2 THEMA DER WOCHE Das Parlament | Nr. 22-23 | 24. Mai 2025 INTERVIEW MIT CHRISTIAN FREIHERR VON STETTEN »Der Staat muss zügiger werden« Der Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses setzt auf eine massive Wachstumspolitik. Die geplanten Steuersenkungen für die deutschen Unternehmen sollen möglichst früher kommen und stärker ausfallen Kanzler Merz will Deutschland zu einer Wachstumslokomotive ma- chen. Da sieht die jüngste Prognose der EU-Kommission von 0,0 Prozent wie ein Stoppsignal aus. Glauben Sie, dass es mit einer Turboabschrei- bung für Unternehmen gelingen wird, die Lokomotive in diesem Jahr in Bewegung zu setzen? Zahlreiche politische Maßnahmen der letzten Regierung haben die wirt- schaftliche Rezession vertieft. Die ge- plante „Turboabschreibung“ ist ein Instrument, um die Unternehmen und Selbstständigen zu mehr Investi- tionen zu bewegen, aber es darf nicht das Einzige bleiben. Die wirtschaftli- che Stagnation drückt sich nicht al- lein im Rückgang des BIP aus, son- dern auch in den Unternehmensin- solvenzen, die allein letztes Jahr um 16,8 Prozent auf 22.400 gestiegen sind. Hinzu kommen Betriebe, die einfach zugemacht haben, oder zahl- lose Unternehmen, die mit ihren Pro- duktionsstandorten ins Ausland ab- gewandert sind. Deshalb wird jegli- ches Signal, das wir jetzt politisch senden, Mut machen, die Stimmung ins Positive kehren und die wirt- schaftliche Wende einleiten. Die Unternehmen ächzen unter ei- ner hohen Steuerlast. Kommt die Senkung der Körperschaftsteuer ab 2028 und dann noch in homöopa- thischen Dosen nicht zu spät? Die Steuerbelastung für Unterneh- men ist in Deutschland deutlich hö- her als in vergleichbaren Volkswirt- schaften. Deshalb ist es unabdingbar, die Steuerlast für Unternehmen zu senken. Die Absenkung der Körper- schaftsteuer in fünf Schritten um je- weils nur einen Prozentpunkt und das erst ab 2028 halte ich daher für zu spät und zu zaghaft. Diesen Passus hat die SPD in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt, und viele Wirt- schaftsverbände haben dies bereits stark kritisiert. Ich hoffe, dass es un- abhängig vom Koalitionsvertrag mög- lich sein wird, mit dem Bundesfi- nanzminister über eine Entbürokrati- sierung der Steuergesetze zu spre- chen. Außerdem sollten höhere mit- telstandsfreundliche Freibeträge bei der Zinsschranke und gewerbesteu- erlichen Hinzurechnungen bei Mie- ten und Pachten vereinbart werden. Die hohen Energiekosten haben zu Betriebsschließungen und Arbeits- platzverlusten geführt. Reicht eine Senkung der Stromsteuer, um die Unternehmen zu entlasten? Nein, deshalb hat unsere neue Wirt- schaftsministerin Katherina Reiche auch gleich vom ersten Tag an klare Ziele und Maßnahmen verkündet: 1. mehr Freiheit für Unternehmerin- nen und Unternehmer und weniger Regulierungen. 2. Energetische Ver- sorgungssicherheit zu bezahlbaren Preisen in Kombination mit dem Bau von 20 Gigawatt neuen Gaskraftwer- ken. 3. endlich einen sichtbaren Bü- rokratieabbau von 25 Prozent durch Vereinfachungen und Streichungen. 4. Die Stärkung des Außenhandels. Deutschlands größte Stärke war stets der Export, die Handelsabkommen zwischen der EU und den Mercosur- und ASEAN-Staaten, ebenso wie mit Indien und Australien. Die Handels- streitigkeiten mit den USA, die einer unserer wichtigsten Handelspartner sind, müssen beigelegt und ein Frei- handelsabkommen angestrebt wer- den. Als Abgeordnete ist es jetzt un- sere Aufgabe, diese Reformen als Ge- setzgeber voranzutreiben. Der Automobilbau, der Maschi- nenbau, die Chemie und die Stahlin- dustrie befinden sich in der Krise. Welche Branchen haben überhaupt eine Zukunft in Deutschland? Bleibt Deutschland eine Industrienation? Deutschland muss Industrienation bleiben, sonst können wir uns den hohen Standard in Medizin und so- zialen Bereichen nicht länger leisten. Alle Branchen und Unternehmen ha- ben in Deutschland ihre Chance auf Existenz und Wachstum, wenn wir die wesentlichen Maßnahmen zügig umsetzen. Was die Wirtschaft nieder- drückt, sind