Das Parlament | Nr. 50-51 | 06. Dezember 2025 Mercosur-Handelsabkommen EUROPA UND DIE WELT 15 Gigantischer Wirtschaftsraum mit Risiken Seit 25 Jahren verhandelt die EU mit Staaten in Lateinamerika über ein Freihandelsabkommen. Ob der Deal besiegelt werden kann, bleibt offen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) hat die Reise schon geplant. Vier Tage vor Heiligabend will sie nach Brasilien fliegen und dort ih- re Unterschrift unter das Freihan- delsabkommen mit den Mercosur- Staaten Brasilien, Argentinien, Para- guay und Uruguay setzen, über das seit 1999 verhandelt wird. Doch ob alles nach Plan verläuft, ist offen. Die Staats- und Regierungschefs müssen beim letzten EU-Gipfel des Jahres 2025 noch ihre abschließende Zu- stimmung zu dem Abkommen ge- ben. Anschließend muss das Euro- päische Parlament (EP) das Abkom- men ratifizieren, wahrscheinlich wird es im März abstimmen. Eine klare Mehrheit für das Freihandelsabkom- men steht bisher nicht. Sorge vor Konkurrenz bei Rindfleisch, Zucker und Eiern Ein erster Stimmungstest könnte die Abstimmung über die Schutzklauseln für Agrarimporte am 16. Dezember im EP werden. Die Klauseln sollen si- cherstellen, dass die europäische Landwirtschaft nicht übermäßig un- ter dem Handelsdeal leidet. Sollte die Konkurrenz aus Lateinamerika bei Gütern wie Rindfleisch, Eiern und Zucker den europäischen Markt stark beeinträchtigen, wie Kritiker befürch- ten, soll die EU-Kommission künftig eingreifen können. Sie hat diese Maßnahmen vorgeschlagen, um Mit- gliedstaaten wie Frankreich, Irland und Polen zu besänftigen. von Mercosur Die schwärmen von einem gigantischen Handelsraum, der entstehen würde, mit annähernd 800 Millionen Men- schen. Das entspricht rund einem Fünftel der Weltwirtschaft. Graduell sollen die Zölle abgebaut werden: 91 Prozent der Zölle von EU-Expor- ten in Richtung Mercosur sollen ent- fallen, in der Gegenrichtung sogar 92 Prozent. Vier Milliarden Euro an Zöllen würden für Exporteure in den Befürworter land allerdings überproportional pro- fitieren, vor allem die Autoindustrie erhofft sich besseren Zugang zu Ab- satzmärkten. Die europäische Indus- trie setzt außerdem auf einen besse- ren Zugang zu wichtigen Rohstoffen wie Lithium und Kupfer, essenziell für Elektromobilität und Technolo- gien für erneuerbare Energien. Bauernverband warnt vor geringeren Lebensmittelstandards Die Zivilgesellschaft steht dem Ab- kommen skeptisch gegenüber. Die Deutsche Gesellschaft für bedrohte Völker warnt vor Gesundheitsrisiken auf beiden Seiten des Atlantiks. In Brasilien sei die Pestizid-Nutzung in den vergangenen zehn Jahren um 78 Prozent gestiegen. Das Abkommen schaffe außerdem Zölle auf Pestizid- importe in die Mercosur-Länder ab. „Davon profitieren Chemieunterneh- men wie Bayer, BASF und Alzchem.“ Mehr als die Hälfte der Substanzen, die beim Anbau von Mais in Mercosur erlaubt seien, dürften in der EU nicht verwendet werden, argumentiert der europäische Bauernverband Copa- Cogeca, der Demonstrationen gegen Mercosur angekündigt hat. Die Befürworter des Deals im Parla- ment werben um Zustimmung. Der Vorsitzende des Handelsausschusses im EP, Bernd Lange (SPD), sieht bei 200 bis 250 Abgeordneten im linken und rechtspopulistischen Lager Fun- damentalopposition. „Es bleiben 500 Abgeordnete, um die man ringen muss.