2 THEMA DER WOCHE INTERVIEW MIT DIRK WIESE (SPD) Das Parlament | Nr. 21 | 17. Mai 2025 »Ich sehe viele Gemeinsamkeiten« Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Dirk Wiese, über manchmal schwierige Gespräche in den Koalitionsverhandlungen, das Regieren mit knappen Mehrheitenund den Willen, wichtige Projekte noch vor der Sommerpause auf den Weg zu bringen Herr Wiese, als Parlamentarischer Geschäftsführer haben Sie jetzt eine Schlüsselrolle für die Organisation der Parlamentsarbeit und damit auch für das Gelingen der Koalition. Mit wie viel Respekt gehen Sie diese Aufgabe an? Mit einem gehörigen Maß an Respekt tatsächlich. Es ist ein wichtiges Amt in den Fraktionen, insbesondere in den Regierungsfraktionen, gerade auch in einer Situation, in der wir als schwarz- rote Koalition nur noch eine Zwölf- Stimmen-Mehrheit haben. Ich weiß um die Verantwortung, und, ehrlich gesagt, freue ich mich auch auf die Aufgabe. Die weltpolitische wie die wirt- schaftliche Lage ist schwierig, und die neue Koalition startet Umfragen zufol- ge nicht gerade mit einem großen Ver- trauensvorschuss. Was sollte Ihrer Mei- nung nach jetzt vordringlich ange- packt werden? Ich glaube, wir erleben einen grund- sätzlichen Vertrauensverlust in politi- sche Entscheidungen. Dazu haben auch die Streitereien in der Ampelko- alition, insbesondere von Grünen und FDP, beigetragen. Von daher sind wir uns als neue Koalition dieser Verant- wortung sehr bewusst und werden uns den außen- und innenpolitischen He- rausforderungen stellen. Das haben auch Bundeskanzler Friedrich Merz und Lars Klingbeil in ihren Antrittsre- den im Bundestag gerade noch einmal deutlich gemacht. Und wir haben als Handlungsgrundlage einen guten Ko- alitionsvertrag. Jetzt ist es wichtig, sich an die Arbeit zu machen, erste Ent- scheidungen noch vor der Sommer- pause auf den Weg zu bringen und den Bürgerinnen und Bürgern zu zei- gen, dass wir entschlossen sind, diese Herausforderungen anzupacken. gesprächen, ist auch Vertrauen er- wachsen. Und das klare Votum der SPD-Mitglieder von 85 Prozent für den Koalitionsvertrag ist auch eine deutliche Unterstützung. Von daher bin ich zuversichtlich, weiß aber auch: Es wird nicht einfach, es wird sicher auch mal ruckeln. Aber die Bürgerin- nen und Bürger haben die klare Er- wartungshaltung, dass das jetzt funk- tioniert und wir liefern. Es hat ja auch schon geruckelt mit dem Vorstoß der neuen Arbeitsministe- rin Bärbel Bas zur Reform der Gesetz- lichen Rentenversicherung und der prompten Ablehnung durch den Koali- tionspartner. Geht es nicht doch schon wieder los? Nein, das würde ich nicht sagen. Mit- unter wird das auch herbeigeschrieben. Wir haben als Koalition vereinbart, eine Reform der Sozialversicherungssyste- me vorzunehmen. An dem Punkt muss man natürlich auch die Frage stellen, ob die Einzahlerbasis verbreitert wird. Und dazu hat die zuständige Ministerin Stellung genommen. Das ist auch ihre Aufgabe. Nehmen wir mal die Beamten beiseite und stellen uns einfach mal die Frage, warum nicht auch Bundestags- abgeordnete in die Rentenversicherung einzahlen oder auch Solo-Selbstständi- ge und Selbstständige, die vielleicht in ihrem Berufsleben nicht vorgesorgt ha- ben, das vielleicht nicht im Blick hatten oder nicht vorsorgen konnten. Wenn die dann in das Alter kommen, muss sowieso der Steuerzahler einspringen. Die Diskussion kann man durchaus führen, und man sollte sie mit etwas Gelassenheit führen. Zumal über die Reform der Sozialversicherungssyste- me zu sprechen, sie zukunftsfähig zu machen, eine klare Verabredung im Ko- alitionsvertrag ist. Die vorangegangene Koalition ist ja auch mit guten Vorsätzen gestartet, hat aber dann anders geendet. Was macht Sie zuversichtlich, dass es dies- mal besser wird? Ein wichtiger Punkt kann tatsächlich sein, dass sich viele Kolleginnen und Kollegen aus vorangegangenen Gro- ßen Koalitionen schon kennen in un- terschiedlichsten Funktionen. Wir ha- ben einen zugespitzten Wahlkampf gesehen, aber danach, in den Sondie- rungsgesprächen und den