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Der prototypische Protestler

SOZIOLOGIE Zum Widerständler wird, wer betroffen ist - und sich gut organisieren kann

03.01.2011
2023-08-30T12:16:34.7200Z
6 Min

Er ist 60 Jahre alt und er ist 25 Jahre alt. Er ist Mann und er ist Frau. Er interessiert sich für das ästhetische Äußere eines Domplatzes und für die steigenden Mieten in der eigenen Sozialwohnung. Er hat promoviert und nach der Hauptschule eine Ausbildung gemacht. Er ist arbeitslos und Spitzenverdiener. Er ist überzeugter Single und kinderlos verheiratet. Er hat zwei Jungen, ein Mädchen und einen Kanarienvogel. Er wohnt in Hamburg, Stuttgart und auf dem Land. Er wählt die CDU und die Grünen. Er ist katholisch, evangelisch und Atheist.

Es ist schwer, den Prototypen desjenigen zu finden, der auf der Straße protestieren geht oder an Volksbegehren und Referenden teilnimmt. Denn direkte Demokratie hat viele Gesichter. Das zeigt ein Blick dorthin, wo sie bereits existiert: in Kommunen und Bundesländern.

Betroffenheit entscheidet

Volksbegehren und Volksentscheide auf Landesebene beziehungsweise Bürgerbegehren und Bürgerentscheide auf Kommunalebene sollen repräsentative Demokratie ergänzen, unterstützen und - gegebenenfalls - korrigieren. Mehr als 7.200 hat es insgesamt laut der Forschungsstelle für Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie an der Philipps-Universität Marburg seit der Wiedervereinigung bis Ende 2009 in Deutschland gegeben.

Mit diesen institutionellen Möglichkeiten direkter Demokratie können Bürger unmittelbar auf die staatliche Gesetzgebung oder sonstige Entscheidungen Einfluss nehmen. Referenden werden meist durch Bürger- oder Volksbegehren eingeleitet, für die eine je nach Bundesland und Kommune variierende Anzahl an Staatsbürgern nötig ist (siehe Infospalte links). Zu den institutionellen Möglichkeiten kommen - fasst man direkte Demokratie breiter - Demonstrationen, Sitzstreiks und sonstige informelle Protestformen. Im vergangenen Jahr gab es hierfür genügend Beispiele: Berichte über Menschenmassen vor dem teilweise abgerissenen Bahnhof in Stuttgart und Atomgegner entlang der Castorstrecken füllten wochenlang die Zeitungen.

Doch wer sind diese Menschen? Wer stellt sich mit Plakaten vor den Stuttgarter Bahnhof? Wer kettet sich an Bäume? Und in welchen Gesellschaftsschichten sind die Träger von Volksentscheiden wie in Hamburg verankert? Die Antwort ist vor allem eins: nicht eindeutig. "Seit den 70er und 80er-Jahren haben Demonstrationen ihren Nimbus von Querulantentum und Staatsgefährdung immer mehr verloren. Sie sind eine weithin akzeptierte Ausdrucksform geworden", sagt der Berliner Protestforscher Dieter Rucht (siehe Interview auf Seite 2).

Im Allgemeinen kann man sagen, dass Träger direkter Demokratie eher jünger und eher linksorientiert sind. Jedoch: "Ob sich jemand direktdemokratisch engagiert, ist vor allem abhängig von zwei Faktoren: dem Grad der Betroffenheit und der Organisationsfähigkeit", sagt Theo Schiller, emeritierter Professor der Politikwissenschaft und Leiter der Forschungsstelle für Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie an der Philipps-Universität Marburg. Zu einer betroffenen Gruppe können viele, ganz unterschiedliche Personen gehören - vom Computerfachmann bis zur Landwirtin, vom Schüler bis zum Rentner. Wer betroffen ist, wird sich eher engagieren.

So wehren sich viele Menschen gegen Lärm in der unmittelbaren Nachbarschaft. Klassische Beispiele sind der Ausbau des Frankfurter Flughafens oder der Weiterbau der A 100 um Berlin, gegen den sich Tausende Einwohner in Form von Bürgerinitiativen wehren. Eine weitere Gruppe sind Menschen, die direkt die Auswirkungen von Umweltproblemen spüren, zum Beispiel weil sie in der Nähe einer Müllverbrennungsanlage wohnen.

Auch bestimmte soziale Bedürfnisse können Anlass für direktdemokratisches Engagement sein. Zum Beispiel, wenn das Kindergartenangebot nicht ausreicht oder der Verkauf von Sozialwohnungen droht. Im November 2006 hat es einen Volksentscheid in Freiburg gegeben, mit dem der Verkauf von knapp 9.000 Sozialwohnungen von städtischen in privaten Besitz verhindert wurde. Damals protestierten nicht nur die Mieter der Wohnungen, die um den bezahlbaren Wohnraum bangten, sondern auch Studenten. In der Freiburger Universität wurde das Thema in den Fachschaften diskutiert, in den Fluren machten Plakate auf den Verkauf aufmerksam.

