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Die Last der Entscheidung

Zweiter Weltkrieg Ian Kerhaw über die schicksalhaften Weichenstellungen in den Jahren 1940/41

05.01.2009
2023-08-30T11:23:42.7200Z
4 Min

Gelungene Geschichtsschreibung kann auch am Küchentisch ihren Anfang nehmen. So war es im Fall von "Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg" des britischen Historikers Ian Kershaw. Der Filmproduzent Laurence Rees war zu Besuch beim gefeierten Hitler-Biografen Kershaw. Die beiden Herren unterhielten sich beim Tee, als Rees bemerkte: "1941 war das folgenreichste Jahr der modernen Geschichte." Dieser Gedanke ließ Kershaw nicht mehr los. Er forschte, recherchierte und schrieb. Das Ergebnis liegt jetzt in den Buchhandlungen.

Kershaw analysiert auf mehr als 700 Seiten zehn politische und militärische Entscheidungen zwischen Mai 1940 und Dezember 1941. In diesen Monaten wurden die Weichen dafür gestellt, dass sich der europäische und der asiatische Krieg zu einer globalen Auseinandersetzung verbanden. Drei Entschlüsse wurden von Hitlers Regime gefasst: Die Sowjetunion anzugreifen, den USA den Krieg zu erklären und die europäischen Juden zu ermorden. Auch die Entscheidung Großbritanniens, nach der französischen Niederlagen weiterzukämpfen, Roosevelts Unterstützung der Briten, Stalins Ignorieren des deutschen Aufmarschs und Japans Angriff auf Pearl Harbour.

"Unter welchen Einflüssen standen die Entscheidungsträger?", fragt der 65-jährige Historiker. Und: Wie rational waren die Entschlüsse? Gab es unter Umständen Alternativen? Im Zentrum von Kershaws Analyse stehen die weltpolitischen Akteure. Warum entschieden Hitler, Stalin, Mussolini, Roosevelt, Churchill und der japanische Ministerpräsident Tojo so, wie sie es taten und nicht anders? "Ohne die Einzelpersonen wäre die Geschichte anders verlaufen", schreibt Kershaw. "Aber wie anders? Die Rolle des Einzelnen gegenüber den unpersönlichen äußeren Determinanten der Veränderung ist ein ewiges Rätsel bei der Interpretation von Geschichte."

Angriff auf die Sowjetunion

Andere Rätsel der Geschichte löst der Autor. Zum Beispiel die heute vielen Zeitgenossen strategisch unsinnig erscheinende Entscheidung Hitlers, mitten im Krieg gegen England die Sowjetunion zu überfallen und einen Zweifrontenkrieg zu führen. Bereits am 31. Juli 1940 hatte Hitler seinen Generälen verkündet: "Ist aber Russland zerschlagen, dann ist Englands Hoffnung getilgt." Sicher, der "Führer" der Deutschen hätte vor dem Angriff im Osten gerne mit den Engländern Frieden geschlossen - nach seinen Bedingungen versteht sich. Aber Großbritannien zeigte sich kompromisslos und "unvernünftig". Und nach Hitlers Überzeugung arbeitete die Zeit gegen das Deutsche Reich: Noch war seine Position stark, doch die Gegner Deutschlands rüsteten immer schneller auf und langfristig betrachtet war für Hitler ein Krieg gegen die Vereinigten Staaten unausweichlich. Mit einem schnellen Sieg über die Sowjetunion wollte er sich für diese große Auseinandersetzung eine ideale Ausgangsbasis verschaffen. Gleichzeitig war die Vernichtung des "jüdischen Bolschewismus'" in der Sowjetunion und die Eroberung von "Lebensraum im Osten" Kern seiner Ideologie.

Hier leistet Kershaw beste Aufklärungsarbeit als Historiker. Denn er macht Motive und Logik der Akteure aus deren damaligen Blickwinkel heraus deutlich. Nebenbei räumt er auch mit dem Mythos vom größenwahnsinnig agierenden "Dämon" Hitler auf. "Die schicksalhaften Entscheidungen sind aus der Perspektive der damaligen Zeit durchaus logisch zu verfolgen", erklärte Kershaw kürzlich in einem Interview mit der "Rheinischen Post". "Natürlich war die gedankliche Basis Hitlers - besonders sein Judenhass - völlig irrational. Aber wenn man dieses Gedankengut als Basis akzeptiert, dann besitzen Hitlers Schlussfolgerungen eine gewisse Logik. Der Angriff auf die Sowjetunion und die Kriegserklärung an die USA waren in diesem Sinne keinesfalls wahnsinnige Blitzideen Hitlers, sondern aus seiner eigenen Sicht Ableitungen aus den Ereignissen."

Churchills Durchhaltewillen

Wie ein roter Faden zieht sich durch Kershaws zutreffende Analysen die Frage nach alternativen Handlungsoptionen. Seine "Was-wäre-wenn"-Szenarien geraten nicht zu wilden Spekulationen, sondern helfen, Rahmenbedingungen und Tragweite der Entscheidungen richtig einzuordnen. Ein Beispiel: Was wäre geschehen, wenn die Briten nach der Niederlage Frankreichs keinen Durchhaltewillen bewiesen hätten. Anders als es Winston Churchill später in seinen Memoiren dargestellt hatte, bezweifelten einige Entscheidungsträger Großbritanniens angesichts des deutschen Siegeszugs, dass der Krieg erfolgreich zu überstehen sei. Einer der Befürworter eines Ausgleichs mit den Deutschen war Außenminister Halifax. Wäre er statt Churchill ans Ruder gekommen, hätte die Politik Großbritanniens unter Umständen anders ausgesehen. Hier kam der Einfluss der Persönlichkeiten auf die Geschichte zur Geltung. "Es war für das Land also ein Glücksfall, dass nicht Halifax, sondern Churchill Premierminister wurde", schreibt Kershaw.

Dieses Beispiel zeigt: Die Geschichte ist keine Einbahnstraße. "Zwei Jahre lang, von Sommer 1940 bis zum Herbst 1942, war der Ausgang des Krieges keineswegs sicher. Es war eine knappe Angelegenheit - knapper als häufig angenommen wird", lautet Kershaws Fazit. Sein Verdienst ist es, dem Leser auf fesselnde Weise vor Augen zu führen, dass die entscheidende globale Auseinandersetzung des 20. Jahrhunderts auch anders hätte ausgehen können.

Ian Kershaw:

Wendepunkte. Schlüsselentschei-dungen im Zweiten Weltkrieg.

Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008; 768 S., 39,95 €