Energiepreise, Bürokra- tie, Steuern und starre Arbeitszeitmo- delle. Das sind die „Bremsklötze“ im internationalen Wettbewerb. Es sind Hindernisse für Wachstum und Wohlstand und Folgen einer Wirt- schaftspolitik, die in den letzten Jah- ren hier nicht gegensteuerte. Zahlreiche dieser Probleme sind hausgemacht und müssen jetzt auf den Prüfstand. Das Gute daran ist, dass wir es umgestalten und ändern können. In ihrer Antrittsrede im schuldung mit dem Grundgesetz ver- einbar. Die Milliarden für die Infrastruktur müssen mit einem Regulierungsab- bau gekoppelt werden, denn ohne schnellere Verfahren bleibt der Auf- schwung aus. Wie soll sichergestellt werden, dass die Milliarden nicht auf den ver- schiedenen Ebenen versickern? Wir haben endlich ein Ministerium für Digitalisierung und Staatsmoder- nisierung sowie mit Karsten Wildber- ger einen fähigen Minister, der die dringend notwendigen Reformen an- packen wird. Die Gründung dieses Ministeriums ist mehr als nur ein neues Ministerium. Es ist eine wichti- ge Zukunftsentscheidung für unser Land. Es geht um ein modernes und digitales Deutschland – schlank in seinen Prozessen und in seiner Ver- waltung. Unser Staat muss zügiger werden mit einer Verwaltung, die den Bürgerinnen und Bürgern sowie den Unternehmen einen schnelleren, ein- facheren Service und bessere Dienst- leistungen bietet. Gleichzeitig heißt Staatsmodernisierung auch weniger Gesetze: Gesetze, die klarer und leichter umzusetzen sind, Verwal- tungsabläufe, die man versteht, weni- ger Bürokratie, und vor allem eine, die auf die gestalterische Kraft von Menschen und Unternehmen ver- traut. Dann versickert auch kein Geld mehr, sondern kommt da an, wo es gebraucht wird. Die Koalition will das Heizungsge- setz abschaffen, aber fällt der Wär- mepumpenzwang auch weg? Die vergangene Regierung ist auch an dem für viele Bevölkerungskreise nicht nachvollziehbaren Heizungsge- setz rund um die Wärmepumpe ge- scheitert. Deshalb wird als erste Maß- nahme das Betriebsverbot für Heiz- kessel abgeschafft werden und statt- dessen geprüft, wo im Gebäudebe- reich langfristige CO2-Einsparungen möglich sind. Das Interview führte Hans-Jürgen Leersch. T Christian Freiherr von Stetten (CDU) ist seit 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages und Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses. © Tobias Koch gig durch Vereinfachungen und Strei- chungen erreicht werden. Die Koalition hat sich auf ein – schuldenfinanziertes – Investiti- onsprogramm von 150 Milliarden Euro in dieser Legislaturperiode ver- ständigt. Solche Programme hatten früher oft nur eine Strohfeuerwir- kung. Was ist dieses Mal anders? Bisher hat der Deutsche Bundestag noch keine einzige Milliarde an neu- en Schulden beschlossen. Wir haben nur beschlossen, dass wenn nach Überarbeitung der Haushaltspläne und Streichung zahlreicher unnötiger Ausgaben es dann notwendig sein würde, zusätzliches Geld für Infra- strukturprojekte auf Schuldenbasis zu finanzieren. Dann wäre diese Ver- Deutschen Bundestag hat Ministerin Reiche 20-mal das Wort „Wachstum“ genannt, das zeigt den Fokus unserer neuen Wirtschaftspolitik, Wachstum als Grundlage für alles. Welche Maßnahme will die Koali- tion zuerst durch den Bundestag bringen – die Streichung des Liefer- kettengesetzes zwecks Bürokratieab- bau? Das Lieferkettengesetz ist das beste Beispiel aber schlecht gemacht. Ausufernde Büro- kratie ist das Symptom eines Staates, der nicht funktioniert. Unnötige Vor- schriften, Richtlinien und Berichts- pflichten lähmen den Mittelstand, und die im Koalitionsvertrag verein- barten 25 Prozent Abbau müssen zü- gedacht, für gut Es scheint nur weniges zu geben, das den unerschütterlich wir- kenden Optimismus und Stolz des neu gewählten Abgeordne- ten Alaa Alhamwi erschüttert, aber dazu später mehr. „Ein Highlight in dieser Sitzungswoche ist die Aktuelle Stunde zu Hitze und Dürre“, sagt er am Telefon. „Wir sehen ja die Trockenheit jeden Sommer. Wir müssen uns vorbereiten.