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Ein Testfall für die Demokratie

ESSAY Nach Stuttgart 21 plädiert Politikwissenschaftler Ulrich Sarcinelli für eine neue Kultur der Kommunikation

03.01.2011
2023-08-30T12:16:34.7200Z
7 Min

Das also ist das Ergebnis: Aus Stuttgart 21 wird Stuttgart 21 plus. Inzwischen liegt der Schlichterspruch einige Wochen vor, schon formieren sich wieder die alten Fronten. Das kann nur den verwundern, wer glaubte, ein mehrwöchiges Schlichtungsverfahren setze die Regeln der parlamentarischen Parteiendemokratie außer Kraft. Insofern war nichts anderes zu erwarten als ein zeitlich befristeter Burgfriede. Letztlich wird entschieden werden müssen: bauen oder nicht bauen.

Hat Stuttgart 21 plus mehr gebracht als die Auflagen für Gleiserweiterung und Streckenausbau? Mehr als eine Stiftungslösung gegen Immobilienspekulation? Mehr auch als einen Stresstest, in dem die Funktionsfähigkeit des Gesamtprojekts überprüft werden soll? Die Antwort heißt ja, auch wenn überschießende Demokratisierungshoffnungen gedämpft werden sollten. Über einige Wochen hinweg wurde eine Form des politischen Diskurses praktiziert, die man im politischen Alltagsgeschäft vermisst: eine Transparenz, die trotz stundenlanger Life-Übertragung nicht langweilte; eine Entzauberung von Expertenaussagen und Gegenexperten; eine vom Schlichter immer wieder eingeforderte klare Sprache; ein Kommunikationsstil, bei dem Konzepte durch das bessere Argument überzeugen mussten und politische Meinungen dem Säurebad des argumentativen Austausches ausgesetzt waren; eine Streitkultur schließlich, bei der sich parlamentarische und außerparlamentarische Akteure auf gleicher Augenhöhe begegneten. Ist der Weg von Stuttgart 21 zu Stuttgart 21 plus also ein Modell für die Lösung anderer Großprojekte? Weist die Schlichtung trotz fortdauernden politischen Streits Wege für die Modernisierung unserer Demokratie?

Deutlich geworden ist jedenfalls, dass es um mehr ging, als um die Tieferlegung eines Bahnhofes und die Untertunnelung einer Stadt, um mehr auch als ein verkehrspolitisches Jahrhundertprojekt. Stuttgart 21 plus könnte sich zu einem Symbol, zum Testfall für die Funktionstauglichkeit und Lernfähigkeit des parlamentarisch-repräsentativen Systems in Deutschland entwickeln. Das mag verwundern angesichts einer paradoxen Lage: Einerseits ist die Kritik verbreitet, der Politik fehle aufgrund kurzer Wahlzyklen langer Atem, Macht und Mut zu strategischen Entscheidungen. Andererseits rührt sich zunehmend bürgerschaftlicher Protest, wenn Großvorhaben in langwierigen Verfahren parlamentarisch-politisch entschieden und nach Abarbeiten aller juristischen Einwände nach vielen Jahren realisiert werden sollen. Die demokratische Grundregel einer "Legitimation durch Verfahren", über die laut Niklas Luhmann "global gewährte Unterstützung" bei Wahlen "gegen Befriedigung im Großen und Ganzen" getauscht wird, reicht offenbar nicht mehr aus.

Auch im Falle von Stuttgart 21 wurde über mehr als eineinhalb Jahrzehnte beraten, prozessiert, abgestimmt und dann rechtmäßig entschieden - alles legal, am Ende dann aber doch voller Legitimitätszweifel. Was ist schief gelaufen bei dem doch angeblich so korrekten Willensbildungs- und Entscheidungsprocedere? Wieso waren die vom Schlichter vorgeschlagenen Auflagen, Nachbesserungen und Funktionstests, die heute so plausibel erscheinen, nicht bereits Bestandteil des langwierigen Verfahrens? Man muss den Konflikt um Stuttgart 21, den massiven Bürgerprotest, nicht zur Legitimationskrise der Demokratie stilisieren. Ein Exempel für eine veritable Kommunikationskrise der Politik und für wachsende Legitimitätszweifel ist er allemal.

Plebiszite als Lösung?

