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»Welch ein Tag in der parlamentarischen Geschichte unseres Landes!«

HISTORIE Nach 57 Jahren tagt am 4. Oktober 1990 erstmals wieder ein gesamtdeutsches Parlament im Berliner Reichstagsgebäude

04.10.2010
2023-08-30T11:26:05.7200Z
4 Min

"Ein Parlament auf der Durchreise. Das ist der erste Eindruck beim Betreten des Berliner Reichstagsgebäudes am Tag nach der Wiedervereinigung. Koffer, wohin man sieht. (...) Der wichtigste Platz hier im Erdgeschoss scheint jener zu sein, an dem es Flugkarten für den Rückflug nach Bonn gibt." Impressionen einer historischen Bundestagssitzung, entnommen der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 5. Oktober 1990: Einen Tag zuvor waren die Parlamentarier aus Ost- und Westdeutschland vor genau 20 Jahren zur ersten Sitzung des gesamtdeutschen Bundestages zusammengekommen, darunter 144 Abgeordnete, die entsprechend Artikel 42 des Einigungsvertrages von der letzten Volkskammer der DDR in das nunmehr gemeinsame Parlament gewählt worden waren.

Es war nicht die erste Bundestagssitzung in Berlin - neunmal hatte das Plenum zwischen 1955 und 1965 im Westteil der damals geteilten Stadt getagt, bis sich die drei westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkrieges gegen diese Praxis aussprachen -, wohl aber war es die erste Plenartagung, die nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 in dem "dem deutschen Volke" gewidmeten Gebäude stattfand. Daran erinnert an jenem 4. Oktober 1990 auch Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) gleich zu Sitzungsbeginn um 10 Uhr in ihren ersten Sätzen: "Nach 57 Jahren versammeln wir uns als frei gewählte Abgeordnete des ganzen deutschen Volkes hier im Reichstag in Berlin. Ein freies und geeintes Parlament in einem freien und geeinten Berlin, in einem freien und geeinten Deutschland - welch ein Tag in der parlamentarischen Geschichte unseres Landes!"

Und als sie unter den Ehrengästen den damals 90 Jahre alten früheren SPD-Reichstagsabgeordneten Josef Felder begrüßt, der noch die letzten Plenarberatungen in dem Gebäude mitgemacht hatte, ruft sie ihm zu, es werde für ihn "eine tiefe Genugtuung sein", nun diese Sitzung in dem Haus zu erleben.

Auch für Süssmuth selbst ist die Sitzung alles andere als Routine. Als sie wenige Monate zuvor, am 17. Juni 1990, im Bundestag gesagt hatte, die Einheit werde kommen, habe der Zeitpunkt für sie noch "im Unbestimmten" gelegen, sagte die damalige Parlamentspräsidentin später einmal in einem Gespräch mit dieser Zeitung (PA 46/2009). "Und wenn Sie dann am 4. Oktober erlebten: Es ist passiert, es ist das schier Unglaubliche passiert - das war so bewegend, dass meine Stimme beim Sprechen mitunter bebte. Für mich war es wie ein Wunder", blickte Süssmuth zurück.

Nach ihrer Eröffnungsansprache steht am 4. Oktober 1990 die Vereidigung von fünf bisherigen Volkskammer-Mitgliedern zu Bundesministern "für besondere Aufgaben" auf der Tagesordnung des Parlaments, darunter neben dem letzten DDR-Regierungschef Lothar de Maizière auch Sabine Bergmann-Pohl (beide CDU), die als Präsidentin der frei gewählten Volkskammer zwei Tage zuvor noch Süssmuths ostdeutsche Amtskollegin war. Alle fünf neuen Mitglieder im Kabinett von Kanzler Helmut Kohl (CDU) sprechen die Eidesformel übrigens mit dem religiösen Zusatz "So wahr mir Gott helfe".

Der "Kanzler der Einheit" kommt anschließend zu Wort: "Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur Politik der ersten gesamtdeutschen Bundesregierung", lautete in etwas sperriger Formulierung der zweite Tagesordnungspunkt. "Mit der heutigen Plenarsitzung des gesamtdeutschen Bundestages beginnt die parlamentarische Arbeit im vereinten Deutschland", hebt Kohl an und fügt hinzu: "Vor uns liegen innen- wie außenpolitisch große Aufgaben, die in der kommenden Zeit unsere ganze Kraft beanspruchen werden". Der Übergang der DDR-Wirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft, der Aufbau einer modernen Infrastruktur im Osten, ein "ökologischer Neubeginn" in den neuen Ländern sind nur einige dieser Aufgaben, auf die Kohl nach einer Würdigung des zurückliegenden Einheitsprozesses eingeht, um sich dann erneut zum Ziel der europäischen Einigung zu bekennen: "Für uns gilt weiterhin: Deutschland ist unser Vaterland, das vereinte Europa unsere Zukunft."

Nach dem ersten gesamtdeutschen Regierungschef seit dem Zweiten Weltkrieg spricht für die Sozialdemokraten - noch vor ihrem Kanzlerkandidaten bei der zwei Monate später anstehenden Neuwahl des Bundestages, Oskar Lafontaine - Willy Brandt, Kohls Vorvorgänger im Kanzleramt und als "Vater der Ostpolitik" für viele gleichfalls eine deutsch-deutsche Ikone. Ihm folgt Unions-Fraktionschef Alfred Dregger (CDU) am Rednerpult, dann als erster ostdeutscher Abgeordneter für die Grünen-Fraktion der Bürgerrechtler Wolfgang Ullmann. Danach kommt Lafontaine, dann PDS-Chef Gregor Gysi, dann der FDP-Vorsitzende Otto Graf Lambsdorff - insgesamt zwölf Redebeiträge verzeichnet das Protokoll der auf drei Stunden veranschlagten Aussprache, die streckenweise schon stark vom Wahlkampf geprägt ist.

Noch vier Zusatzpunkte müssen behandelt werden - Zahl der Präsidiumsmitglieder des auf 663 Abgeordnete angewachsenen Parlaments, zwei Vorlagen zur Änderung des Wahlgesetzes und die Überweisung des Ratifizierungsgesetzes zum Zwei-plus-Vier-Vertrag. Zum Schluss wird ein Redner schon ungeduldig bei einer Zwischenfrage: "Die Zeit läuft weg, und alle wollen noch ihr Flugzeug erreichen", mahnt er. Um 16.57 Uhr kann Süssmuth die Sitzung schließlich schließen und die nächste für den folgenden Tag um 09.00 Uhr einberufen, dann wieder nach Bonn. Wie hatte zuvor Willy Brandt in seiner Rede so passend gesagt: "Es ist wohl in der Tat der neue Alltag, der mit dieser Sitzung des erweiterten Bundestages beginnt."