Koalitions- Nun gibt es auch bei anderen The- men schon, gelinde gesagt, unter- schiedliche Akzente, zum Beispiel zum Lieferkettengesetz. Hätte man sich bei den Koalitionsverhandlungen mehr Zeit lassen und detailliertere Verabre- dungen treffen müssen? Ich finde, wir haben einen guten Ko- alitionsvertrag. Thorsten Frei, der Chef des Kanzleramtes, hat gerade in dieser Woche bei der Regierungsbe- fragung deutlich gemacht, dass wir das deutsche Lieferkettengesetz ab- © picture-alliance/photothek.de/Thomas Imo schaffen wollen, weil es die Unterneh- men wirklich belastet und bei diesen ganzen Berichtspflichten zurecht die Frage gestellt wird, wer das eigentlich liest. Aber er hat auch klar gesagt, dass wir uns als Bundesregierung dafür einsetzen wollen, dass auf europäi- scher Ebene ein handhabbares und bürokratiearmes Lieferkettengesetz auf den Weg gebracht wird. Das ist im Koalitionsvertrag vereinbart und da- hinter wollen wir uns versammeln. Von daher: Es wird schon wieder ge- guckt, wo gibt es Meinungsverschie- denheiten, wo gibt es Streitereien. Ich sehe aber ehrlicherweise viele Ge- meinsamkeiten und den Willen, wich- tige Projekte vor der Sommerpause auf den Weg zu bringen Sie haben das klare Votum der SPD- Mitglieder schon angesprochen. Aber gerade in der Migrationspolitik dürf- ten viele Sozialdemokraten nur mit der Faust in der Tasche zugestimmt haben. Könnte hier nicht früher oder später doch noch ein echter Konflikt aufbrechen? Es waren keine leichten Gespräche mit CDU und CSU in den Koalitionsver- handlungen zu diesem Kapitel. Das ist gar keine Frage, weil das Thema auch im Wahlkampf sehr polarisiert hat. Ich glaube, uns ist es als Koalition gelungen, von den Schwarz-Weiß-Debatten weg- zukommen. Und das ist wichtig, denn: Ja, wir haben Herausforderungen, ja, wir wollen beide, SPD und Union, die irre- guläre Migration zurückdrängen. Aber wir wollen auch ein weltoffenes Land bleiben, weil wir Zuwanderung von Fach- und Arbeitskräften in den nächs- ten Jahren brauchen – und zwar hände- ringend. Darauf sind wir angewiesen, um diesen Wirtschaftsstandort erfolg- reich zu halten. Gerade bei den demo- grafischen Herausforderungen müssen wir diesen Spagat hinbekommen: Mi- gration stärker steuern und ordnen, ille- gale Migration zurückdrängen, aber gleichzeitig offen sein und ein Einwan- derungsland bleiben. Und wir werden einen vernünftigen Spagat hinkriegen, da bin ich sehr sicher. Es gibt jetzt eine relativ lange Zeit ohne Landtagswahlen bis nächsten März. Liegt darin eine Chance, inner- halb der Koalition noch strittige The- men zu einer Einigung zu bringen? Ach, das ist unerheblich. Es gibt immer eine Wahl, wir haben im September schon wieder Kommunalwahlen im größten Bundesland, in Nordrhein- Westfalen. Wichtig ist jetzt voranzu- kommen, erste wichtige Entscheidun- gen noch vor der Sommerpause auf den Weg zu bringen, insbesondere die Verlängerung der Mietpreisbremse, die Investitionsbooster für Unternehmen oder auch die Entlastungen bei den Energiepreisen, die Deckelung der Netzentgelte. Wenn wir diese Vorhaben auf den Weg bringen, und wenn wir die Haushalte für 2025 und 2026 in diesem Jahr verabschieden, dann werden die Bürgerinnen und Bürger sehen: Wir pa- cken an, wir sind am Ball, wir gehen die Dinge an, die ihr Leben spürbar einfa- cher und besser machen. In den Fraktionen ist derzeit die Vor- bereitung der Ausschussarbeit in vol- lem Gange. Sollten, anders als bisher, auch AfD-Abgeordnete zu Ausschuss- vorsitzenden gewählt werden, befürch- ten Sie nun, dass es in dieser Frage zu uneinheitlichem Abstimmungsverhal- ten der Koalitionspartner kommen könnte? Nein. Die Koalition stimmt zusam- men ab. Das Interview führte Peter Stützle. T Dirk Wiese (SPD) ist seit 2013 Mitglied des Deutschen Bundestages und seit 2025 erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion. PARLAMENTARISCHES PROFIL Die Aufholjägerin: Ines Schwerdtner Bei ihrer ersten Rede im Bundestag halfen ihr eine Stoppuhr und Jens Spahn. „Ich fand sie zuerst nicht“, erinnert sich Ines Schwerdtner einige Stunden später mit Blick auf die im Redner- pult eingebauten roten Ziffern. Und dann setzte sich der frisch gewählte Unionsfraktionschef ihr gegenüber, und sie legte los. Es ist kurz vor zwölf, in einem Besprechungsraum des Jakob-Kaiser-Hauses nippt sie an einem Kaffeebecher; ein paar Minuten bleiben noch, dann erwartet sie hier eine Gruppe von Gewerkschafterinnen und Betriebsrätinnen. „Bei meiner Rede konnte ich dann Jens Spahn anschauen, das half der Kon- zentration.