Die Gefahr besteht, dass diese Einsicht durch verfassungsrechtlich schwierige und auch politisch nur langfristig durchsetzbare Ratschläge zur Anreicherung der repräsentativen Demokratie mit plebiszitären Elementen verstellt wird. Ganz abgesehen von den Schwierigkeiten, Elemente beispielsweise aus der lange gewachsenen Schweizer Konkordanzdemokratie in die bundesrepublikanische Wettbewerbsdemokratie zu implantieren. Auch das kalifornische Modell mit seinen weitgehenden plebiszitären Rechten erscheint mit Blick auf die zu besichtigenden Politikblockaden ein wenig nachahmenswertes Vorbild. Ob und in welchem Umfange direktdemokratische Mitwirkungsmöglichkeiten über die bisherigen Regelungen auf kommunaler und Länderebene hinaus im Grundgesetz verankert werden sollten, darüber kann man nachdenken. Hier ist jedoch eine nüchterne und vom Tagesstreit losgelöste Abwägung der verfassungspolitischen Konsequenzen geboten. Auf der Tagesordnung sollte die Frage der Qualität von Kommunikation in der Politik stehen, die Legitimation durch Kommunikation und nicht ein anderes Demokratiemodell. Denn in einem scheint über alle Fronten hinweg Einigkeit zu bestehen. Stuttgart 21 hat ein veritables Kommunikationsproblem unseres politischen Betriebs offenbart.

Kommunikation mag in der modernen Mediengesellschaft inzwischen ein Allerweltsphänomen sein. Für die Politik war und ist sie es jedoch nicht. Denn mit dem Politischen ist das Kommunikative untrennbar verbunden, weil das "Reden selbst als eine Art Handeln" aufgefasst werden muss, wie Hannah Arendt gesagt hat, und Macht erst aus dem Zusammenhandeln der Vielen entstehen kann. Schon die Väter der amerikanischen Verfassung wussten zu unterscheiden: Es sind nicht Sachfragen oder gar Sachzwänge, die das Politische an der Politik ausmachen, sondern die in vielfältigen Kommunikationsprozessen ausgetauschten Meinungen. "All government rests on opinion", jede Regierung beruht auf Meinung (Federalist Papers Nr. 49). Deshalb ist auch die beliebte Formel aus der Politikerrhetorik, es gebe keine Alternative, eine Irreführung des Publikums. In der Demokratie erfolgt Legitimation durch Kommunikation. Das aber ist etwas anderes als die Exekution vermeintlicher Sachzwänge. Legitimation durch Kommunikation ergibt sich jedoch nicht automatisch. In der Mediengesellschaft ist sie mehr denn je ein professionelles Geschäft.

Aber hat nicht der Kommunikations- wie überhaupt der Medienbetrieb im Vergleich zwischen der "Berliner Republik" und den beschaulichen Bonner Verhältnissen eine bemerkenswerte Expansion erfahren? Unübersehbar ist jedenfalls nicht nur auf der Bundesebene eine wachsende Branche von Sprechern, Öffentlichkeitsarbeitern, Beratern und Spindoctors, die sich mit ihren Kommunikationsdienstleistungen der Politik andienen. So wurde Kommunikation zu einer hochspezialisierten Sozialtechnologie entwickelt, zu einer von der Politik separierten, eigenständigen Sphäre. Damit aber kommt Kommunikation nicht als integraler Bestandteil von Politik ins Spiel, sondern als eine zur Politik hinzutretende Vermittlungstechnik: Kommunikation als Aufmerksamkeitsgenerator und als Legitimationsbeschaffer.

Kommunikation aber muss zur Entwicklungs-, Überzeugungs- und Durchsetzungsbedingung für Politik vor allem dann werden, wenn es nicht um Routinepolitik, sondern um die Auseinandersetzung über strategische Ziele und Weichenstellungen geht - und zwar von Anfang an, also bereits bei der Zielbestimmung.

Vorderbühne der Politik

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Mit den professionellen Mitteln der Kommunikationsbranche wird die Vorderbühne der Politik bespielt und grell beleuchtet. Nicht selten findet dabei eine mediale "Umwertung der Wichtigkeiten" statt, wie es Richard von Weizsäcker ausgedrückt hat. Auf dieser Bühne geht es um "Darstellungspolitik", um Politik als Oberflächenphänomen. Weitgehend ausgeblendet bleibt die politische Hinterbühne, die "Entscheidungspolitik". Das sind zwei unterschiedliche und nicht einfach zu verschmelzende Welten, die aufeinander bezogen sind, die aber einer je eigenen Logik folgen. Auf der darstellungspolitischen Seite zählen vor allem Medienpräsenz auf der Basis von Neuigkeitswert, Zuspitzung, Personalisierung, gegebenenfalls auch Unterhaltung und andere Aufmerksamkeit sichernde Nachrichtenfaktoren. Darstellungspolitik konzentriert sich deshalb auf die politische Momentaufnahme und auf den Augenblickserfolg beim Publikum. Auf der entscheidungspolitischen Seite kommt es hingegen auf die Einhaltung rechtlicher und politisch-administrativer Rahmenbedingungen an, zählen Sach- und Fachkompetenz, geht es um Interdependenzbewältigung, Kompromissbildung und Verfahrenskorrektheit, das alles in zumeist unspektakulären und manchmal auch diskreten Abstimmungsprozessen.

