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Mit Bibel und Pistole

EUGEN GERSTENMAIER (1954-1969) Der Präsident mit Amtszeitrekord prägte den parlamentarischen Stil

17.01.2011
2023-08-30T12:16:35.7200Z
5 Min

Wer ist das?" fragte die Gräfin leise ihren Nachbarn im Freundeskreis von Peter Yorck. Das ist Eugen Gerstenmaier, ein protestantischer Theologe, der in der einen Tasche die Bibel, in der anderen einen Revolver trägt, war die Antwort. "Und in der Tat", berichtet Marion Dönhoff, "wirkte dieser Mann nicht wie einer, der auch noch die linke Backe hinreicht, wenn er einen Streich auf die rechte bekommen hat - man konnte sich eher vorstellen, dass er den Kopf ein wenig senken und die Ärmel hochkrempeln würde."

Eugen Gerstenmaier (1906-1986), war einer der wenigen Männer aus dem Widerstand, die nach dem Krieg in der deutschen Politik eine herausragende Rolle spielten. Das machte ihn in jener Nachkriegsdekade, als der materielle und moralische Schutt der Nazi-Katastrophe noch lange nicht beiseite geräumt war, nicht unbedingt beliebter. Einerseits erschien er schon den Zeitgenossen wie aus einer anderen Welt: eigensinnig, von aufbrausender Natur, nicht ohne eine gewisse Selbstgerechtigkeit und Ungeschicklichkeit, vor allem wenn es darum ging, sich gegen Angriffe zu verteidigen, die er als ungerecht empfand.

Andererseits war er eine prägende Gründergestalt der Bonner Republik. Im Grunde war er aber als Politiker für heutige Begriffe undenkbar. Zumal er den Kirchenmann und Gelehrten nie ganz ablegen konnte und sich selbst nicht wirklich als Vollblutpolitiker begriff. Konrad Adenauer brachte das auf den Punkt, als er nach einem ausgiebigen Vortrag des schwäbischen Theologen anmerkte: "Tja, Herr Jerstenmaier, jedenfalls denken Se die Politik, die isch mache."

Rekordamtzeit

Er wurde zu Zeiten als möglicher Außenminister, ja als Nachfolger Erhards im Kanzleramt gehandelt. Ins Amt des Bundestagspräsidenten geriet er eher nolens volens: "Um es offen zu sagen: Ich bin nicht gern Bundestagspräsident geworden, ach nein." Keiner schnitt bei seiner Wahl - gegen Ernst Lemmer, aus seiner eigenen Fraktion! - je so schlecht ab wie Gerstenmaier, aber keiner wurde auch dreimal wieder gewählt und blieb so lange im Amt wie er: ganze 14 Jahre, von 1954 bis zu seinem bitteren Abgang im Jahre 1969. Er ist damit der am längsten amtierende Parlamentspräsident in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.

In seine Amtszeit fielen legendäre Parlamentssitzungen: über die SPIEGEL-Affäre 1962, in der Adenauer mit dem Satz: "Wir haben einen Abgrund von Landesverrat im Lande!" für Tumult sorgte, die Sitzung vom 30. Juni 1960, in der Herbert Wehner im Alleingang mit einer Aufsehen erregenden Rede den außenpolitischen Kurswechsel der SPD hin zur Westbindung vollzog, oder die berühmt gewordene Nachtsitzung des Bundestags vom 23./24. Januar 1958, in der während einer siebzehnstündigen Redeschlacht Thomas Dehler und Gustav Heinemann die Deutschlandpolitik Adenauers verrissen. Als Dehler in den Saal rief: "Glauben Sie noch, dass dieser Mann den Willen hat, das deutsche Volk zur Einheit zu führen?" glich das Plenum einem Hexenkessel.

Gerstenmaier war der Präsident der Bundestages, der die meisten Ordnungsrufe erteilte, er griff dabei aber selten zum Holzhammer: "Das Wort ,Infamie' geht über das hinaus, was ich hier für zulässig halte. Ich möchte Sie deshalb nicht zur Ordnung rufen, aber ich rüge das Wort, und ich bitte, darauf zu verzichten." In einer anderen Sitzung: "Politischer Schleichhandel lasse ich passieren, aber nicht deshalb, weil es mir gefällt, sondern weil mir die Freiheit in diesem Hause noch mehr gefällt." Oder: "Ich höre wieder im Chor ,Lügner', ,Lügner' rufen... Wenn ich einen einzelnen greife, bekommt er einen Ordnungsruf, und wenn er es dann wieder sagt, fliegt er raus. Ich sage das zur Vorsicht vorher." Meist hatte er die Lacher auf seiner Seite, etwa wenn er keine Unterbrechung der Debatte wünschte und zum Kanzler gewandt stichelte: "Ich habe den Eindruck , dass Sie den Wunsch haben, endlich zum Regieren zu kommen."