“ Es ist Dienstagmittag. Alhamwi, 41, ist aus dem Nordwesten Deutschlands reisend in Berlin angekom- men. Der Abgeordnete der Grünen ist der „jüngste Deutsche im Parla- ment“, wie er scherzhaft meint: weil er im Sommer 2018 die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt. Alhamwi ist Energieexperte, das wird auch einer seiner Schwerpunkte im Bundestag werden. „Ich bin wegen der Energiewende nach Deutsch- land gekommen“, sagt der im syrischen Damaskus Geborene, „aber jetzt geht es mit der neuen Regierung in die falsche Richtung.“ Was meint er konkret? „Die Wirtschaftsministerin lobbyiert für Öl und Gas, sie will irre Ansätze fördern.“ Kritisch sieht er die Ankündigung von Katherina Rei- che (CDU), das Betriebsverbot für bestimmte Heizkessel zurücknehmen zu wollen, „das wurde 2020 unter einer CDU-Regierung von einem CDU- Wirtschaftsminister eingesetzt“. Oder die angedachten Gasimporte – „woher soll das Gas denn kommen, aus Fracking oder aus Russland?“ In Aleppo hatte er ein Maschinenbaustudium begonnen, „2011 erlebte ich noch die ersten Demonstrationen gegen das Regime, marschierte auch mit.“ Einmal hätten ihn dabei Agenten des Geheimdienstes an die Hauswand gedrängt und ihn auf Waffen hin untersucht. „Dabei hatte ich PARLAMENTARISCHES PROFIL Der Offene: Alaa Alhamwi nur meinen Laptop dabei.“ Es war die Zeit, in der er kein Wort Englisch oder Deutsch sprach, wegen seiner Leistungen aber Stipendienmöglich- keiten in Großbritannien und Kanada hatte; er entschied sich 2012 für Kairo und Kassel, wo er mit der Förderung des DAAD einen doppelten Master of Science (M.Sc.) in erneuerbaren Energien und Energieeffizienz Die Wirtschaftsministerin lobbyiert für Öl und Gas, sie will irre Ansätze fördern. ALAA ALHAMWI (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ©Fraktion Bündnis 90/Die Grünen/Stefan Kamniski absolvierte. „Energiepolitisch zog mich Deutschland mit seiner eingelei- teten Wende magnetisch an“, erinnert er sich. Seitdem lebt er in Olden- burg, trat 2014 den Grünen bei, weil: „Die haben bei Energiepolitik den klarsten Blick.“ 2018 promovierte er zur Optimierung städtischer Ener- giesysteme, arbeitete in Teilzeit als Postdoc für das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt. Als Alhamwi dann vor wenigen Wochen erstmals im Plenarsaal des Bun- destags Platz nahm, habe er Ehre und Stolz gespürt, aber auch eine Er- schöpfung. „Ich kriege Gänsehaut, während ich darüber rede.“ Sehr hart habe er in den vergangenen Jahren gearbeitet. Er sah im Plenarsaal die Leute, die herumliefen und riefen, die Architektur („die Glaskuppel ist energietechnisch super, da kommt so viel Sonne durch“) – „all meine Leidenschaft werde ich dafür geben, um das Grundgesetz hochzuhal- ten“. Er habe sich im Bundestag gleich als Schriftführer gemeldet, „da- mit ich die Geschäftsordnung besser lerne. Keine Ahnung, warum dieser Parlamentsjob bei anderen Abgeordneten eher unbeliebt ist“. In Syrien war Alhamwi der erste in einer großen Familie, der studierte. Die Mutter Krankenschwester, der Vater Beamter – in seiner Verwandt- schaft war akademische Bildung nicht Alltag, auch über Politik sprach man kaum. Doch Alhamwi scheint ein Macher zu sein, arbeitete neben dem Studium in zahlreichen Jobs, mal als Zeitungsausträger, mal als Müllsammler. Und begeisterte sich in jungen Jahren für nachhaltige Energien und Umweltschutz. Er sah mitunter selbst, dass in seiner Hei- matstadt irgendwann die Frösche wegen der Trockenheit verschwanden und dass Migranten aus dem Nordosten Syriens in die Region kamen. In Oldenburg zog er in den Stadtrat ein, wurde 2023 Co-Landesvorsit- zender der niedersächsischen Grünen. Dann der Bundestag. Was auch dazu führt, dass sein Optimismus zuweilen kleine Risse kriegt. Er stockt einen Moment. „Rassismus ist leider Teil meines Alltags.“ Da waren die „Hau ab“-Rufe im Wahlkampf, Beschimpfungen. „Ich gebe alles, damit wir uns integrieren, aber eine gewisse Reserviertheit spürt man stets.“ Doch dann redet er weiter über Sonne, Wind und Strom. Jan Rübel T