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Meines Vaters Verlöschen

WÜRDE DES STERBENS Der Autor Tilman Jens über die Demenzkrankheit seines Vaters Walter Jens

08.11.2010
2023-08-30T11:26:08.7200Z
6 Min

Das Umsteigen auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof ist nicht eben angenehm an diesem leuchtend sonnigen Herbsttag. Übellaunig dreinschauende Gestalten versperren den Weg. Überall Bundespolizei, die Sicherheitskräfte des Grube-Konzerns unterstützend, allesamt angetreten, um den Protest der Bürger gegen Stuttgart 21 von den Gleisen zu vertreiben.

Einen Moment stelle ich mir vor, die Rebellion in Schwaben wäre ein Jahrzehnt früher ausgebrochen. Noch einmal sehe ich meinen Vater, wie einst in Mutlangen, vorn am Rednerpult stehen. Im Sturm des zivilen Ungehorsams hat er sich wohl gefühlt. Rhetorik, das hieß für ihn nicht zuletzt Einspruch, die Kunst des beharrlichen Neinsagens. Die Demonstranten rund um den Ernst-Klett-Platz - das wären seine Leut' gewesen.

Vergessene Welt

Mit Hängen und Würgen bahne ich mir den Weg durch die Phalanx der Schutzmänner, erreiche den Interregio-Express nach Tübingen. Noch 42 Minuten, dann bin ich in der Stadt meiner Geburt, meiner Kindheit und Jugend. Der Mann, den ich besuche, mein Vater, der einstige Kursbuch-Narr, weiß heute nicht mehr, was eine Lokomotive ist. Er hat die Welt, in der er lebt, weitgehend vergessen. Sein Gehirn ist verstopft, die Computer-Tomographie zeigt düstere Flecken im Schädel, Plaques, Proteinablagerungen in den Nerven- zellen, die untrüglichen Abbilder der Demenz.

Das Recht nicht zu funktionieren

Früher, als er souverän und stark war, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass ich ihn, so wie er nun ist, elend, hilflos und schwach, je würde ertragen. Nun merke ich, dass ich mich, spätestens als der Zug Hölderlins Nürtingen hinter sich lässt, auf den Kerl mit dem schmal gewordenen Gesicht freue. Früher, noch vor zwei, drei Jahren, als er schon krank war, sein Leiden aber noch nicht das Endstadium erreicht hatte, hat mich die Frage gequält, ob er mich denn erkennen werde, wenn wir uns gleich sähen. Ich war glücklich, wenn er Tilman sagte, ein wenig ungehalten, wenn er mich die ganze Zeit nur hohl anschaute. Heute weiß ich, das war ziemlich egoistisch. Mein bald 88-jähriger Vater braucht niemanden mehr zu erkennen. Sein Kopf hat genug gearbeitet, er darf ruhen. Mag sein, eben das ist für viele der Gesunden so verstörend: Ein Demenzkranker (und von denen gibt es allein in Deutschland deutlich über eine Million), der beansprucht, ohne dass ihn auch nur einer daran hindern könnte, scheinbar Ungeheuerliches - das Recht nicht mehr zu funktionieren in einer auf Funktionalität getrimmten Gesellschaft. Ein Demenzkranker, der verweigert sich für immer, der steigt aus für alle Zeit.

Der Zug ist pünktlich. Seit unserer letzten Begegnung sind zwei Wochen vergangen. Meine Mutter holt mich mit dem Auto ab. Sie fährt nicht mehr viel. Aber das Steuern und Einparken des alten Citroen - in protestantisch-bescheidener Kleinwagen-Ausführung - ist für sie ein Stück demonstrierter Unabhängigkeit, der Führerschein: ein trotziger Akt gegen das Altern. Im kommenden Februar wird meine Mutter 84. Es geht ihm eigentlich ganz gut, sagt sie. Das bedeutet: Er kann noch immer ein paar Satzfetzen sagen, noch immer einige wenige Schritte gehen. Wenn auch gestützt. Wie ihm wirklich zumute ist in seinem Dunkel, was er fühlt, wenn er weint und klagt - und uns dann, als sei nichts gewesen, Sekunden später freundlich anlacht, wissen wir nicht. Nur an einem lässt sich kaum deuteln: So wie er nun lebt, gefüttert, gewindelt, umgeben von vergessenen Büchern, hat er, mein Vater Walter Jens, niemals leben wollen.

In den Worten Hölderlins

Auf dem Weg vom Bahnhof zum Apfelberg passieren meine Mutter und ich die Neckarbrücke. Ein paar Meter weiter, drunten am Stocherkahn-Anleger, habe ich im Sommer 2001 mit meinem Vater zusammen gesessen und fürs Fernsehen ein aus heutiger Sicht geradezu gespenstisches Gespräch über die letzten Dinge geführt, über den Tod und das selbstbestimmte Sterben. Auch damals strahlte die Sonne. Auf dem unter der großen Trauerweide vertäuten Kahn hat er den freundlichen Tod beschworen, den ein Mensch, der auf keine Heilung mehr hoffen kann, mit Fug und Recht ersehne: dem sollte man im Zeichen der Liebe helfen können. Vehement hat er das bei uns, anders als in den Niederlanden etwa, verweigerte Recht eingeklagt, in äußerster Not, ganz legal, aktive Sterbehilfe gewährt zu bekommen. Bei Krebs waren wir uns einig.

