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Rechen(bei)spiele

GRUNDSICHERUNG Die Hartz IV-Regelsätze für Kinder müssen neu berechnet werden. Noch ist unklar, wie

25.05.2010
2023-08-30T11:25:56.7200Z
3 Min

Was braucht ein Kind zum Leben? Oder, genauer gefragt: Wieviel Geld brauchen Eltern, damit sie die Bedürfnisse ihrer Kinder nach Essen, Wohnung, Kleidern und Schuhen, aber auch nach Bildung und Entwicklung abdecken können? Diese Frage führt seit der Einführung des Arbeitslosengeldes II, besser bekannt als "Hartz IV", am 1. Januar 2005 zu erbitterten Diskussionen zwischen den Parteien, zwischen Sozialverbänden und Ministerien, zwischen Betroffenen und Steuerzahlern. Wie hoch der Hartz IV-Regelsatz für Kinder sein soll, darüber herrschte auch in der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales am vergangenen Montag Uneinigkeit zwischen den Fraktionen - und den geladenen Experten.

»Enormer Aufwand«

Doch die Zeit läuft: Am 9. Februar dieses Jahres hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entschieden, dass die aktuelle Berechnung der Kinder-Regelsätze verfassungswidrig sei. Bis Ende des Jahres haben die Parlamentarier Zeit, eine neue Regelung zu verabschieden. Bislang haben die Regierungsfraktionen keinen Entwurf vorgelegt; in der Anhörung wurden zwei Oppositionsanträge diskutiert, vorgelegt von der SPD (17/880) und Bündnis 90/Die Grünen (17/675).

Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Urteil besonders die fehlende Transparenz bei der Berechnung der Kinder-Regelsätze kritisiert. Denn als die rot-grüne Koalition 2005 Hartz IV einführte, legte sie fest, dass Erwachsene in den alten Bundesländern 345 Euro im Monat als Regelsatz erhalten sollten. Kinder unter 14 sollten 60 Prozent davon bekommen, ältere Sprösslinge 80 Prozent. Seit Juli 2009 bekommen Kinder zwischen 6 und 14 Jahren 70 Prozent des Erwachsenen-Regelsatzes. Die Festlegung der Kinder-Regelsätze beurteilten die Karlsruher Richter aber als willkürlich: Der Gesetzgeber habe keinerlei "Ermittlungen zum spezifischen Bedarf eines Kindes" unternommen. Kinder seien eben keine kleinen Erwachsenen; die Regelsätze müssten sich an den "kindlichen Entwicklungsphasen und einer kindgerechten Persönlichkeitsentfaltung" ausrichten, urteilten die Richter.

Aber wie kann man ermitteln, was Kinder genau brauchen - und verbrauchen? Diese Frage versuchte unter anderem Anette Stuckemeier vom Statistischen Bundesamt zu beantworten. Denn es ist ihre Behörde, die alle fünf Jahre mit der sogenannten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe untersucht, wie und was Menschen in Deutschland konsumieren. Um die Hartz IV-Regelsätze zu berechnen, dienen die Ausgaben von Haushalten als Grundlage, die ihrem Einkommen nach im untersten Fünftel der Stichprobe liegen. Die Menschen, die an der Studie teilnehmen, führen drei Monate lang ein Haushaltsbuch; wieviel sie dabei für ihre Kinder ausgeben, notieren sie bislang nicht extra. Das würde auch einen "enormen Aufwand" bedeuten, sagte Stuckemeier; viele Ausgaben, für gemeinsame Einkäufe beispielsweise, seien "nicht aufteilbar".

Grundbedürfnisse

Der Paritätische Wohlfahrtsverband, auf dessen Berechnungen für Kinder-Regelsätze sich die Grünen in ihrem Antrag berufen, löst dieses Problem unter anderem, indem er die Differenz zwischen den Ausgaben von Haushalten mit und ohne Kinder berechnet. Der Verband hält 276 Euro für Kinder unter sechs Jahren für angemessen. Das wären mehr als 60 Euro mehr, als derzeit. Doch bei der Festsetzung neuer Regelsätze geht es nicht nur um Berechnungsfragen, machte die Familienrechtlerin Professor Anne Lenze klar: Denn diese müssten nicht nur das "sächliche Existenzminimum" absichern, sondern auch den Schulbedarf und die "Aufwendungen für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern". Lenze warf die Frage auf, ob die untersten 20 Prozent der Haushalte, an deren Ausgaben sich die Regelsätze orientieren, heute überhaupt in der Lage seien, den Bedarf ihrer Kinder für Schule und Persönlichkeitsentwicklung abzudecken. Stattdessen schlug sie vor, sich bei den Regelsätzen an den Ausgaben von Mittelschichtsfamilien für ihren Nachwuchs zu orientieren.

Diskutiert wurde in der Anhörung auch die Frage, ob die Bedürfnisse von Kindern auch anders als über steigende Regelsätze abgedeckt werden können. Werner Hesse vom Paritätischen Gesamtverband sagte, er würde Infrastrukturleistungen wie "kostenfreies Mittagessen in der Ganztagsschule" und "Schulbuchfreiheit" begrüßen. Weil diese Leistungen aber von den Ländern erbracht werden müssten, hätte der Bundestag keinen Einfluss auf sie und müsste wahrscheinlich doch Geldleistungen bereitstellen. Uneinig waren sich die Experten über die Ausgabe von Gutscheinen: Während Andreas Kalbitz vom Kinderschutzbund sie als Ausdruck von unberechtigtem "Misstrauen gegenüber den Eltern" beurteilt, sah Jürgen Wuttke von der "Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände" den Vorteil, dass die beispielsweise schulischen Angebote auch bei den Kindern ankämen.

Frühestens im Herbst werden die Koalitionsfraktionen einen Gesetzentwurf zum Thema vorlegen; solange dauert es noch, bis das Statistische Bundesamt die Daten aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008 ausgewertet hat. "Das war nicht zu beschleunigen, die haben sich von uns nicht drängen lassen", hieß es aus dem zuständigen Arbeitsministerium.