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Bürger in Aufruhr

VON KATA KOTTRA

03.01.2011
2023-08-30T12:16:34.7200Z
2 Min

Vor zwei Wochen kürte die Gesellschaft für deutsche Sprache das Wort des Jahres 2010: Die Wahl fiel auf den "Wutbürger". Spiegel-Journalist Dirk Kurbjuweit prägte den Begriff und bezeichnete mit ihm Bürgerliche, die früher zur staatstragenden Klasse gehörten, inzwischen aber lieber auf die Straße gingen, um gegen Stuttgart 21, Kraftwerke oder Stromtrassen zu protestieren. Ein Fernsehrückblick erklärte 2010 gar zum "Jahr der Nein-Sager".

Bürgerproteste haben das vergangene Jahr geprägt: Die Stuttgarter Demonstrationen gegen den Bahnhofsumbau, das Hamburger Referendum gegen die sechsjährige Grundschule und der bayerische Volksentscheid gegen verrauchte Kneipen waren nur die prominentesten Beispiele. Besonders Infrastrukturprojekte und Bildungsthemen erregen in allen Bundesländern die Gemüter. Aber was sind das für Menschen, die sich da engagieren? Vier von ihnen haben wir auf Seite 3 porträtiert.

Allerdings: Ob die Proteste in ihrer Häufigkeit und ihrer Intensität nach überhaupt zugenommen haben, "wissen wir noch gar nicht", sagt der Berliner Protestforscher Dieter Rucht im Interview auf Seite 2. Er erforscht die Protestgeschichte der Bundesrepublik seit den 1950er Jahren. Eine plötzliche Verbürgerlichung der Proteste kann er nicht erkennen: Bereits 1968 seien es die "Kinder der Mittelschicht" gewesen, die auf die Straße gingen.

Ein Ergebnis von Ruchts Befragungen: Viele Demonstranten hätten das Gefühl, dass über ihre Köpfe hinweg regiert werde. Wie sollten Politiker in einer solchen Situation reagieren? Protestforscher Rucht plädiert für mehr Volksentscheide. Seine Meinung teilen bei Weitem nicht alle: Der Kommunikationswissenschaftler Ulrich Sarcinelli wirbt in seinem Essay auf Seite 9 dafür, "Politik, Parlamente und Parteien" zu öffnen und neue Möglichkeiten der Kommunikation einzuführen. Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte will sogar Bürgerkammern einrichten, die die Parlamente unterstützen und ergänzen sollen (Seite 11).

Die Praktiker der Demokratie, Abgeordnete von Bundestag und Landtagen, müssen sich hingegen ganz konkret damit auseinandersetzen, wie sie protestierenden Bürgern begegnen. Wie erklären sie ihre Überzeugungen? Wie versuchen sie, widerstrebende Interessen unter einen Hut zu bringen? Darüber berichten sie in den Porträts auf Seite 4.

Worüber sich alle politisch Engagierten einig sind: Dagegen zu sein alleine reicht nicht. Demokratie sei zwar anstrengend und erfordere Kompromisse, sagt die CSU-Abgeordnete Dorothee Bär im Streitgespräch mit Politikwissenschaftler Bernd Guggenberger auf Seite 8. "Aber wenn ich das nicht will, muss ich letztlich in einer Diktatur leben." Empörung könne zwar der Auslöser für Engagement sein, im zweiten Schritt erwarte er aber die Bereitschaft zur Mitgestaltung, findet auch Wolfgang Thierse, Bundestagsvizepräsident und SPD-Abgeordneter: "Von Demokraten ist immer zu verlangen, dass sie im Nein auch das Ja artikulieren."