Was aber wäre, wenn Du Alzheimer hättest? Darf das ein Sohn fragen? Ich durfte. Und mein Vater war in seinem Element. Wenn die Autonomie des Menschen nicht mehr im Zentrum steht, wenn ich nicht sagen kann, Tilman, Du siehst selbst, es ist an der Zeit - ich sage mit dem Mann da oben - er meinte nicht Gott, sondern den Dichter des Hyperion, der in seinem goldgelben Neckarturm dem Tod entgegendämmerte - ich sage mit Friedrich Hölderlin: "April, Mai und Junius sind ferne, ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne…" dann möchte ich das mir von Gott geschenkte Leben zurückgeben. Was meinem Vater Angst machte, das war die Vorstellung, einer unheilbaren Krankheit wehrlos ausgeliefert zu sein. Paveses gern zitierter Satz: Ich will sterben, nicht gestorben werden.

Zeit zu sterben?

Seitdem sind bald zehn Jahre vergangen. Und kaum etwas erinnert mehr an den Mann, der mir damals im Kahn gegenübersaß. Wie war das Haus, das sich meine Eltern Mitte der 60er Jahre bauten, auf seine Bedürfnisse zugeschnitten. Bücherregale, Schreibtische, verteilt vom Keller bis unters Dach. Das Domizil als Spiegel des Jens'schen Arbeitsethos. Nicht mehr schreiben zu können, hat er gesagt, heißt nicht mehr atmen zu können. Wenn ich nicht mehr schriebe, es auf lange Zeit nicht mehr könnte, dann ist es Zeit zu sterben, ohne falsches Pathos.

Er kann schon lang nicht einmal mehr seinen Namen schreiben, seine uralte elektrische Schreibmaschine ist verstaubt. Die einst nach einem System, das allein er so recht begriff, geordneten Bücher sind wild durcheinander. Als er vor ein paar Jahren allmählich das Lesen verlernte, begann er wahllos nach seiner Lektüre zu greifen, blätterte ein paar Minuten, wobei er das Exemplar nicht selten falsch herum in den Händen hielt, und stellte es dann irgendwo in einem anderen Zimmer wieder ein. Zeit zu sterben also, ohne falsches Pathos?

Er ist noch nicht zuhause, als ich daheim in der Sonnenstraße eintreffe. Die Ausflüge nach Mähringen, auf den Bauernhof seiner Pflegerin Margit, sind längst tägliches Ritual, für sie die Chance, auf ihrem Hof nach dem Rechten zu schauen, für meinen Vater, wie es scheint, ein letztes Lebenselixier.

Einmal, es ist schon eine Weile her, haben mich die beiden mitgenommen. Ich werde die Szene niemals vergessen: Caro, der Wachhund, bellt zur Begrüßung, Margits Burschen erwarten ihn schon. Jetzt kommt der Walter. Er strahlt, er lacht - und zeigt auf das Ende des Stalls. Ich solle mitkommen. Da sind die Kaninchen. Er ist aufgeregt wie ein Kind. Er nimmt sich Grün und ein paar Karotten. Ich traue meinen Augen nicht. Mein Vater füttert Karnickel! Er, der Asthmatiker, der früher Tiere hasste und mir aus Angst vor Haaren die Anschaffung selbst eines Hamsters verbot. Heute schafft er den Weg zum Stall nur noch am Rollator. Aber die 14-Kilometer-Expedition aufs schwäbische Land tut ihm noch immer gut, was nicht nur daran liegt, dass es dort selbstgebackenen Zwetschenkuchen gibt.

Margits alter Daimler fährt vor. Wenig später ein Keuchen und Stöhnen. Die paar Meter bis ins Wohnzimmer sind für meinen Vater eine Strapaze. Die Pflegerin zieht ihn an beiden Händen, er stolpert mehr als dass er geht. Seine Beine verweigern den Gehorsam. Er plumpst in den Sessel. Es ist ein elender Anblick. Er klagt über Minuten, alles scheint ihm fürchterlich und schrecklich. Dann aber wird er ganz friedlich, nippt an einem Glas Saft, greift nach der Hand meiner Mutter und nickt mir freundlich zu. Langsam weicht die Angst aus seinen Augen. Schweigend sitzen wir beieinander.

Ohne Frage, Familien-Idylle sieht anders aus. Der Alltag mit Demenz, der Zerfall einer Persönlichkeit, taugt nicht zum Kitsch, lässt sich nicht süßlich verklären. Wir, seine Familie, seine Freunde, hätten ihm ein anderes Sterben gewünscht. Aber frei von Würde ist dieses langsame Verlöschen nicht. Mein Vater lebt - und das ist gut so.