Als er den Bundestag eigens zu Adenauers Abschied vom Amt des Bundeskanzlers einberief, war das einmalig in der deutschen Parlamentsgeschichte. Gerstenmaier war ein überragender Redner von beinahe klassisch-antikem Format. Seine Laudatio auf Adenauer in jener Sitzung, die sich der 87 Jahre alte Kanzler stehend 40 Minuten anhörte, auch die Rede zu dessen Staatsbegräbnis vor den Staatsmännern aus aller Welt, darunter de Gaulle und der amerikanische Präsident Johnson, wie auch seine beiden Reden zum 20. Juli waren eine Lehrstunde der parlamentarischen Demokratie und gehörten eigentlich in die Schulbücher. Jedenfalls haben sie dazu beigetragen, dass sich die Öffentlichkeit des Landes in diesem Staat und seinem Parlament wiedererkannte.

Stilbildend

Unter Gerstenmaier nahm der parlamentarische Stil allseits anerkannte und bleibende Formen an: das noch heute gültige Zeremoniell, dass Abgeordnete sich beim Eintritt des amtierenden Präsidenten im Plenarsaal erheben, die Neugestaltung der Fragestunde, die Einführung der aktuellen Stunde. Für Gerstenmaier war ein Parlamentspräsident "nichts als der erste Diener seines Hauses". In diesem Sinne sorgte er unermüdlich für bessere Arbeitsbedingungen der Abgeordneten bis hin zum "Langen Eugen", dem Bonner Abgeordnetenhochhaus, in dem jedes Mitglied des Bundestages ein eigenes Büro bekam.

Berlin verlor er dabei nie aus den Augen. Schon 1959, mitten im Kalten Krieg, kümmerte er sich persönlich um den Wiederaufbau des Reichstagsgebäudes, "und zwar mit dem Zweck, dereinst Haus des Bundestages zu sein".

Seiner Meinung nach brauchte der Bundestag auch niemanden zu fragen, ob er in Berlin tagen dürfe oder nicht. Bei der Sitzung am 7. April 1965 kam es zum Eklat, als sowjetische Migs im Tiefflug über die Stadt donnerten, die Schallmauer durchbrachen und Übungsmunition abfeuerten. Drei Mal berief Gerstenmaier die Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten nach Berlin ein. Die Westalliierten, die die Oberhoheit über Berlin hatten, nahmen es hin. Doch das Regime hinter der Mauer startete eine Kampagne der Stasi gegen Gerstenmaier, wobei man sich nicht entblödete, ihn in einem "Braunbuch" als Gestapo-Spitzel und "exponierten Verfechter des Nazismus in der evangelischen Kirche" zu diffamieren. Er, der als "die tiefste Quelle" des deutschen Widerstands den "Gewissens- und Charakterprotest gegen die sittliche Verwahrlosung Deutschlands unter dem Nationalsozialismus" begriff, war bezeichnenderweise sowohl den Ewiggestrigen ein Ärgernis wie auch den Kommunisten in Ost-Berlin.

In Wahrheit gehörte Gerstenmaier zur Widerstandsgruppe des Kreisauer Kreises um Helmuth James Graf von Moltke. Er war ein Befürworter des Attentats auf Hitler und am 20. Juli an der Seite Stauffenbergs im Bendlerblock. Dort wurde er verhaftet und zum Verhör in die Gestapo-Zentrale in der Prinz-Albrecht-Strasse gebracht. Danach saß er bis zu seiner Befreiung durch die Amerikaner im Bayreuther Zuchthaus.

2008 hat Philipp Freiherr von Boeselager in einem Interview kurz vor seinem Tod darauf aufmerksam gemacht, dass Eugen Gerstenmaier 1953 mit viel Mühe eine Pension für die Witwen der Hingerichteten erreichte. 1968 geriet Gerstenmaier im Zusammenhang mit der vom Bundestag 1965 einstimmig verabschiedeten 7. Novelle des Wiedergutmachungsgesetzes unter massiven öffentlichen Druck, als ein Magazin, dass sich später mit angeblichen Hitler-Tagebüchern nicht eben mit Ruhm bekleckerte, bekannt machte, dass er selbst einer der Hauptnutznießer dieser Novelle war ("Lex Gerstenmaier"), weil ihm dadurch eine finanzielle Entschädigung in beträchtlicher Höhe zukam. "Der Schlußakt der Gerstenmaierschen Selbstverbrennung", schrieb damals Rudolf Augstein, sei zwar "aus keiner umwerfend verwerflichen Handlung hervorgegangen", doch sah Gerstenmaier, alleingelassen von seinen Parteifreunden in der Fraktion der CDU, keinen anderen Ausweg, als am 23. Januar 1969 sein Amt als Bundestagspräsident niederzulegen. "Das letzte Symbol der verlorenen Freunde vom 20. Juli", wie ihn Marion Gräfin Dönhoff einmal nannte, war sich zu schade, auch noch die linke Backe hinzureichen.

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