2 THEMA DER WOCHE Das Parlament | Nr. 42 | 11. Oktober 2025 SPD-FRAKTIONSVIZE SONJA EICHWEDE »Wir sind ein Einwanderungsland« Die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende über Grenzkontrollen, die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, Kompromisse in der Koalition und die Akzeptanz der doppelten Staatsbürgerschaft durch die CDU/CSU Frau Eichwede, die CDU/CSU wird nicht müde, die „Migrationswende“ zu verkünden. Hat sie Recht? Die Bürgerinnen und Bürger erwar- ten zu Recht, dass wir in der Migrati- onspolitik auf der einen Seite Ord- nung und Konsequenz walten lassen und auf der anderen Seite Mensch- lichkeit und Humanität gerecht wer- den. Vor diesem Hintergrund kann man sehen, dass viele Maßnahmen in Gang gesetzt worden sind, die Wir- kung entfalten – nicht nur durch die amtierende Bundesregierung, son- dern auch durch die vorherige: bei- spielsweise die Grenzkontrollen, die seit mehr als einem Jahr erfolgen und vor ein paar Monaten intensiviert wurden mit noch mehr Bundespoli- zisten an der Grenze. Oder wenn wir darüber reden, dass Beschlüsse auch durchgesetzt werden, wenn es zum Beispiel zu Abschiebungen kommt, oder dass darauf geachtet wird, dass sich die Verfahrensdauer verkürzt, damit es schneller Klarheit gibt, wer einen Aufenthaltstitel bekommt. Seit Bundesinnenminister Alexan- der Dobrindt von der CSU im Mai die 2024 von seiner SPD-Amtsvor- gängerin Nancy Faeser angeordne- ten Grenzkontrollen noch intensi- viert hat – Sie sprachen es gerade an –, können auch Asylbewerber zu- rückgewiesen werden. Sie haben das skeptisch gesehen ... Diesen Punkt sehe ich weiterhin kri- tisch, weil ich europarechtliche Be- denken habe, die bereits auch ge- richtlich bestätigt wurden. Darüber diskutieren wir weiterhin in der Ko- alition. So gewichtig diese Fälle sind, muss ich darauf hinweisen, dass es sich beim Großteil der Zurückwei- sungen an den Grenzen um Personen handelt, die unstrittig zurückgewie- sen werden können, und bei vulner- ablen Gruppen selbstverständlich Einreise gewährt wird. Die Frage der Ordnung, aber eben auch der Huma- nität ist sehr wichtig, Ordnung und Humanität müssen in ganz Europa gelten. Deshalb ist uns als Koalition auch wichtig, dass in dieser Woche die Reform des Gemeinsamen Euro- päischen Asylsystems im Bundestag auf den Weg gebracht wurde, denn wir brauchen bei Flucht und Asyl ei- ne europäische Lösung, und die kön- nen wir mit dieser GEAS-Reform er- reichen. Wir müssen wieder zu ver- lässlichen Absprachen kommen, wer für welche Anträge und Verfahren in- nerhalb Europas zuständig ist. Dass das bisherige Dublin-System in den vergangenen Jahren nicht funktio- niert hat, ist deutlich sichtbar. Zu der Reform gehört auch ein „Solidaritätsmechanismus“, wo- nach die EU-Staaten gegebenenfalls Flüchtlinge aufnehmen oder finan- ziellen Ausgleich leisten, um die Län- der an den Außengrenzen zu unter- stützen. Glauben Sie trotz negativer Erfahrungen in der Vergangenheit, dass das im Zweifel funktioniert? Europa ist auf Solidarität aufge- baut. Diese Solidarität ist die Stärke Europas: Dass wir als EU überlegen, wie wir Probleme und Herausforde- rungen gemeinsam angehen können, um sie besser zu lösen, als es jeder Mitgliedstaat für sich allein könnte. Sich darauf zurückzubesinnen und gerade beim Thema Flucht und Asyl miteinander statt gegeneinander zu arbeiten, ist wesentlich. Dazu braucht es diesen Solidaritätsmecha- nismus, bei dem fair verteilt wird und diejenigen, die nicht aufnehmen wol- len, einen finanziellen Beitrag leisten. Das ist ein kluges System. Die GEAS-Reform ermöglicht der Koalition auch eine Regelung, mit der die Bundesregierung per Rechts- verordnung asylrechtlich sichere Herkunftsstaaten bestimmen kann – wozu es bislang ein Gesetz mit Zu- stimmung des Bundesrates braucht. In der Anhörung des Innenausschus- ses wurde am Montag Kritik laut, dass das verfassungswidrig sei. Sol- che Bedenken teilen Sie nicht? Die Bedenken teile ich