“ Der Niedersachse gibt sich zuversichtlich, eine Mehrheit für Mercosur im EP erreichen zu können. Am 20. April 2026 wird der brasiliani- sche Präsident Lula da Silva auf der Hannover-Messe erwartet, um das Partnerland Brasilien zu vertreten. Bis dahin, so Lange, sollte der politi- sche Prozess rund um Mercosur end- lich abgeschlossen sein. Silke Wettach T Die Autorin ist freie Korrespondentin in Brüssel. In Frankreich gibt es regelmäßig Proteste gegen Mercosur. Landwirte fürchten insbesondere billige Rindfleischimporte aus Südamerika. Ende November forderte die Nationalversammlung die Regierung auf, gegen das Abkommen zustimmen. © picture-alliance/abaca/PaoloniJeremy EU-Ländern pro Jahr entfallen, prog- nostiziert die EU-Kommission. In einer Zeit, in der US-Präsident Do- nald Trump den transatlantischen Handel mit Zöllen belastet, halten manche das Mercosur-Freihandels- abkommen für eine wichtige Alterna- tive. „Wer enttäuscht ist von Trump, der muss für solche Abkommen stim- men“, findet Manfred Weber, Vorsit- zender der Christdemokraten im EP. Sein spanischer Parteifreund Gabriel Mato, im EP zuständig für Mercosur, sieht darin ein „strategisches Instru- ment“. Er hält Nichtstun für keine Option: „Jede Verzögerung bedeutet, dass Arbeitsplätze nicht entstehen, Märkte nicht geöffnet werden, Inves- titionen verloren gehen und Europas Stimme geschwächt wird gegenüber anderen globalen Akteuren.“ Auch Matos Landsfrau Iratxe García Pérez, Vorsitzende der Sozialdemo- kraten im EP, befürwortet das Ab- kommen. Ihre Fraktion ist jedoch tief gespalten. Die Grünen lehnen Merco- sur in seiner aktuellen Form ab. Anna Cavazzini, Vorsitzende des Binnen- marktausschusses im EP, hält es für „stark fehlerbehaftet“. Sie wirbt da- für, dass Handelsabkommen nicht nur nach ihrer strategischen Notwen- digkeit beurteilt werden, sondern nach ihrem Inhalt. Konkret befürch- tet Cavazzini, dass Mercosur die Ent- waldung, etwa im Amazonas, be- schleunigen könnte. Es gebe keine Handhabe, wenn Umweltstandards missachtet würden, warnt sie. Ökonomen wie Rolf Langhammer, ehemaliger Vizepräsident des Kiel In- stituts für Weltwirtschaft, betonen dagegen, dass die EU ihre Standards den Partnerländern nicht aufdrängen könne, da europäische Vorstellungen „Einmi- von Nachhaltigkeit als schung“ empfunden würden. Ziel- führender sei es, mit EU-Mitteln na- türliche Ressourcen zu schützen oder Technologien zu finanzieren, die nachhaltige Produktionsweisen er- möglichten. „Der auf der Weltklima- konferenz in Belém verabschiedete Regenwald-Fonds weist in diese Richtung“, sagt Langhammer. Deutschland würde als Exportland überproportional profitieren In einer Studie für das Europäische Parlament kommen Ökonomen zu dem Ergebnis, dass die Mercosur- Länder stärker von der Marktöffnung profitieren würden als die EU. Das Abkommen würde die Wirtschafts- leistung in der EU den Schätzungen zufolge um 0,1 Prozent erhöhen, in den Mercosur-Ländern um 0,3 Pro- zent. Deutschland würde als Export- Interview zum Freihandelsdeal mit Lateinamerika »Ich sehe ein großes Wachstumspotenzial« Die FDP-Politikerin Svenja Hahn macht sich für Mercosur stark. Gerade für die deutsche Wirtschaft könnte es neue Absatzmärkte öffnen Frau Hahn, wie wird sich das Eu- ropäische Parlament (EP) zu Merco- sur positionieren? Zunächst entscheiden wir über die Schutzmechanismen, 2026 über das ganze Abkommen. Ich bin optimis- tisch, dass eine Mehrheit für die Schutzmechanismen stimmen wird, die weitreichendsten, die es je in ei- nem Freihandelsabkommen gab. Die EU-Kommission hat sie mit Ländern wie Frankreich, Polen und Irland er- arbeitet, die Mitgliedstaaten haben sie einstimmig verabschiedet. Selbst Kollegen, die dem Abkommen kri- tisch gegenüberstehen, sollten diese Mechanismen begrüßen. Konkret sollen bei Gütern wie Rind- fleisch, Huhn und Zucker die Importer- leichterungen entfallen, wenn der EU- Markt leidet. Viele Jahre wurde fast nur über Agrarthemen gestritten. War das die falsche Debatte? Die Debatte hat sich auf Landwirt- schaft fokussiert, obwohl das nur ein Teil des Abkommens ist. Und die Neuerungen sind da nicht enorm: Die Quoten für Rindfleisch betragen gut 200 Gramm pro Person pro Jahr in der EU, also ein Steak, das zu niedrigeren Zöllen auf den Markt kommt. Beim Freihandelsabkommen mit Kanada (CETA) haben sich Befürchtungen, dass der EU-Rindfleischmarkt ver- zerrt würde, nicht