süden, nach Bayern, Baden-Württemberg, Hessen in die amerikanische Besatzungszone. Von den US-Truppen erhofften sie umfassenden Schutz und effektive Hilfe für die Weiterreise nach Palästina. Deshalb kam es vor allem in der Region München zu beachtlichen Flüchtlingskonzentrationen.

Niemand wollte diesen Menschen dauerhaft Aufenthaltsgenehmigung gewähren

Den früher in Leipzig lehrenden Historiker Dan Diner hat diese Tatsache zu der Bemerkung veranlasst, dass "die Wiege des im Mittleren Osten geborenen jüdischen Staates gewissermaßen in Bayern" gestanden habe - eine steile These, die andere Geschichtsforscher keineswegs so teilen. Sie räumen aber ein, dass die DPs in den deutschen Camps eine wichtige Rolle bei der Staatswerdung Israels gespielt hätten, neben den Zuspitzungen mit den Briten in Palästina.

Zunächst aber saßen die Flüchtlinge, als sie die von den Besatzungsmächten zugewiesenen Lager bezogen, gleichsam in der Falle. Die Zahl in den über hundert Camps wuchs immerhin auf 250.000, andere sagen sogar 300.000. Niemand wollte diese Menschen haben und ihnen dauerhaft Aufenthaltsgenehmigung gewähren, die USA nicht, ebenso wenig die westeuropäischen Staaten. Und für die Einwanderung nach Palästina setzten die im Nahen Osten damals noch herrschenden Briten sehr enge Grenzen.


„Es war eine Zeit für Helden, nicht für Opfer.“
Idith Zertal, Schriftstellerin und Historikerin

Die Bezeichnung Displaced Persons, kurz DPs, hatten die Vereinten Nationen für jene Menschen gewählt, die infolge des Kriegsgeschehens von ihrer Heimat vertrieben worden waren - was letztendlich auf diese osteuropäischen Flüchtlinge nicht zutraf. Doch Ben Gurion hatte bei einem harten Verhandlungsringen mit Dwight D. Eisenhower, Oberbefehlshaber der amerikanischen Truppen in Europa und späterer US-Präsident, durchgesetzt, dass dieser Status auch auf die osteuropäischen jüdischen Nachkriegsflüchtlinge angewendet wurde.

Ben Gurion stand gern im Mittelpunkt der Ereignisse

Und mit diesem Pfund wucherte er. Dabei hat er seine generelle Taktik nicht verschwiegen. "Wenn wir eine Viertel Million in die amerikanische Zone konzentrieren könnten, würde dies den amerikanischen Druck (auf London) steigern. Ich habe allen damit Befassten Anweisung gegeben, so viele wie möglich in dieses Gebiet 'hineinzuhauen'", erläuterte er dem Vorstand der Jewish Agency.

Ben Gurion stand, so porträtiert ihn Tom Segev, gern im Mittelpunkt der Ereignisse und wollte deren Ablauf beeinflussen, wenn nicht gar kontrollieren und kanalisieren. Und da rangierte die Schaffung eines eigenständigen und souveränen Staates Israel ganz obenan. Zugleich war dem Sprecher der Jewish Agency jedoch bewusst, dass er die komplexe Problematik der Staatsgründung auf die internationale Ebene heben musste, um erfolgreich zu sein. Dies gelang dem "Vater der Nation" über einen bemerkenswerten Seitenweg.

Der sowjetische Außenminister Gromyko interessierte sich für die Verhältnisse in Nahost

Es war der sowjetische Außenminister Andrej Gromyko, später als "Mister Njet" verschrien, der sich in der Zeit des beginnenden Kalten Krieges zwischen West und Ost 1947 für die Verhältnisse in Nahost interessierte. Moskau wollte seinen Fuß in diese Region bekommen, deren Geschehen bislang weitgehend von den Westmächten Großbritannien, Frankreich und den USA bestimmt worden war. So kam es zu einem Treffen zwischen Gromyko und Ben Gurion.

Das Gesprächsthema: der Sozialismus. Der Mann aus Moskau versuchte wohl auszuloten, wie weit man in der Programmatik der zionistisch-sozialistischen Arbeiterpartei Mapai übereinstimmen und kooperieren könnte. Dafür hob die Sowjetunion die jüdische Staatswerdung auf die Tagesordnung der Vereinten Nationen. So wurde am 29. November 1947 von der UN-Generalversammlung der Teilungsplan als Resolution 181 angenommen, der Israel sein Territorium zuwies.

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"Für mich gab es einen Albtraum", hat Ben Gurion einmal gesagt, "dass die überlebenden Juden nicht nach Erez Israel würden gehen wollen." Da hatte er Unrecht. Denn immerhin entschlossen sich 120.000 bis 140.000 DPs zur Übersiedlung nach Israel, gewiss nicht unbedeutend bei der dortigen Zahl von etwa 600.000 Juden. Doch aus heutiger Sicht muss gesagt werden: Tiefe oder dauerhafte Spuren haben die eingewanderten Camp-Bewohner nicht hinterlassen.

Wenn Israel in diesen Tagen die 75 Jahre seiner Existenz begeht, dann wird hierzulande zumeist vergessen oder übersehen, welche Bedeutung damals Deutschland, eben das Land der Täter, an diesem komplizierten Gründungsprozess des Staates gespielt hat. Einerseits weil es an historischen Kenntnissen fehlt, da sie kaum vermittelt wurden und werden. Und gerade die DP-Epoche bleibt hierzulande ein großes historisches Stiefkind. Anderseits gibt es auch heute in Deutschland noch neben dem offenen einen untergründig-verkappten Antisemitismus. Das erschwert eine offene Beschäftigung mit diesem vergessenen Kapitel der Nachkriegsgeschichte.

Aus diesem Grund interpretiert Yehuda Bauer, langjähriger Chefhistoriker von Yad Vashem, die Gründungsgenese Israels auch anders: "Die Shoah an sich spielte keine Rolle, sondern die Situation im Mittleren Osten und der Druck der DP-Lager." Auch die Schriftstellerin und Historikerin Idith Zertal bemerkt, dass nur wenige bereit waren, "den letzten überlebenden Opfern der beispiellosen Naziverbrechen aufrichtiges, hochherziges Mitgefühl entgegenzubringen". Widerständler und Partisanen erstrahlten dagegen. "Es war eine Zeit für Helden, nicht für Opfer".