nicht. Die eu- ropäischen Regelungen eröffnen die- se Möglichkeit. Das Wichtige ist auch nicht, ob die Bundesregierung einen solchen Beschluss fasst oder Bundes- tag und Bundesrat, sondern welche Voraussetzungen für eine Einstufung als sichere Herkunftsstaaten gegeben sein müssen. Und an diesen Voraus- setzungen soll sich schließlich nichts ändern. Das ist das Wesentliche. Wir hatten mehrfach die Situation, dass die Voraussetzungen der Einstufung vorlagen, aber die Entscheidung der © Photothek Media Lab Hochstufung aus anderen Erwägun- gen scheiterte. Das ist auch kein gu- ter Zustand. Ich bin sonst sehr dafür, dass das Parlament Dinge selbst in der Hand hat, aber ob Voraussetzun- gen erfüllt sind oder nicht, kann auch die Exekutive entscheiden. 2024 Gleichzeitig soll die von der „Am- pel“-Koalition eingeführte Pflicht gestrichen werden, in Verfah- ren über Abschiebehaft oder Ausrei- segewahrsam Betroffenen einen Rechtsbeistand zur Seite zu stellen. Wir haben das durchaus für eine gute Regelung gehalten. Die Union sieht das anders, und wir sind in einer Ko- alition, in der man auch Kompromis- se eingehen muss. Dazu gehört in diesem großen Bereich, dass diese Regelung nicht weitergeführt werden soll. Wichtig dabei ist – ich bin ja selbst Richterin –, dass wir darauf vertrauen können, dass die Gerichte in den Verfahren nicht parteiisch ent- scheiden, sondern immer beide Sei- ten im Blick haben und haben müs- sen. Stichwort Kompromisse: Die Ko- alition hat diese Woche im Bundes- tag beschlossen, die ebenfalls von der „Ampel“ gerade erst eingeführte Möglichkeit der „Turbo-Einbürge- rung“ nach nur dreijährigem Auf- enthalt in Deutschland wieder aus dem Staatsangehörigkeitsrecht zu streichen … Ich sehe das anders, nämlich dass unser Koalitionspartner nach vielen, vielen Jahren Diskussion mit diesem Beschluss die Einführung der dop- pelten Staatsangehörigkeit anerkennt und akzeptiert ... ... deren generelle Hinnahme im selben Gesetz steht wie die verkürz- ten Einbürgerungsfristen und an der auch nicht gerüttelt wird ... Die Union war gegen die doppelte Staatsangehörigkeit, aber in den Ko- alitionsverhandlungen sind wir zu der Einigung gekommen, dass von dem neuen Staatsangehörigkeits- recht nur ein ganz kleiner Teil wieder geändert wird, der auch nur sehr sel- ten zum Zug gekommen ist. Damit haben wir eine Anerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft durch alle demokratischen Fraktionen im Bundestag: Das ist eine gute Nach- richt für viele Menschen in Deutsch- land, die seit Jahrzehnten zum Erfolg der Bundesrepublik beitragen und nun auch die Staatsbürgerschaft ha- ben können. Deutschland ist ein Ein- wanderungsland, und wir brauchen Menschen, die hierherkommen, ge- rade vor dem Hintergrund des Fach- kräftemangels. Wir müssen ihnen ei- ne Perspektive bieten und die Chance geben, mit allen Rechten und Pflich- ten Teil unserer Gesellschaft zu wer- den. 25 Prozent der Bevölkerung ha- ben einen Migrationshintergrund – die müssen gesehen werden. Im Koalitionsvertrag ist auch eine angekün- Rückführungsoffensive digt. Der Bundesinnenminister nimmt Gespräche mit den Taliban in Kauf, um regelmäßige Abschiebe- flüge nach Afghanistan zu ermögli- chen. Ist das nicht eine Aufwertung der Taliban? Technische Gespräche gab es immer und sind keine Aufwertung. Für uns gilt aber: Eine Aufwertung des terro- ristischen Regimes der Taliban darf es nicht geben. Das Interview führte Helmut Stoltenberg. T Sonja Eichwede (37) gehört dem Bundestag seit 2021 an und ist in der laufenden Wahlperiode als stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion unter anderem für den Bereich der Innenpolitik zuständig. Der Besucher erscheint zum Termin verspätet, und umgezo- gen hatte er sich auch nicht. Doch darüber zuckt Martin Hess nicht mit einer Wimper, nichts scheint ihn aus der Ru- he zu bringen, bis das Gespräch bei den migrationspoliti- schen Debatten in dieser Bundestagswoche ankommt. Dann ist die Ruhe vorbei. „Das ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, aber kein aus- reichender“, sagt Hess, 54, Abgeordneter der AfD-Fraktion aus Ludwigs- burg, über die Abschaffung der beschleunigten Einbürgerung. „Wir müs- sen jetzt vor allem endlich die illegale Migration stoppen.