Manche nennen mich einen Guerillabotaniker. Das klingt nach Karabiner und Buschmesser, dabei ist mein Utensil ein Stück Kreide. Es ist ein wildromantisch anmutender Begriff - aber wenn er dazu beiträgt, auf Biodiversität, ihre Bedeutung, Gefährdung und die Notwendigkeit ihres Schutzes aufmerksam zu machen, dann schadet es wohl nicht. Was ich mache? In meiner Heimatstadt Göttingen ziehe ich los und kennzeichne mit Kreide auf Bürgersteigen die vielen wild wachsenden Pflanzen, was gemeinhin als "Unkraut" übersehen wird. Anfang 2020 fingen viele andere und ich unter dem Motto #mehralsUnkraut und #Krautschau damit an, es ist eine tolle, niedrigschwellige und gleichzeitig etwas subversive Aktion. Der Ideengeber Boris Presseq vom Museum für Naturgeschichte in Toulouse beschrieb es so: "Indem wir sie markieren und benennen, geben wir den Wildpflanzen eine Existenz". Es gibt ja den vielzitierten Satz in diversen Variationen: "Nur was man kennt und liebt, kann und will man schützen."
Mit der Aktion holen wir vorhandene Biodiversität mit einfachen Mitteln aus der Anonymität. Die Idee ist ein Stück weit genial. Und notwendig.
Denn wir befinden uns aktuell im sechsten großen Artensterben der Erdgeschichte, diesmal maßgeblich durch den Menschen verursacht - das Anthropozän. In deutschen Städten könnte es - trotz auch hier stattfindenden Verlusten - vielleicht sogar noch verhältnismäßig rosig aussehen - aber nur weil im Vergleich dazu die Biodiversität in der Offenlandschaft noch schneller abnimmt. Es gibt viele Studien, die den vergleichsweise großen Artenreichtum von urbanen Räumen belegen. Das hat viele Gründe: Unter anderem sind Städte wohl oft an struktur- und dadurch artenreichen Orten entstanden und weisen eine vergleichsweise hohe Vielfalt an Lebensräumen und Arten auf - wenn man sie mit ausgeräumten, intensiv bewirtschafteten Agrarlandschaften vergleicht. Auch werden hier viele Arten aus anderen Regionen der Welt aktiv und passiv eingeschleppt, von denen sich manche etablieren. Also ziehen wir los, bestimmen und beschriften. Viele hunderte Mal in diesen drei Jahren. Es macht natürlich auch Spaß.
Schon als Kind faszinierte mich die Natur, meine Eltern erzählen gern die Anekdote, dass ich mit vier Jahren der Dorflehrerin erklärte, was alles vor ihrer Nase wuchs. Viele Kinder haben ein spontane Faszination für alles, das kreucht und fleucht - es ist die normale Insektenphase. Bei mir hielt sie an. Ich spürte die Begeisterung, das Leben zu erkennen und zu kategorisieren; auch tut das Sein in der Natur gut, man geht darin auf. Meine Familie förderte diese Leidenschaft, schon als Junge nahmen sie mich mit zu Exkursionen in die Umgebung, um die ich mich jetzt beruflich kümmere: Bei der Ökostation betreiben wir unter anderem Kartierung und Monitoring von Schutzgebieten im Landkreis und beraten Landwirtinnen und Landwirte. Und in der Freizeit ziehe ich mit der Kreide los. Dafür erhalten wir viel Zuspruch, wir durchstoßen damit eine unsichtbare Wand. Im ersten Moment fragen viele erstmal, ob alles okay ist, wenn man auf dem Boden herumkriecht - ein typisches Biologenschicksal. Aber wenn ich dann aufgeklärt habe, dass keine Notsituation vorliegt, sind die allermeisten Leute sehr interessiert. Man merkt, dass die Leute mittlerweile mehr hinhören, wenn es um biologische Vielfalt und um ihre Gefährdungen geht. Was mir bei meinem Kreideengagement zugutekommt: Ich war schon immer ein großer Sammler. Briefmarken, Münzen, Versteinerungen, Comics und Fotos von entdeckten Tieren - mein Kinderzimmer war voll davon.
Diese Aktion ist sicherlich nur ein kleiner Mosaikstein. Was wir brauchen, ist ein Paradigmenwechsel. Keine Einzelmaßnahme wird helfen, sich dem Verlust der Biodiversität insgesamt entgegenzustellen. Noch immer haben wir eine Form des Wirtschaftens, für die Biodiversität meist viel zu wenig Bedeutung hat; daher braucht es massive Investitionen in den Naturschutz, denn bisher sind diese Summen verschwindend gering. Landwirte, die auf Biodiversität achten wollen, sollten gestärkt werden; es gäbe eine Menge EU-Gelder, die entsprechend umgeschichtet werden könnten. Und wir brauchen ein besseres Regelwerk und dessen Durchsetzung, Naturschutz ist eine politische Aufgabe. Also müssen Ziele her, wie bei den Temperaturgrenzen des Pariser Klimaabkommens. Nur sollten diese Ziele einklagbar werden. Denn die Zeit drängt mehr, als den meisten Menschen bewusst ist. In unserem Anthropozän sind wir voll drin. Aber ohne Flora und Fauna sind wir nichts. Die Biodiversität ist eine Grundlage für das Überleben der Menschheit. Und wir haben als Gesamtheit einfach nicht das Recht, andere Arten und ihre Lebensräume auszulöschen, die wie wir in hunderten von Millionen Jahren Evolution entstanden sind.
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