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Judenverfolgung in Osteuropa : "Vorgeschichte des Holocaust"

Historiker Jeffrey Veidlinger hat mit "Mitten im zivilisierten Europa" eine beeindruckende Arbeit über die Pogrome von 1918 bis 1921 vorgelegt.

23.01.2023
2024-01-11T11:31:09.3600Z
4 Min

Über Gewalttaten gegen Juden in der Ukraine berichtet bereits die "Chronik der vergangenen Jahre" des Mönchs Nestor von Kiew aus dem frühen 12. Jahrhundert. Sie ist eine der wenigen historischen Quellen über die Entstehung der Kiever Rus im 9. Jahrhundert. Juden besiedelten das Gebiet, wenig später wurden sie ausgeraubt und ermordet. Massenmorde an Juden wurden auch 1648 während des Bogdan Chmelnyzkyj-Aufstandes gegen Polen-Litauen verübt. Jüdische und ukrainische Historiker nennen religiös motivierten Antisemitismus, aber auch "soziale Ursachen" als Gründe für die Pogrome, die zur Auslöschung ganzer jüdischer Gemeinden führte. Schätzungsweise 20.000 Juden wurden getötet. 1881, 1903 und vor allem 1905 erschütterten weitere Pogromwellen die jüdischen Gemeinden in den westlichen Provinzen des zaristischen Russlands. Heute liegen diese Gebiete in Polen und in der Ukraine.

Foto: picture-alliance/ZUMAPRESS.com/Michael Brochstein

Die Gedenkstätte Babyn Jar in der Ukraine erinnert an die Ermordung von mehr als 33.0000 ukrainischen Juden durch die deutschen Besatzer im September 1941.

Die über Jahrhunderte andauernde Judenverfolgung in Osteuropa unterscheidet sich nicht von den Pogromen im sogenannten "zivilisierten Europa". Allerdings wurden sie kaum dokumentiert, Historiker und Regierungen verschwiegen oder vertuschten die Massaker. Dies gilt vor allem für Osteuropa und die Sowjetunion während des Kalten Krieges, damals war die Erforschung der Judenverfolgung aus ideologischen Gründen verboten: Der Antisemitismus im eignen Land sollte nicht auf die gleiche Stufe mit dem nationalsozialistischen Rassenhass gestellt und in die Nähe des Holocaust gerückt werden.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Hegemonie über Osteuropa arbeiten polnische und ukrainische Historiker diese dunklen Kapitel auf und veröffentlichten bereits zahlreiche Studien dazu.

Pogrome während des russischen Bürgerkriegs

Während des russischen Bürgerkrieges nach dem Ersten Weltkrieg wurden in Russland, in der Ukraine und im Osten Polens an mehr als 500 Orten Pogrome registriert. Schätzungen ergaben weit über 100.000 Opfer: Etwa 40.000 Juden wurden ermordet, weitere 70.000 starben an ihren Verletzungen oder verhungerten. Schätzungsweise 600.000 Juden gelang zwar die Flucht in andere Staaten, doch auch dort waren sie oftmals nicht sicher vor Verfolgung. Unter den Tätern befanden sich Rotarmisten, Weißgardisten, ukrainische Nationalisten, Soldaten der Symon-Petljura-Armee, kriminelle Banden, aber auch einfache Zivilisten. Sie wollten sich entweder bereichern oder waren Anhänger des traditionellen christlichen Antijudaismus beziehungsweise des modernen Antisemitismus. Aus Sicht der ukrainischen Nationalisten waren die Bolschewiken ohnehin allesamt Juden, die allein deshalb getötet werden mussten.

Die Geschichte der Pogrome zwischen 1918 und 1921 an den Juden in der Ukraine und in Polen kann man jetzt bei dem amerikanischen Historiker Jeffrey Veidlinger nachlesen. Der Professor für Geschichte und Judaistik an der University of Michigan forscht über die neuere jüdische Geschichte, Russland und Osteuropa sowie über den Holocaust. Veidlingers Bücher wurden unter anderen mit dem National Jewish Book Award ausgezeichnet. Sein jüdischer Vater aus Budapest hatte einst den Holocaust überlebt.

Veidlinger analysiert die Judenverfolgungen nach dem Ersten Weltkrieg nicht losgelöst von den Verbrechen in Nazi-Deutschland, vielmehr betrachtet er die Ermordung der Juden in Osteuropa als "Vorgeschichte des Holocaust". Damit läuft Veidlinger durchaus Gefahr, auf die Kritik zu stoßen, er wolle die deutschen Verbrechen relativieren, zumal er explizit von dem "anderen Holocaust" spricht.

Veidlinger rückt vergessenen Völkermord ins Bewusstsein der Öffentlichkeit

Dessen ungeachtet ist Veidlinger ein großer Wurf gelungen. Er hat Hunderte Chroniken der osteuropäischen jüdischen Gemeinden und weitere Quellenbestände analysiert und einen vergessenen Völkermord wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Die Pogrome zwischen 1918 und 1921 seien heute überschattet von den Schrecken des Holocaust, schreibt Veidlinger. Er kritisiert die Erzählung, Hitler sei "aus dem Nichts" gekommen und es habe "keinen Hinweis auf die kommende Apokalypse" gegeben. Tatsächlich aber könnten die Pogrome die nächste Welle antijüdischer Gewalt erklären helfen. Veidlinger kann gut belegen, dass die wahnhafte Idee von der Vernichtung einer "Rasse" schon dieser Zeit kursierte. So schrieb im September 1919 Josef Seff, der Präsident der Föderation ukrainischer Juden in Amerika: "Die Tatsache, dass man den sechs Millionen Juden in der Ukraine und Polen durch Taten und Worte verkündet hat, dass sie völlig ausgerottet werden sollen - diese Tatsache steht gegenwärtig als zentrale Angelegenheit vor der ganzen Welt."

Nur selten haben Historiker "die Wurzel des Holocaust in der genozidalen Gewalt gesucht, die in derselben Region gegen Juden begangen wurde, in der nur zwei Jahrzehnte später die ,Endlösung' begann", schreibt Veidlinger. So scheut er sich denn auch nicht, auf die Mitwirkung polnischer und ukrainischer Hilfspolizisten am Holocaust nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion im Sommer 1941 einzugehen. Seine Einblicke in die dunkelsten Stunden "Mitten im zivilisierten Europa" ist in jedem Fall eine empfehlenswerte Lektüre.

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Jeffrey Veidlinger:
Mitten im zivilisierten Europa.
Die Pogrome von 1918 bis 1921 und die Vorgeschichte des Holocaust.
C.H. Beck Verlag,
München 2022,
456 S., 34,00 €