“ Es ist ein grauer Mittwoch, in seinem Büro muss das Licht gegen Herbst- dunkeln anstrahlen. Auch der ersten Lesung des geplanten Anpassungsge- setzes an das „Gemeinsame Europäische Asylsystem“ (GEAS) kann er nur bedingt Positives abgewinnen: „In seiner jetzigen Form ist GEAS wenig hilf- reich, da das beschleunigte Verfahren nur auf Asylbewerber mit Anerken- nungsquoten von 20 Prozent oder weniger abzielt“, sagt er. „Das erfasst daher nicht Leute etwa aus Afghanistan, Syrien oder Nordafrika, aus deren Gruppen massive Sicherheitsbeeinträchtigungen zu verzeichnen sind.“ Hess ist Polizeihauptkommissar außer Dienst. Der stellvertretende in- nenpolitische Sprecher der AfD-Fraktion legt den Fokus auf Sicherheit. Es ist ein Mantra. Wenn er darüber spricht, wandern die Kanten beider Hände synchron über der Tischplatte auf und ab, als wolle er den Weg für eine Schneise weisen. Und rasch betont er: „Jede Form von Migrati- on, die legal und konstruktiv ist, wird von uns begrüßt.“ Er sei für einen positiven Beitrag der Leute fürs Land, auch von Zuwanderern. PARLAMENTARISCHES PROFIL Der Hüter: Martin Hess Moment, sehen das tatsächlich die meisten in der AfD so, gibt es nicht auch jene, die ein Problem mit einem ausgemachten „Fremden“ an und für sich haben? Hess schüttelt den Kopf. „Ich kenne niemanden, der das so sieht. Das steht auch nicht in unserem Parteiprogramm.“ Das Gespräch könnte an einen toten Punkt gelangen, an dem man sich unterschiedlicher Wahrnehmung versichert, aber mit Hess redet man Wir müssen jetzt vor allem endlich die illegale Migration stoppen. MARTIN HESS (AFD) © picture-alliance/dpa/Simon/Hoermann weiter. Vielleicht liegt es daran, dass er als Polizist ausstrahlt, an die Be- deutung von Recht und Gesetz zu glauben, dass im Rahmen seiner ge- äußerten Empörung ein Gerechtigkeitswille vorprescht – für wen und wofür auch immer. Jedenfalls ist für Hess eine Migration illegal, wenn ein Asylbewerber bei- spielsweise aus Italien oder Ungarn nach Deutschland einreist; was ei- nen Verstoß gegen das Dublin-Abkommen darstellt, nach dem ein Geflo- hener im EU-Erstaufnahmeland zu verbleiben hat. „Wir müssen die Grenzen mit einer entsprechenden Vorlaufzeit für illegale Migration schließen. Dadurch wird ein Dominoeffekt erzielt.“ Und was ist mit jenen rechten Regierungen Europas, die bisher mehr Interesse an der Weiter- reise Geflohener zeigten als an deren Aufnahme und Integration? „Das ist dann das Problem dieser Regierungen, nicht unseres.“ Hess argumentiert streng juristisch. Ob damit alles Politische ausge- leuchtet wird, ficht ihn nicht an. „Ich bin Realpolitiker. Können wir uns darauf verständigen, dass ich mir als Innenpolitiker keine Gedanken über eine ideale Welt machen muss? Ich muss die Probleme meiner ei- genen Bürger lösen.“ Von denen sah er in seinem früheren Leben einige. Gleich nach dem Abi schrieb er seine erste und einzige Bewerbung – für den Polizeidienst. Er war auf Streife unterwegs, in der Bereitschaftspolizei, in Festnahmeein- heiten. Er tauchte auf, wo etwas schiefging im Land, unter den Leuten. Das mag prägen. Jedenfalls trat er zwei Monate nach der Gründung der AfD im April 2013 in die Partei ein. „Ein Rechtsbruch war mein Hauptmo- tiv, nämlich die Euro-Rettung.“ Weitere Brüche aus seiner Sicht folgten, wie der des Dubliner Abkommens. „Wir können uns nicht um das Elend der ganzen Welt kümmern. Das ist etwas für Philosophie-Salons.“ Bleibt die Frage, ob das ausreicht. Ob man sich Politiker nicht häufiger in Philo- sophie-Salons wünscht. Am Ende des Gesprächs haben die Handkanten- schläge auf den Tisch aufgehört. Hess legt nun die Innenflächen zusam- Jan Rübel T men wie zu einem Gebet.