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Leben im Schatten der Mauer

ERINNERUNG Der Schriftsteller Rolf Schneider trifft den Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde, Roland Jahn

01.08.2011
2023-08-30T12:16:47.7200Z
6 Min

Das Dokumentationszentrum zur Geschichte der Berliner Mauer steht auf der nordöstlichen Seite der Bernauer Straße, nahe dem Nordbahnhof. Es gibt Ausstellungsräume und einen Turm, von dem aus das einstige Grenzgebiet einzusehen ist. Zu den gezeigten Exponaten gehören Videos, Fotografien, Texte. Zweck ist die Erinnerung an ein düsteres Stück deutscher Geschichte.

Erinnerung ist der Stoff, von dem die schöne Literatur lebt. Über den Abschnitt deutscher Geschichte, dessen Symbol die Berliner Mauer ist, habe ich schon geschrieben, als diese Mauer noch stand. Ich bin ein Erinnerungsarbeiter, nicht anders als der Mann, mit dem ich mich treffe.

Er ist nicht sehr groß. Er ist unprätentiös und trägt existenzialistenschwarze Kleidung. Seit diesem März führt er den etwas barocken Titel eines Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU). Roland Jahn leitet eine Institution mit mehr als anderthalbtausend Beschäftigten, einer Zentrale, zwölf Außenstellen und Dokumenten aus 45 Jahren DDR-Geheimdienstgeschichte. Anders als seine beiden Vorgänger hat er die deutsche Teilung auf beiden Seiten der Mauer erlebt. Es ist eine Erfahrung, die ich mit ihm teile.

Wir gehen und reden. Wir reden über Anpassung, Opposition, Mut, Feigheit, Sehnsüchte, Enttäuschungen, Verrat, Verdrängung, wir reden über Leben im Schatten der Mauer. Jahns Geburtsjahr ist 1953. An den 13. August 1961 hat er keine sinnliche Erinnerung, anders als ich, der ich mir das Geschehen mühelos abrufen kann. Am Tag zuvor hatte ich mich in West-Berlin aufgehalten. Ich hatte dort Südfrüchte gekauft, für mein Kind. Ich war mit der S-Bahn zurückgefahren und hatte gestaunt, wie nachlässig die Kontrollen am Bahnhof Friedrichstraße ausfielen. Anderntags hörte ich im Radio vom Bau der Grenzbefestigung. Ich schaltete den Fernseher ein. Ich saß den ganzen Tag davor, sah die Bilder mit den Panzersperren, den Uniformierten, den Bauarbeitern, den Flüchtenden, den Zuschauern.

Ein Kommentator sagte damals, der Flüchtlingsstrom von Ost nach West werde auch jetzt nicht völlig versiegen. Auf dem Gehsteig der Bernauer Straße wurden vor einiger Zeit kleine beschriftete Metallscheiben eingelassen, ähnelnd den Stolpersteinen, die an jüdische Schicksale in der NS-Zeit erinnern. Die Scheiben in der Bernauer Straße erzählen von geglückten Fluchten. Es hat sie gegeben, wie es auch unfreiwillige Wechsel gegeben hat von Ost nach West. Einer davon betraf Roland Jahn.

Er ist aufgewachsen in Jena. Er durchlief eine DDR-übliche Entwicklung: Mitgliedschaft im staatlichen Jugendverband, Schulabschluss, Grundwehrdienst. Er begann das staatsnahe Fach Wirtschaftswissenschaft zu studieren. Einblicke in die Repressionsmechanismen der SED ließen ihn nachdenklich werden. Einen Hang zur Aufsässigkeit besaß er seit jeher.

1976 wurde der Liedermacher Wolf Biermann aus der DDR ausgebürgt. Ein paar DDR-Autoren, zu denen ich gehörte, formulierten einen Protest, der anschließend über westliche Nachrichtenagenturen lief. Die Wirkung war beträchtlich. Junge Leute in der DDR schlossen sich dem Protest an, eines ihrer Zentren war Jena, einer der Protagonisten dort war Roland Jahn.

Er wurde exmatrikuliert. Er wurde Transportarbeiter. In der Folge fiel er ständig auf durch provokante Aktionen. Sein enger Freund Matthias Damaschk starb in Stasi-Untersuchungshaft, was ein Schock für Jahn war. 1982 zeigte er sich öffentlich mit der Fahne der oppositionellen polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc. Er kam dafür in Untersuchungshaft und wurde zu 22 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Internationale Proteste erzwangen seine vorzeitige Freilassung. Mit Freunden gründete er eine unabhängige Friedensgemeinschaft, wurde neuerlich festgenommen und gewaltsam in einen nach Bayern fahrenden Interzonenzug verbracht.

Verglichen damit war das Schicksal vieler anderer kritischer DDR-Intellektueller eher gnädig. Immerhin, wir wurden bespitzelt, hatten zunehmende Schwierigkeiten bei der Arbeit. Einige, darunter ich, verloren ihre Mitgliedschaft im Berufsverband. Manche emigrierten in die Bundesrepublik, unter Mitnahme ihrer Möbel. Mir fällt der Ausspruch des SED-Funktionärs Roland Müller ein: "Wir haben für jede Ratte eine Behandlung. Die eine streicheln wir, der anderen zeigen wir das Loch, aus dem sie gekommen ist. Keine Ratte bleibt unbehandelt."