Zwischen den beiden Kommunikationswelten, der Darstellungspolitik und der Entscheidungspolitik, gibt es nach dem Medienwissenschaftler Hans Mathias Kepplinger zwar "reziproke Effekte". Denn Akteure im Entscheidungsbereich ziehen die mediale Wirkung ihres Handelns mit ins politische Kalkül, bedienen sich auch der Medien, wie die Medien sich ihrerseits der Politik andienen. Insofern wird Politik notwendigerweise medialisiert. Das muss dann noch nicht die Kolonisierung der Politik durch die Medien bedeuten. Vielfach handelt es sich um symbiotische Austauschbeziehungen. zum wechselseitigen Vorteil: Getauscht wird die Gewährleistung von Publizität mit dem Zugang zu Informationen. Entscheidend bleibt dabei freilich, dass politische Weichenstellungen im demokratischen System letztlich nicht in den politisch-institutionellen "Arenen" entschieden werden, sondern auf der "Galerie" der zum (Medien)Publikum versammelten Bürger. Denn auch das intern Ausgehandelte unterliegt am Ende der öffentlichen Begründung, Prüfung und Ratifikation. Das gilt für die etablierten Akteure der Politikvermittlung ebenso wie für Bürgerbewegungen und andere Akteure der Zivilgesellschaft.

Lästiger Mehraufwand

Mehr denn je entscheidet sich die Machtfrage im demokratischen System unserer modernen Mediengesellschaft an der Kommunikationsfrage. Wie sich am Fall Stuttgart 21 erneut und geradezu symbolisch zeigt, fallen beide aber mehr und mehr auseinander. Wenn aber Information und Kommunikation als lästiger Zusatzaufwand und als Test für die Marktgängigkeit eines fertigen Produktes begriffen, wenn Kommunikation so zum Appendix der Politik wird, muss man sich nicht wundern, dass Legitimatätszweifel, Protest und Machtverlust die Folge sind. Dann aber alles politische Heil in der plebiszitären Demokratie zu suchen, verlagert die Kommunikationskrise, in der sich die Politik in Deutschland befindet, auf einen verfassungsrechtlichen Verschiebebahnhof. Auf der Tagesordnung muss stattdessen die kommunikative Runderneuerung der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie stehen. Die viel kritisierte Parteiendemokratie sollte dabei nicht vorschnell abgeschrieben werden. Konkret bedeutet dies also eine Umsteuerung von Kommunikation als medienzentriertes, exklusives Elitenspiel hin zur verstärkten, aktiven Organisation inklusiver Bürger-Politik-Kommunikation: von der ex-post-Kommunikation zur demokratischen Präventivkommunikation. Dabei geht es um aktivierende Foren, Plattformen und Beteiligungsgelegenheiten jenseits der üblichen Anhörungsroutine, möglichst schon im Vorfeld politischer Festlegungen in den Prozessen der parlamentarischen Parteiendemokratie. Notwendig ist die Öffnung der Institutionen-Politik, auf der Ebene der Parteien, der Parlamente und der Exekutive. Gefragt sind dabei neue institutionelle Arrangements, die zivilgesellschaftliche Diskurse mit Verfahren der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie verbinden - zur wechselseitigen Befruchtung.

Zu all dem bedarf es politischer Phantasie ebenso wie hoher Innovationsbereitschaft, gerade bei den etablierten Akteuren und Institutionen. Das ist ein schwieriger Lernprozess, bei dem vor Illusionen zu warnen ist. Gefragt sind nicht wohlfeile Rezepte oder sozialtechnologische Kniffe zur Erzielung kurzfristiger politischer Effekte, sondern eine langfristige Umsteuerung in der Organisation unseres Politikvermittlungsbetriebs. Der Aufbau und die Pflege einer neuen Kommunikations- und Beteiligungskultur wird alles andere als konfliktfrei ablaufen. Es geht nicht um die Verabreichung von Beruhigungspillen und schon gar nicht um eine politische Spielwiese, sondern um eine neue demokratische Streitkultur, die diesen Namen verdient. Dabei wird das Feld politischer Verantwortung neu vermessen werden, denn eine neue Kommunikations- und Beteiligungskultur bedeutet auch Abgabe von Macht.

Dies alles löst natürlich nicht alle Probleme. Es entspräche aber einer komplexer werdenden Gesellschaft, die nach verstärkter Mitsprache verlangt, sich zugleich aber immer weniger in Organisationspflichten dauerhaft einbinden lässt. Ökonomisch gesprochen: Die neue Kommunikations- und Beteiligungskultur ist anstrengend. Sie verursacht erhöhte Transaktionskosten. Dafür verspricht sie aber einen Legitimitätsgewinn, der die parlamentarisch-repräsentative Demokratie in Deutschland beleben kann.