Das Parlament | Nr. 38 | 13. September 2025 DAS POLITISCHE BUCH 15 »Die Repressionen sind extrem« Die Gesellschaft von Belarus verschwindet gerade hinter dem neuen Eisernen Vorhang, sagt Buchautor Ingo Petz. Europa sollte etwas gegen die starke Abhängigkeit von Russland tun – im eigenen Interesse Herr Petz, Sie beschäftigen sich als Journalist seit 25 Jahren intensiv mit Belarus, während es sonst kaum Be- richte über das Land gibt. Warum sollten wir die Entwicklungen dort genauer im Blick haben? Belarus fasziniert mich seit Jahrzehn- ten, weil mir nicht in den Kopf geht, weshalb über die komplexe Kultur und Geschichte dieses Landes bei uns so wenig bekannt ist. Aktuell müsste Belarus viel mehr in die geostrategi- schen Gedankenspiele eingebunden werden, nicht nur um die politischen Gefangenen zu befreien. Je länger der Krieg gegen die Ukraine dauert, je stärker die Abhängigkeit von Russ- land wird, desto größer wird auch die Bedrohung, die für Europa von bela- russischem Territorium ausgeht. 2021 war das belarussisch-russi- sche Großmanöver Sapad gewisser- maßen eine Generalprobe für den Angriff auf die Ukraine. Nun beginnt das nächste Manöver dieser Art. Was ist davon zu erwarten? Offiziell sind die Zahlen der beteilig- ten Soldaten ja auf 13.000 runterge- stuft worden, aber damit muss man sehr vorsichtig umgehen. Der Hinter- grund könnte sein, dass der belarus- sische Präsident Lukaschenka ver- sucht, das Land wieder aus der Isola- tion und insbesondere der Abhängig- keit von Russland zu holen. Das ist etwas spekulativ, weil bei diesen Ma- növern natürlich der Kreml das Sagen hat. Aber es passt in das Muster von Lukaschenkas derzeitigen Bemühun- gen. Die Nachbarstaaten Polen und Litauen sind natürlich in Alarmbe- reitschaft, weil seit 2022 durch die Abhängigkeit von Russland die Mili- tarisierung des belarussischen Terri- toriums weit vorangeschritten ist: In Belarus werden russische Truppen ausgebildet, dort wurden strategische Nuklearwaffen stationiert. Und im Zuge des Manövers soll auch der Ein- satz atomwaffenfähiger Raketen si- muliert werden. Wie abhängig ist Belarus heute von Russland? Belarus hat wenig wirtschaftliche Ressourcen, und Lukaschenka hat die Rückendeckung von Russland über Jahrzehnte gebraucht, um sein Sys- tem am Laufen zu halten. Sein Si- cherheitssystem und die Staatsunter- nehmen, das muss alles finanziert werden – und das war möglich durch billiges Gas und Öl aus Russland, das er teuer in Richtung Westen weiter- verkaufen konnte. Aber so fatal und tiefgreifend wie heute war die Abhän- gigkeit nie. Vor 2020, also den großen Protesten, betrieb Lukaschenka seine „Schaukelpolitik” zwischen West und Ost: Um den russischen Einfluss aus- zubalancieren, bandelte er mit den Europäern und den USA an. Seit 2020 geht das nicht mehr, weil er diese ra- dikale Repressionsmaschinerie ange- worfen hat. Von Putin ist er dafür mit Krediten belohnt worden, aber er hängt nun vollkommen am Tropf des Kremls. Besonders seit dem russi- schen Angriff auf die Ukraine sind weitere Stücke der Souveränität von Belarus verloren gegangen. Kann man die wirtschaftliche Ab- hängigkeit beziffern? Die Wirtschaft ist mittlerweile kom- plett auf Russland ausgerichtet. Die Logistik belarussischer Produkte geht zu 70 bis 80 Prozent über russisches Territorium. Zugleich profitiert Bela- rus extrem von der russischen Kriegs- wirtschaft: Dort werden Munition, Uniformen, Optik für Hightech-Waf- fen und so weiter produziert. Ande- rerseits: Wenn in Russland diese Kriegswirtschaft mal zusammen- det gerade hinter dem neuen Eiser- nen Vorhang. Die Menschen haben große Probleme, Schengen-Visa zu bekommen, Polen und Litauen neh- men Belarussen als Sicherheitsrisiko wahr und schließen Grenzübergänge. Die Menschen fühlen sich alleinge- lassen, gleichzeitig ist der Weg nach Russland offen, also die Möglichkeit, dort zu arbeiten oder zu studieren. Das ist für junge Menschen verlo- ckend. Und besonders tragisch, denn 2019 war Belarus mal „Schengenvisa- Europameister”, und diese Kontakte in London, Paris oder Berlin waren auch ein Impuls für die Proteste 2020. Im US-amerikanischen „Ti- me“-Magazin erschien vor kurzem ein Artikel, in dem Lukaschenka sich als „Backchannel“ zwischen Trump und Putin präsentiert. Spielt er denn wirklich eine wichtige Rolle? Politisch spielt er eigentlich keine Rolle, also muss er seinen Wert ir- gendwie steigern. Deshalb sagt er: Keiner kennt Putin so gut wie ich. Wenn ihr ihn verstehen wollt, müsst ihr mit mir sprechen. Aber diese Ge- spräche im Hintergrund zwischen den USA und Lukaschenka gab es schon unter Biden, und seit Juli 2024 wurden 350 politische Gefangene freigelassen. Lukaschenka hofft, dass ernsthafte Verhandlungen zwischen Trump, Putin und Selenskyj in Minsk stattfinden könnten. Aber alles, was bisher nach außen dringt, sind