bewahrheitet. Nach der aktuellen Auswertung zu fast zehn Jahren Handel unter CETA wer- den nur rund zwei Prozent der Rind- fleischquoten genutzt. Sollte es zu Verzerrungen kommen, wird ein Aus- gleichsfonds Abhilfe schaffen. Welche Chancen bietet Mercosur für die Industrie? Ich sehe ein großes Wachstumspo- tenzial. Aktuell schotten die Merco- sur-Länder ihre Märkte stark ab, zu- gleich besteht ein hoher Modernisie- rungsbedarf. Noch entfallen dort ho- he Zölle, auf Autos etwa 35 Prozent, auf Maschinenprodukte bis zu 20 Prozent, auf Chemieprodukte bis zu 18 Prozent. Das sind Bereiche, in de- nen die deutsche Wirtschaft stark ist, und wo neue Absatzmärkte entstehen können. Rund 240.000 in Deutschland hängen aktuell an den Mercosur-Staaten, 10.000 deutsche Mittelständler exportieren dorthin. Jobs Der wissenschaftliche Dienst des EP prognostiziert nur ein Plus der Wirtschaftsleistung in der EU von 0,1 Prozent dank Mercosur. Es gibt keinen Zauberstab, um die eu- ropäische Wirtschaft zu retten. Aber jedes weitere Handelsabkommen ist ein wichtiger Beitrag für Wachstum und sichere Arbeitsplätze. Gerade wenn im Welthandel immer mehr das Recht des Stärkeren gilt, dann zeigt die EU mit Mercosur, dass wir mit Partnern nach klaren Regeln handeln wollen. Und in Zeiten, in denen viele Länder Zölle hochsetzen, ist es ein starkes Signal, sie bewusst zu senken. Haben Sie den Eindruck, dass Skeptiker im EP umdenken, weil sich die Welt gerade verändert? Die Diskussion zeigt, wie polarisiert die Handelsdebatte ist. Globalisie- rungsgegner schwenken jetzt nicht abrupt auf eine Pro-Freihandels- Agenda um. Gleichzeitig glaube ich, kann sich niemand vor der Realität verschließen. Wir haben zuletzt im- mer wieder gesehen, wie fragil unsere Lieferketten sind. Auch deswegen ist es wichtig, dass im Mercosur-Han- delsabkommen ein bevorzugter Zu- gang zu kritischen Rohstoffen vorge- sehen ist. Im Bereich Sicherheit und Verteidigung brauchen wir Zugang zu diesen Rohstoffen, aber auch im Be- reich Gesundheit. Für Herzschrittma- cher benötigen wir kritische Rohstof- fe wie Platin. Es ist geopolitisch, öko- nomisch sicherheitspolitisch notwendig, dass wir dieses Abkom- men vorantreiben. und Im EP sind viele Fraktionen ge- spalten, weil die Standpunkte natio- nal geprägt sind. Wie sieht das bei den Liberalen aus? Stimmt, das ist eine sehr national ge- prägte Debatte. Unsere liberale Frak- tion stellt sich positiv zum Handels- abkommen auf. Es gibt allerdings Kol- legen, besonders aus Frankreich und Irland, die noch besorgt sind. Auch die europäische Bevölkerung ist von Mercosur noch nicht über- zeugt. Wie wollen Sie das ändern? Mich macht ehrlicherweise in der De- batte fassungslos, wenn so getan wird, als gäbe es gar keinen Handel ohne Freihandelsabkommen. Es fin- det Handel statt, aber zu wesentlich schlechteren Konditionen. Ein Han- delsabkommen schafft immer besse- re Bedingungen als der Status quo. Wir haben in der Vergangenheit gese- hen, dass Menschen Angst gemacht wurde, gerade bei der Qualität von Lebensmitteln. Ich glaube, da muss man Sorgen und Bedenken adressie- ren, aber man muss auch sagen, un- sere Gesundheitsstandards ändern sich nicht. Auch mit Handelsabkom- men dürfen gefährliche Produkte nicht in unsere Märkte. Was erwarten Sie bei der Abstim- mung zur Ratifizierung im EP? Ich gehe davon aus, dass eine Mehr- heit für das Abkommen stimmen wird, da viele im EP eine stärkere geopolitische Zusammenarbeit für notwendig halten und auch das Po- tenzial für die europäische Wirtschaft sehen werden. Das Gespräch führte Silke Wettach. T Svenja Hahn ist seit 2019 Abgeordnete im Europäischen Parlament und gehört der liberalen Renew Europe Fraktion an. Die FDP-Politikerin sitzt im Ausschuss für Internationalen Handel sowie im Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz. Svenja Hahn (FDP) ©Svenja Hahn