Wir, Jahn und ich, gehen zu jenem ältesten Teil des Gedenkareals, der ein Stück der originalen Mauer bewahrt, eingefasst von zwei riesigen Metallplatten. Hier steht einer der Wachttürme. Hinter der Mauer ist der Boden sorgfältig geharkt, Fußspuren darauf wären mühelos zu erkennen. So sah es einst überall hinter der Mauer aus.

Heimliche Heimreise

Jahn spricht hörbar thüringischen Akzent. Für ihn, sagt er, sei die Abschiebung aus der DDR der schmerzliche Verlust von Heimat gewesen. Er ging aus Bayern nach West-Berlin, arbeitete als Journalist. Sein Thema war das Leben in der DDR, war das Leiden an den Zuständen der DDR und der Widerstand dagegen. Er schmuggelte Kameras über die Grenze. Heimliche Filmaufnahmen entstanden, die, versteckt nach West-Berlin gebracht, anschließend im Fernsehen liefen. 1985 reiste er, von Prag kommend, über den Flughafen Schönefeld heimlich in die DDR ein. Er fuhr nach Jena, stand vor dem Haus seiner Kindheit. Die Tür mochte er nicht öffnen, es hätte seine Eltern gefährdet. Die Sache war hochriskant und kaum mit Abenteuerlust zu erklären, nur mit Heimweh.

Meine eigene Situation in jener Zeit war weniger gefährlich. Da ich meine angestammte Umgebung nicht aufgeben mochte, nahm ich, um arbeiten zu können, eine Tätigkeit an westdeutschen Theatern an. Die Verträge liefen über die Künstleragentur der DDR, von ihr erhielt ich ein Visum zur ständigen Aus- und Einreise. Ich passierte regelmäßig Grenzkontrollpunkte in Berlin und in Thüringen. Die Prozedur war von quälender Ausführlichkeit. Manchmal schien mir, das trostlose Gelände der Checkpoints mit ihren Schlagbäumen, Sperren, Beobachtungstürmen, Baracken und Stahltoren seien der eigentliche Ort meiner Identität.

Immerhin, meine Reisemöglichkeiten waren auch ein Privileg. Ich wusste es und fühlte mich nicht gut dabei. Ich brachte in der DDR nicht erhältliche Medikamente mit, für andere. Gelegentlich saßen in meinem Arbeitszimmer junge Leute, die mich um Unterstützung baten. Ich sollte ihre Manuskripte in den Westen bringen, ich sollte ihnen politisch helfen. Nie konnte ich wissen, ob mir vielleicht ein Zuträger der Stasi gegenüber saß.

Mit den 1980er Jahren gewann die DDR-Opposition an Stärke. Roland Jahn unterstützte sie weiterhin. Dass die Stasi ihre Spitzel auch im Westen und da zumal in West-Berlin unterhielt, wusste er. Dass einer, der ihn ausspähte, ein naher Bekannter war, wusste er nicht. Vom Doppelleben Sascha Andersons, Prenzlauer-Berg-Poet und Stasi-Spitzel, erfuhr er nach dem Mauerfall, aus seinen Stasi-Unterlagen.

Wir betreten jenes Areal, das einst Friedhof der evangelischen Sophiengemeinde war, von der DDR beschlagahmt, anschließend planiert und den Grenzanlagen zugeschlagen. Jetzt wächst hier Rasen. Zwei große Metallkreuze erinnern an die einstige Bestimmung. Museal gefasste Öffnungen im Boden zeigen Reste von Grabmälern. An Stelle der von der DDR abgerissenen Friedhofskapelle steht heute ein neuer Sakralbau.

Roland Jahn hat den Fall der Mauer am 9. November 1989 im Fernsehen kommentiert. Ich hielt mich an jenem Tag in Österreich auf, ich erfuhr von dem Ereignis in einem Wiener Hotelzimmer, selten in meinem Leben habe ich mich so deplatziert gefühlt. Seither, seit fast 22 Jahren, ist die Berliner Mauer Geschichte.

Auf dem einstigen Gelände des Sophienkirchfriedhofs steht eine rostfarbene Metallwand. Sie nennt die Toten an der Mauer. Jedem von ihnen ist ein Fach zugedacht, die meisten zeigen eine Fotografie, manche sind leer. In manchen liegt eine weiße Rose. Die Abendsonne scheint auf die Rückwand und taucht die Fotos der Maueropfer in ein fast unwirkliches Licht.

Der Autor, 1932 in Chemnitz geboren und seit 1958 freier Schriftsteller, ist Verfasser zahlreicher Romane, Theaterstücke und

Hörspiele. 1979 wurde er aus dem Schrift-stellerverband der DDR ausgeschlossen.

Das Mitglied des PEN-Zentrums der Bundes- republik lebt in Schöneiche bei Berlin.