Ver- handlungen über die Freilassung wei- terer politischer Häftlinge. Was unter dem Strich durchaus positiv ist, oder? Auf jeden Fall, denn die Haft- bedingungen sind furchtbar. Die Leute kommen psy- chisch und physisch gemar- tert aus den Gefängnissen. Acht Menschen sind gestor- ben. Aber dass Lukaschenka alle 1.300 politischen Gefan- genen freilässt, glaube ich nicht, denn er braucht sie für Verhandlungen mit der EU. Deren Sanktionen sind für ihn viel drückender als die der USA, er will sie unbedingt loswerden. ZUR PERSON Ingo Petz (51) ist Journalist und Autor mit Schwerpunkt Osteuropa. Seit 25 Jahren beschäftigt er sich insbeson- dere mit Belarus. In diesem Jahr er- schien sein Buch „Rasender Still- stand” Seit 2020 ist Petz Redakteur für das Osteu- ropa-Projekt dekoder. (edition.fotoTAPETA). bricht, wird auch Belarus in die Re- zession gezogen. Weil es eben anders als früher keine Diversifizierung gibt. Lukaschenka ist deshalb sehr daran interessiert, westliche Sanktionen zu- mindest abzumildern, insbesondere um das belarussische Kali, das wich- tigste Exportprodukt, wieder über Aktuell müsste Belarus viel mehr in die geostrategischen Gedan- kenspiele eingebunden werden. INGO PETZ den Westen verkaufen zu können. Das geht alles über russische Häfen. nen Menschen mindestens einmal auf der Straße waren – das ist riesig in einem Land mit damals 9,4 Millionen Einwohnern. Der proaktive Teil die- ser Protestwelle, etwa 600.000 Men- schen, musste ins Exil fliehen, was natürlich zu den Wirtschaftsproble- men und der Abhängigkeit von Russ- land beiträgt. Es gab sogar eine Rück- kehrkommission der Regierung, was zeigt, wie prekär die Lage ist. Die hat aber nicht funktioniert, weil die Men- schen Lukaschenka nicht trauen. Stattdessen führen viele im Exil die- sen Impuls der politischen Selbster- mächtigung von 2020 weiter: Es gibt neu gegründete Nichtregierungsorga- nisationen und Kulturprojekte, und es gibt die politische Führung der Exilanten unter Swetlana Ticha- nowskaja. Lukaschenka wurde gerade in ei- ner Scheinwahl zum siebten Mal Präsident. Was ist fünf Jahre nach den großen Protesten übrig von der Zivilgesellschaft? Wo sind die Hun- derttausenden, die damals protes- tiert haben? Es waren ja nicht nur Hunderttau- sende. Das war wahrscheinlich einer der größten Aufstände der vergange- nen Jahrzehnte. Seriöse Zahlen bele- gen, dass bis Oktober 2020 1,5 Millio- Gibt es in Belarus selbst noch ir- gendwelche Freiräume? Nein. Die Repressionen dort sind so extrem, dass man sich das hier wahr- scheinlich nicht vorstellen kann. Über 60.000 Menschen wurden seit 2020 verhaftet, es gab etwa 8.000 Strafprozesse. Und bis heute werden noch immer fast täglich Menschen verhaftet und zu langjährigen Haft- strafen verurteilt, es reicht schon ein Like auf einer vom Regime als extre- © Privat mistisch eingestuften Facebook-Sei- te. Die Regierung will den Impuls, po- litische Verantwortung zu überneh- men, nicht nur zurückdrängen. Nein, er soll aus den Köpfen entfernt wer- den. Deshalb läuft neben der Repres- sion Ideologisierungswelle durchs Land, auch in den Schulen. eine Und was bekommen die Menschen da eingetrichtert? Früher bemühte sich das Regime, ei- ne demokratische Fassade aufrecht- zuerhalten: Es gab einige unabhängi- ge Medien, eine minimale Oppositi- on. Das ist vorbei. Die Propaganda geht seit dieser Fake-Wahl im Januar 2025 so: Diktatur ist cool, Demokratie verursacht nur Chaos und ist wenig effizient. Unser „Bazka“, also Väter- chen, wie Lukaschenka genannt wird, ist ein cooler Hund. Die Leute, die 2020 auf die Straße gegangen sind, werden sich dem nicht anschließen. Aber je länger die Diktatur dauern wird, desto mehr wird sie die nach- kommenden Generationen prägen. Gelingt es denn Frau Ticha- nowskaja und den anderen Exilan- ten, den Kontakt zu den Belarussen im Land zu halten? Das wird immer schwieriger. Die be- larussische Gesellschaft verschwin- Wäre es richtig, wenn auch die EU wieder mehr Kontakte zum Regime in Belarus suchen würde? Belarus könnte von Putin noch im- mer in diesen Krieg hineingezogen werden. Nach der Verfassung von 1994 war Belarus ja de facto neutral, aber das ist aufgehoben worden seit dem Referendum von 2022 und der Stationierung strategischer Nuklear- waffen. Deshalb sollte die EU sich be- mühen, dieses Risiko zu minimieren. Solange Lukaschenka eigene Interes- sen gegenüber Russland hat, sollte ei- ne geschickte Diplomatie versuchen, die Abhängigkeit in irgendeiner Form zu mindern. Auch zum Wohle des Austauschs zwischen den Exilanten und den Belarussen im Land. Denn auch das würde die Chance auf eine Demokratisierung erhöhen. Das Interview führte Moritz Gathmann. T Der Autor ist freier Journalist in Berlin. Ingo Petz: Rasender Stillstand. Belarus - eine Revo- lution und die Fol- gen. edition.fotoTapeta, Berlin 2025; 192 S., 15,00 €