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»Ein gigantisches Grab«

Roman Eine Abrechnung mit Chinas dekadenter Mittelschicht

12.10.2009
2023-08-30T11:24:09.7200Z
2 Min

Das von Mao über Jahrzehnte in planwirtschaftliche Fesseln gelegte China existiert schon lange nicht mehr. Der gegenwärtige Boom mit jährlichen Zuwachsraten von durchschnittlich zehn Prozent hat wie im kapitalistischen Westen einerseits Wohlstand und exorbitante Verdienstmöglichkeiten eröffnet, andererseits aber eine Entwicklung ausgelöst, in der Solidarität und Mitmenschlichkeit keine allzu große Rolle mehr spielen. So jedenfalls schildert Murong Xuecun, einer der aufstrebenden jungen chinesischen Autoren, in seinem Roman "Chengdu, vergiss mich heut Nacht" das Leben in einer der glitzernden Millionenstädte im Westen Chinas.

Der Autor hat einige Jahre als Verkaufsmanager in einer Autofirma gearbeitet, ähnlich wie Chen Zhong, die Schlüsselfigur des Romans. Chen ist äußerst erfolgreich, setzt Millionen in seiner Firma um, verplempert jedoch seine Freizeit mit Glücksspiel und billigem Sex. Was er verdient, wird schnell wieder ausgegeben, und wenn die Kohle nicht reicht, werden illegale Geschäfte getätigt, wird Geld unterschlagen oder die eine oder andere Abrechnung gefälscht. Seine zwei Kumpel, der drogensüchtige Börsianer Li Liang und der korrupte Polizist Wang, stehen ihm in nichts nach.

Chens Leben ändert sich dramatisch, als der fette und intrigante "Arschkriecher" Dong zum Generaldirektor aufsteigt und damit unmittelbarer Vorgesetzter wird. Chen legt sich erfolglos mit dem "Saukopf" an, will ihn erledigen, zieht aber dabei letztlich den Kürzeren. Am Ende verliert er seinen Job, da er der Firma mehrere Jahresgehälter schuldet und keine Chance hat, das Geld je zurückzuzahlen. Zudem verlässt ihn seine Frau, als sie ihn in flagranti mit einer anderen überrascht. Nun erscheint ihm die Stadt Chengdu "wie ein gigantisches Grab" mit Menschen, "die langsam auf das Gewölbe des Todes zugehen", und er erkennt, dass sich hinter dem Glamour der Stadt "ein beißender Gestank" ausbreitet, der "wie Harnsäure jede Seele zersetzt".

Morungs Roman, zunächst nur im Internet erschienen, hat inzwischen Millionen chinesischer Leser begeistert, die vor allem von einer Sprache angetan waren, die vor keinem Tabu zurückschreckt und schonungslos enthüllt, was momentan in der dekadenten wohlhabenden Mittelschicht Chinas abläuft.

Murong Xuecun:

Chengdu, vergiss mich heut Nacht.

Verlag Zweitausendeins, Frankfurt/M 2009; 316 S., 22 €