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Schmaler Grat

VÖLKERMORD Ben Kiernan gräbt nach den gemeinsamen Wurzeln des Genozids in der Weltgeschichte

09.11.2009
2023-08-30T11:24:12.7200Z
5 Min

Sind Völkermorde vorhersehbar, eventuell sogar zu verhindern? Wenn ja, welche Parameter müsste das völkerrechtliche Frühwarnsystem hierfür bereit halten, welches Vorwissen die verantwortlichen Wächter des Weltfriedens parat haben? Hilft es, die stets "wiederkehrenden Ursachen und Symptome" von Genoziden zu diagnostizieren, wie es der Historiker Ben Kiernan in seiner groß angelegten Geschichte des Völkermords praktiziert hat? Und zwar am Beispiel des vernichtenden Siegs der Römer über die Karthager oder an der Ausrottung der Indianer durch die europäischen Siedler bis hin zum Holocaust und den Terroranschlägen von Al-Qaida.

Gewiss kann der Blick zurück den Blick für gegenwärtige und sich anbahnende Völkermorde schärfen. Doch lässt sich anhand der "vier verräterischen Merkmale von Genoziden", die laut Kiernan fast allen Völkermorden gemein sind, das massenhafte Morden auf allen Kontinenten und zu allen Zeiten wirkungsvoll prognostizieren? Ob die Verklärung der Antike, des Ackerbaus, der rassischen Überlegenheit und territoriale Expansionsgelüste durch die Aggressoren sichere Indizien für einen sich ankündigenden Völkermord sind, bleibt eher fraglich. Ist doch das Geflecht der Tatmotive und Tätergruppen im Ernstfall weit undurchsichtiger, als aus der historischen Distanz betrachtet. Dennoch können Kiernans universale Erkennungsmerkmale dazu beitragen, die UN-Menschenrechtskonventionen vielleicht präziser und umfassender zu gestalten. Die Diagnose der "Obsessionen", der "Antriebe des Strebens nach Herrschaft und Gewalt" und der "ideologischen Präferenzen" allein wird Genozide jedoch kaum verhindern. Zumal die Täter selten von rationalen Motiven gesteuert, sondern vielmehr vom "Utopischen, Unbestimmten, Irrationalen" gelenkt werden, wie der Gründungsdirektor des "Genocide-Studies"-Programms selbst feststellt.

Kolonisierung

Es ist vielmehr eine Scheinrationalität, mit der Regierungen, Militärs und Diktatoren aber auch Privatpersonen immer wieder versuchen, ihre Gräueltaten vor anderen zu legitimieren und zu verteidigen. Genau dieser Schein von Vernunft und Überlegenheit kennzeichnet die vier verräterischen Merkmalen, die Kiernan sowohl bei der Eroberung der Neuen Welt durch die Spanier in der Frühen Neuzeit als auch bei der Kolonisierung Amerikas, Australiens und Afrikas zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert ausmacht. Auch bei den Genoziden der letzten 100 Jahre lassen sich die Überhöhung der Antike, des Ackerbaus und der eigenen Rasse mehr oder weniger stark ausgeprägt finden. Oft bedingen und verstärken sich diese Motive, bis sie eine explosive Mischung ergeben. Ideologische Präferenzen sind jedoch nicht immer Auslöser für unmittelbare Gewalt und Grausamkeit. Insbesondere die Raubzüge der Spanier in der Karibik oder in Mexiko, aber auch die gewaltsame Landnahme der europäischen Siedler auf drei Kontinenten basierte oftmals auf Habgier, Hass und Herrschaftssicherung. Selbst in ideologisch so verhärteten Regimen wie dem sowjetischen, dem nationalsozialistischen oder dem maoistischen waren Rache- und Machtgelüste das eigentliche Antriebsmoment von Anstiftern und Tätern.

Insofern reichen die "vier verräterischen Merkmale von Genoziden" vermutlich nicht aus, um alle hier skizzierten Völkermorde erschöpfend zu erklären. Kiernans ideologiegeschichtliche Perspektive eignet sich dazu, die Konflikte einleuchtend zu kategorisieren und Gemeinsamkeiten wie auch Trennendes sichtbar zu machen. Die psychosozialen Momente der Vernichtungsaktionen hingegen treten nicht immer so deutlich hervor. Allein in den Kapiteln zum Siedlerkolonialismus lässt er Täter wie Opfer gleichermaßen zu Wort kommen und die affektgeladenen Momente des Konflikts aufscheinen.

Überraschend ist allerdings weniger wie unerbittlich der ungleiche Kampf zwischen den Europäern und den indigenen Völkern geführt wurde, sondern die Hartnäckigkeit, mit der sich Vorurteile angeblich zivilisierter Politiker gegenüber angeblich minderwertigen Völkern halten. Wenn US-Präsident Theodore Roosevelt Anfang des 20. Jahrhunderts die Vernichtung der Indianer indirekt rechtfertigte und sagte "Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass nur ein toter Indianer ein guter Indianer ist, aber ich glaube doch, dass dies auf neun von zehn zutrifft, und auch den zehnten möchte ich lieber nicht genauer ansehen", dann wird der schmale Grad zwischen Zivilisation und Barbarei sichtbar.