Bildungsnahe Schichten

Wie Schiller sagt, steigt die Chance, dass aus dem bloßen Protest auch eine Initiative wird, wenn sich die Betroffenen organisieren können. Und das ist in bildungsnahen Schichten eher der Fall. "Generell sind gut gebildete Schichten stärker an Debatten in der politischen Öffentlichkeit und auch speziell am Protestgeschehen beteiligt", sagt Rucht. Auf der Kommunalebene stehen häufig kleinere Organisationen hinter Bürgerbegehren: Gewerkschaften, Mietervereinigungen, Sozialverbände, Umwelt- oder Elternverbände. Auf Landesebene kommen in manchen Fällen Parteien hinzu oder Organisationen wie "Mehr Demokratie", die sich für weiter gehende direktdemokratische Möglichkeiten einsetzen.

Angesichts des erfolgreichen Volksentscheids in Hamburg, bei dem im Juli vergangenen Jahres die sechsjährige Primarschule abgelehnt wurde, hat sich der Eindruck verfestigt, dass es zunehmend die bildungsnahen und wohlhabenden Bürger mit hohem Organisationsgrad sind, die auf direktdemokratische Instrumente zurückgreifen und von ihnen profitieren. Dieser Eindruck wird von Experten angezweifelt. Zwar seien hier vor allem Eltern aus bildungsnahen Schichten engagiert gewesen, jedoch: "Direkte Demokratie begünstigt nicht automatisch Privilegierte. Dies aus dem Referendum in Hamburg zu schließen, wäre falsch", sagt Schiller. Die Interessen und damit auch die Spannbreite möglicher Themen für direktdemokratische Einflussnahme seien nach wie vor zu breit, als dass sie sich an einer Gesellschaftsgruppe festmachen könnten.

Abstimmen im Internet

Aktuelle Entwicklungen laufen zudem in unterschiedliche Richtungen, so dass es weiterhin schwer sein wird, den "typischen Protestler" ausfindig zu machen. So wird die demographische Entwicklung Einfluss haben: Ältere Menschen haben schlicht mehr Zeit, sich zu engagieren, wie Schiller sagt. In der Folge könnten in Zukunft bestimmte Themen als Gegenstand von Bürger- oder Volksbegehren zunehmen, beispielsweise im Bereich Verkehr und Umwelt, aber auch in der Kulturförderung. Ein weiterer großer Komplex könnte der Gesundheitsbereich werden, sofern Länder und Kommunen dafür verantwortlich sind.

Andererseits gelten ältere Menschen, betrachtet man ihr Wahlverhalten, als eher verbunden mit den bestehenden, konservativen Parteien. "Ob nun eine neue Generation heranwächst, die dem etablierten System deutlich kritischer gegenübersteht, ist fraglich", sagt Professor Andreas Kost, Dozent für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen.

In der entgegengesetzten Richtung entfalten die neuen Medien ihre Wirkung. Diese sprechen vor allem jüngere und mittlere Altersgruppen an. Über das Internet werden Menschen auf bestimmte Themen aufmerksam, obwohl sie sich sonst vielleicht kaum für Politik interessieren. Beim Deutschen Bundestag gibt es seit 2005 die ePetition, also die Möglichkeit, über das Internet eine Petition einzureichen und mitzuzeichnen. Mit wachsendem Erfolg: Seit 2008 haben sich rund eine Million Nutzer registrieren lassen, die Beiträge ins Forum stellen und Petitionen mitzeichnen.

Auch soziale Netzwerke etablieren sich als Instrument direkter Demokratie, etwa bei dem Volksbegehren "Schluss mit Geheimverträgen - Wir Berliner wollen unser Wasser zurück" im vergangenen Jahr, mit dem die Offenlegung der Verträge zwischen dem Land Berlin und den Wasserkonzernen RWE und Veolia zur Teilprivatisierung der Wasserbetriebe erreicht werden soll. Mit knapp 281.000 gültigen Unterschriften ist es eines der erfolgreichsten Volksbegehren in der Geschichte Berlins - auch mit Hilfe sozialer Netzwerke. So hatte das Begehren eine eigene Seite auf der Online-Plattform "facebook". Die Einladung zur Teilnahme flatterte virtuell in die Postkästen. Mehr als 5.500 Unterstützer verzeichnet die Seite bis heute.

Organisation gefragt

Auf Bundesebene gibt es in Deutschland den Volksentscheid nur in Fragen der Neugliederung des Bundesgebietes. Gäbe es weitere direktdemokratische Möglichkeiten, wäre dafür deutlich mehr Organisation nötig, wie Schiller sagt. Schon heute ist der Organisationsgrad auf Landesebene größer als auf Kommunalebene. Entscheidend könnte dann sein, welche bereits vorhandenen Verbände - wie Gewerkschaften, Umwelt-, und Sozialverbände - die Initiative ergreifen oder sich der Initiative kleinerer Verbände anschließen.

Wer jedoch in der Masse ein Volksbegehren tragen würde, lässt sich schwer sagen. "Vermutlich wird man auch auf Bundesebene keine spezifische Bevölkerungsgruppe finden können", sagt Schiller. Auf Bundesebene werde das gelten, was derzeit schon auf Landes- und Kommunalebene gilt: Ob jemand auf die Straße geht, Unterschriften für ein Volksbegehren sammelt oder beim Referndum teilnimmt, entscheidet der Grad der Betroffenheit.