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»Der Aufholprozess ist noch lange nicht abgeschlossen«

POSITIONEN Im Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Abwanderung: Die Konzepte der fünf Bundestagsfraktionen zum weiteren »Aufbau Ost«

06.09.2010
2023-08-30T11:26:03.7200Z
4 Min

Auch nach zwei Jahrzehnten staatlicher Einheit Deutschlands stellt das Zusammenwachsen von Ost und West besondere Herausforderungen an die Politik. Wir haben bei den zuständigen Abgeordneten der fünf Fraktionen des Bundestages nachgefragt: Wie geht es weiter mit dem "Aufbau Ost" und der deutschen Einheit?

Arnold Vaatz (CDU/CSU): Nach 20 Jahren deutscher Einheit gibt der Blick auf die neuen Länder ein differenziertes Bild. Positiv ist etwa hervorzuheben, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Ost-Wirtschaft gewachsen und leistungsstarke Wachstumskerne entstanden sind. Vor allem die Lage am Arbeitsmarkt ist aber trotz der positiven Entwicklung in einigen Wirtschaftszweigen noch sehr angespannt. Daher müssen alle Instrumente genutzt werden, die zur Vermittlung in ungeförderte Beschäftigung beitragen oder Beschäftigungsfähigkeit erhalten. Eine große Herausforderung ist zudem die anhaltende Abwanderung junger und besser qualifizierter Menschen, die zu einer veränderten Qualifikationsstruktur in den ländlichen Gebieten führt. Neben einer besseren Arbeitsmarktsituation können auch Investitionen in Bildung und Forschung sowie in die soziale und kulturelle Infrastruktur helfen, Abwanderung zurückzuführen. Die Probleme lösen wir nur, wenn wir stabile Rahmenbedingungen schaffen und vernünftig ausgestalten.

Dagmar Ziegler (SPD): Mehr als 20 Jahre nach friedlicher Revolution und demokratischem Neubeginn in der DDR ist die Einheit unseres Landes noch immer nicht vollendet. Die ostdeutsche Wirtschaftskraft liegt deutlich hinter der westdeutschen. Noch immer bestehen tiefe strukturelle Probleme. Es liegt im gesamtgesellschaftlichen Interesse, gleichwertige Lebensverhältnisse in Ost und West zu verwirklichen. Um die soziale Einheit zu vollenden, müssen wir die Wirtschafts- und Innovationskraft des Ostens weiter stärken. Es gilt, die soziale Spannungen zu bewältigen und die hohe Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Wir müssen Antworten auf die demografischen Probleme geben. Dafür brauchen wir weiterhin den Solidarpakt zwischen Ost und West. Der Solidaritätszuschlag bringt Unterstützung für ostdeutsche Länder und Kommunen. Ostdeutsche Länder brauchen Einnahmen für Investitionen in Bildung, Forschung, Infrastruktur und eine gute Daseinsvorsorge. Der Aufholprozess ist noch lange nicht abgeschlossen.

Patrick Kurth (FDP): In den 1990er Jahren war "Aufbau Ost" ein abgeschlossenes Politikfeld. Das ist vorbei. Die Transformation des politischen Systems und der Verwaltung ist abgeschlossen. Dennoch, im Osten sind Probleme viel ausgeprägter als im Westen: hohe Abwanderungsraten, strukturelle Wirtschaftsdefizite und eine doppelt so hohe Arbeitslosigkeit. "Aufbau Ost" - dieser überholte Begriff hat übrigens weder in Ost noch in West Freunde - bedeutet heute, dass der Osten mit den Herausforderungen von Demographie und Wanderungsentwicklung eher umgehen muss als der Westen. Insofern steht der Osten vor Aufgaben, die den Westen mit Verzögerung treffen werden. Damit sich die Abwanderung nicht noch verschärft, muss die Wettbewerbsfähigkeit der Ost-Wirtschaft mit verstärkter Hochtechnologie- und Innovationsförderung verbessert werden. Dies schafft auch Grundlagen für attraktive, hochqualifizierte Arbeitsplätze, die wiederum das beste Mittel sind, die Abwanderung junger Menschen abzubremsen.

Roland Claus (Die Linke): Der "Aufbau Ost" als Nachbau West ist gescheitert. Die De-Industrialisierung, die nach dem Ende der DDR im Osten als Mischung aus Stilllegung veralteter Betriebe und Ausschaltung von Konkurrenz stattfand, kann nicht mit alten Rezepten rückgängig gemacht werden. Auch die Idee "Aufschwung per Billiglohn" half nicht. Noch immer sind die Ost-West-Unterschiede sehr groß, hält die Abwanderung in den Westen, für die sich seit 1990 zwei Millionen Menschen entschieden haben, an. Die Zukunft im Osten liegt in strikter Orientierung auf den sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft. Dabei ist die Erfahrung der doppelten Transformation - also des gleichzeitigen Endes des Realsozialismus und der klassischen Industriegesellschaft - ein Schatz, den für die Entwicklung der Republik zu heben ist. Wenn schon "Der Spiegel" mit "Ein Plädoyer für ein einheitliches Schulsystem" titelt, habe ich Hoffnung, dass man allmählich erkennt, dass der Osten hier und da das Zeug zur Vorreiterrolle hat.

Stephan Kühn (Bündnis 90/Die Grünen): Ostdeutschland erlebt einen Teilungsprozess in wirtschaftlich potente Wachstumskerne einerseits und abgekoppelte Regionen andererseits. Nach wie vor gibt es Leerstellen in der Sozialintegration, in der ökologischen Modernisierung; es fehlt ein ökonomisch selbst tragendes Fundament; demografische Veränderungen erfolgen im Zeitraffer. Die Fixierung des "Aufbaus Ost" an dem vermeintlichen Vorbild West gilt es aufzugeben. Die neue Leitfrage ist: Gibt es einen selbst tragenden Zukunftspfad Ostdeutschlands mit Teilhabechancen für alle, ökologisch und sozialverträglich? Der zentrale Impuls der friedlichen Revolution 1989 ist für uns die Selbstermächtigung zum politischen Handeln. Daraus erwächst eine ehrliche Diskussion um soziale, kulturelle, wirtschaftliche Mindeststandards. Wir benötigen kreative Lösungen von unten und eine Politik, die nachhaltige Innovationen ermöglicht. "Aufbau Ost" heißt für uns Neuland denken, auf eigene Potenziale setzen, Investitionen in Köpfe statt Beton.