Unbeantwortete Fragen

Ben Kiernan beweist aber nicht nur am Beispiel ganz unterschiedlicher Konstellationen, Politiken und Persönlichkeiten, dass sich die Wurzeln des Genozids überall finden lassen. Er zitiert immer auch zeitgenössische Kritiker, die vor allem aus christlichen, humanitären oder juristischen Gründen den Massenmord an Ethnien, religiösen Gruppen, Gesellschaftsschichten oder Oppositionellen verurteilten. Ihre Argumente und ihr Einfluss erreiche jedoch niemals die Stärke der Ressentiments und Gewalt der Aggressoren. Wieso universale Werte wie Gleichheit, Freiheit und Menschlichkeit sich gegenüber irrationalen und einseitigen Werten nur selten durchsetzen, weiß Kiernan genauso wenig zu beantworten wie die Frage nach der moralischen Mitschuld der Weltgemeinschaft, die spätestens im 20. Jahrhundert einzelne Völkermorde hätte verhindern können. Nicht erst die Historiker von heute, sondern bereits die Zeitgenossen von damals konnten erkennen, dass die Jungtürken die Armenier, die Nationalsozialisten die Juden und Kambodschas Diktator Pol Pot die intellektuellen Eliten im eigenen Land vernichten wollten.

So beeindruckend weit sich Kiernans Perspektive historisch, geografisch und politisch auch spannt, so beengt scheint sein Blick mitunter, wenn er akribisch nach den "vier verräterischen Merkmalen" Ausschau hält, die in der Tat konstitutiv für den Völkermord sind. Trotz der zahlreichen Zitate, in denen die Aggressoren ein Loblied auf die Antike, das Landleben oder ihre eigene Rasse anstimmen, wird nicht immer deutlich, wie präsent und ausschlaggebend die glorifizierten Ideologien und hässlichen Feindbilder für die Mörder vor Ort waren. Sie erklären auch nicht die oftmals sadistische Grausamkeit einzelner Täter oder Tätergruppen, die vermutlich noch tiefere Wurzeln hat. Für frühere Zeiten ist eine Rekonstruktion dieser Motive kaum zu leisten. Für die Konflikte der letzten Jahre hingegen schon. So hat sich Daniel G. Goldhagen erst kürzlich auf den Weg zu den Tatorten jüngst vergangener Genozide gemacht und etwa mit Hutus gesprochen, die 1994 innerhalb von nur drei Monaten etwa 75 Prozent der in Ruanda lebenden Tutsi-Minderheit getötet haben. Vorsichtigen Schätzungen zufolge massakrierten sie wenigstens eine halbe Million Menschen. Nicht nur, um eine "ethnische Hutu-Reinheit", eine "Hutu-Antike"oder die "Vorherrschaft der Bauern" herzustellen, sondern vielfach im Blutrausch und als verspätete Rache an der vorkolonialen Herrschaft der Tutsi.

Porträt der Täter

Bei der Kategorisierung der Konflikte nach bestimmenden Merkmalen wäre es hinsichtlich der Prävention durchaus sinnvoll, zwischen einseitigen und beidseitigen Aggressionen zu unterscheiden. Während der Holocaust und der Sowjetterror nur einen Aggressor kennt, war das unentschuldbar mörderische Verhalten der Hutu-Mehrheit auch eine Reaktion auf die langjährige Unterdrückung durch die Tutsi-Minderheit. Gewalt rechtfertigt in keinem Falle Gegengewalt. Doch um Konflikte erkennen und schlichten zu können, müssen die Vorgeschichte sowie die Befindlichkeiten beider Seiten berücksichtigt werden. Auch Kiernan beleuchtet den historischen Hintergrund der genozidalen Massaker und Massenmorde, beschränkt sich aber meist auf das ideologische Porträt der Täter, um die gemeinsamen Wesenszüge scheinbar ganz unterschiedlicher Regime erkennbar zu machen.

Dass Kiernan in seiner profund recherchierten und anregend formulierten Darstellung den Siedlerkolonialismus äußerst ausführlich betrachtet, aber den größten Genoziden im 20. Jahrhundert, dem nationalsozialistischen, dem sowjetischen oder dem maoistischen vergleichsweise wenig Beachtung schenkt, ist vielleicht der einzig wirkliche Wermutstropfen. Analysiert man die jüngsten Völkermorde nämlich intensiver, sind neben den alten auch neue Merkmale und Muster zu erkennen, die ganz im Sinne Kiernans neue Gräueltaten vielleicht vorhersehbarer machen.

Ben Kiernan:

Erde und Blut. Völkermord und Vernichtung von der Antike bis heute.

Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009; 912 S., 49,95 €