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Eine neue Legitimation der parlamentarischen Demokratie

POLITIKWISSENSCHAFT Der Parteienforscher Karl-Rudolf Korte über die »Gesprächsstörung« zwischen Wählern und politischer Elite

03.01.2011
2023-08-30T12:16:34.7200Z
3 Min

Die Demokratie ist in Bewegung. 2010 markiert eine Zäsur im politischen System der Bundesrepublik Deutschland. Selten waren nicht-etablierte Verfahren der Willensbildung so populär. Ungewöhnlich viele Abgänge aus der Politik bis hin zum Rücktritt des Bundespräsidenten deuten auf Bewegungsspielräume der Politik. Über allem liegt ein dramatischer Gewissheitsschwund: Politik als gemeinsame Verabredung von Regeln und Prioritäten scheint ihre Gültigkeit für viele Wähler verloren zu haben.

Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat viel an demokratischer Normalität aufgezehrt. In einem changierenden Fünf-Parteien-System wird Mehrheitssuche zum Kern-Problem, zumal zeitgleich die ehemaligen Volksparteien nur noch als Volkspartei-Ruinen zu besichtigen sind. Viele mittelgroße Parteien, mehr Nichtwähler als Wähler und eine wachsende Skepsis der Bürger gegenüber der etablierten Politiker-Politik führten 2010 zu dem vom Sozialwissenschaftler Hirschman beschriebenen Phänomen von "Exit und Voice": Abwanderung und Widerspruch sind zwei Seiten einer Medaille, wenn man sich mit den Bewegungsrichtungen in unserer Demokratie auseinandersetzt.

Wutpolitik

Als Zäsur für jedes neue Großprojekt wird die Schlichtung zum umstrittenen Bahnhofsprojekt "Stuttgart 21" sicher wirken. Die traditionellen Planfeststellungsverfahren dienen der rechtlichen Legitimation. Die Behörden werden durch solche bewährten Verfahren rechtlich abgesichert. Bürger erhalten dadurch aber grundsätzlich nur Widerspruchsrecht, keine Alternativen. Nach "Stuttgart 21" besteht eine Verfahrenssehnsucht, die Information und Kommunikation ins Zentrum von Beteiligungskontexten rückt statt des Widerspruchs. In Hamburg agierten Bürger, als sie sich im Schulenstreit gegen das Allparteien-Gesetz mit einem Bürgervotum auflehnten. In Bayern kippte in diesem Jahr eine Bürgerbewegung das Anti-Raucher-Gesetz des Landtags. Es entstehen ganz offensichtlich neue Empörungsorte im vorpolitischen Terrain für bürgerlichen Protest. Die Gesprächsstörung zwischen der politischen Elite und den Wählern hat viele Ursachen. Die Substanzverluste unserer Demokratie sind nicht zu übersehen - wie überall in Europa. Wutpolitik erweitert den Resonanzraum für Populisten. Wie kann die Zukunft des Regierens und der Parlamente aussehen, wenn die Bürger nicht mehr an das Wirkungsversprechen der Politik glauben?

Anlieger-Demokratie

Mitschuld an der möglichen Unregierbarkeit sind immer beide Seiten. Kundenbürger mit befristetem Engagement überfordern als Betroffenheits-Partizipierer langfristige Politikgestaltung. Und Politiker vergrößern das Unbehagen, wenn sie weder begründen noch erklären, warum eine Entscheidung fällt. Institutionelle Fantasie ist dringend gefordert, um drei Bereiche miteinander zu verzahnen. Die repräsentative Demokratie befindet sich sichtbar in der Krise. Weder die Legitimation noch die Akzeptanz von Parlamentsentscheidungen trifft auf anerkennendes Wohlwollen. Die direkte Demokratie kann auch kein alleiniger Ausweg sein. So eine Anlieger-Demokratie bevorzugt immer unmittelbar Betroffene. Bei jeder normalen Wahl beteiligen sich, trotz insgesamt abnehmender Zahlen, immer noch weitaus mehr Bürger als in den Verfahren von Bürgerinitiativen, Volksbegehren und anderen Instrumenten direkter Demokratie. Grenzverschiebungen zwischen Populismus und Partizipation sind nicht auszuschließen, wenn direkte Demokratie wichtiger als repräsentative wird.

Neue Bürger-Kammer

Eine dritte Variante von Beteiligungsverfahren ist aus der de- liberativen Demokratie-Theorie zu gewinnen. Dabei stehen diskursive Kommunikationsverfahren im Zentrum als organisierte Kommunikationsprozesse einer demokratischen Wissensgesellschaft.

Mit einer Bürger-Kammer, die sich repräsentativ zusammensetzt, könnte eine Gesellschaftsberatung der Parlamente durch eigene Expertisen und Voten angereichert werden, die als Ergänzung zum Beratungsprozess in Parlamenten nutzbar ist. Außer- parlamentarische und parlamentarische Verfahren wären so zu kombinieren, dass die repräsentative Demokratie neue Akzeptanzbeschaffer erhält. Die Demokratie würde nochmals komplexer und weniger effizient. Doch mit einer intelligenten Verzahnung der drei Bereiche von Willens- und Entscheidungsbildung könnte neue Legitimation entstehen. Wenn die Protestformate zwischen Exit und Voice im Jahr 2010 dazu beigetragen haben, dann wäre viel für die Zukunft der Demokratie in Deutschland gewonnen.

Der Autor ist Politikwissenschaftler und hat seit 2002 einen Lehrstuhl an der Universität Duisburg-Essen inne.