“ Für Schwerdtner, direkt gewählte Abgeordnete des Wahlkreises Berlin- Lichtenberg und Co-Vorsitzende der Linken, ist es der erste richtige Par- lamentsalltag heute: Die Fraktion hat sich zusammen organisiert, die In- frastruktur in der neuen Legislatur steht nahezu, „ein paar Abgeordnete arbeiten wie ich noch in einem provisorischen Büro, ich werde bald um- ziehen“. Gerade fehlten noch etwa Mappen und Briefumschläge. Wie fand sie das Plenumsleben? „Es kam mir ein wenig vor wie im Theater“, sagt sie lächelnd. „Jeder klatscht, wann es sein muss. Und man schaut auf die Mienen.“ Das klingt nicht abwertend, eher reflektiv. Das scheint sie auszumachen. Schwerdtner redet bedächtig, aber nicht ausschwei- fend. Ruhig sortiert sie ihre Gedanken. Friedrich Merz jedenfalls brachte sie in seiner ersten Rede als Kanzler nicht auf die Barrikaden. „Ich fand sie überraschend langatmig. Entweder hatte er Kreide gegessen und wollte nach den turbulenten Wochen Demut zeigen – oder er spart sich das für später auf.“ Einen hohen Puls habe sie während der einstündigen Rede nicht gehabt. Die letzten Monate kann man für Schwerdtner auch als turbulent bezeich- nen. Seit Oktober 2024 führt sie mit Jan van Aken die Linkspartei, begann mit ihr eine fulminante Aufholjagd und kehrte den negativen Umfrage- Ich spürte die Ungerechtigkeiten und wollte etwas dagegen unter- nehmen. INES SCHWERDTNER © Olaf Krostitz trend im Bundestagswahlkampf in einen Triumph um. Viele sprachen da vom Erfolg der Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek. Weniger Leute dage- gen erkannten, dass sich die Partei unter Schwerdtners Co-Führung neu aufstellte, Konflikte beiseitestellte und mit einer Graswurzelstrategie die Basis mobilisierte. Im Vorfeld ihrer Wahl hatte sie gefordert, es gehe da- rum, „revolutionäre Freundlichkeit“ und Solidarität zu leben. Dass das Le- ben nicht nur aus Händchenhalten besteht, erzählten ihr die Brüche der frü- hen Neunziger, sie machten sie zu einem „Wendekind“. Im sächsischen Wer- dau geboren, zog sie mit dreieinhalb Jahren nach Hamburg; ihre Eltern hat- ten in der Heimat ihre Jobs verloren, Schwerdtner wuchs in Harburg auf. „Die graue Platte dort war auch nicht schöner als die Platte im Osten.“ Glück habe sie mit der sozialdemokratisch geprägten Gesamtschule gehabt, die in ihr die Lust auf Bildung weckte. Daheim gab es kaum Bücher, Politik spielte im Leben ihrer Eltern eine untergeordnete Rolle – der Vater, ein Schiffskoch, wurde Gerichtsbeamter, und die Mutter, eine Spinnerin, ging in die Alten- pflege. Ihre Tochter jedenfalls begeisterte sich für Politik. Verfolgte als Zehnjähri- ge die Bundestagsdebatten bei Phoenix, schnitt Politiker-Porträts aus der „Bild“-Zeitung aus. Sie merkte: Bildung ist eine Frage der Gerechtigkeit, bei der alle die gleichen Chancen erhalten sollten. Schwerdtner ergriff sie. Wurde Schulsprecherin, engagierte sich für Reformen. Wenn Politiker über ihre Motive sprechen, warum sie mit einem politi- schen Engagement begannen, reden sie oft von der Faszination der Ge- staltung, des Machens. Schwerdtner dagegen sagt: „Ich spürte die Unge- rechtigkeiten und wollte etwas dagegen unternehmen.“ Nach einem Master in Politischer Theorie und der Arbeit für sozialisti- sche Zeitschriften, die sie leitete, dann also die volle Verantwortung in der Politik. Bei der ersten Rede übrigens halfen die Stoppuhr und Jens Spahn nur bedingt. „Ich überzog ein wenig, und irgendwann blickte ich hinauf zu den Zuschauern – um sie zu erreichen.“ Das sieht man im Jan Rübel T Bundestag selten.