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REFORM Mit drei Monaten Verspätung beschließt der Bundestag ein neues Wahlrecht. Die Opposition will dagegen klagen

04.10.2011
2023-08-30T12:16:49.7200Z
6 Min

Karlsruhe, so beschreibt es das Internet-Lexikon Wikipedia, "ist nach Stuttgart und Mannheim die drittgrößte Großstadt des Landes Baden-Württemberg. (...) Historisch war Karlsruhe Haupt- und Residenzstadt des ehemaligen Landes Baden. Seit 1950 ist Karlsruhe Sitz des Bundesgerichtshofs und seit 1951 des Bundesverfassungsgerichts, weshalb die Stadt den Beinamen Residenz des Rechts trägt."

Das klingt schön: "Residenz des Rechts" - und ist auch der Grund, warum die badische Metropole mehr oder minder regelmäßig auch Volksvertreter anzieht. Nur einen Tag nach dem 60. Geburtstag des höchsten deutschen Gerichts bekundete jedenfalls am vergangenen Donnerstag in der Wahlrechtsdebatte des Bundestages die Opposition die feste Absicht, dem Jubilar demnächst wieder einmal ihre Aufwartung zu machen. Im Gepäck dabei: die vom Parlament mit schwarz-gelber Mehrheit verabschiedete Wahlrechtsnovelle der Koalition, gegen die die Opposition vor dem Bundesverfassungsgericht klagen will.

Union und FDP zeigten sich davon unbeeindruckt: Er sehe der "Ankündigung, dass Sie deswegen nach Karlsruhe gehen werden, mit großer Gelassenheit entgegen", sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Jörg van Essen, in der Aussprache an die Opposition gewandt, und der CSU-Innenexperte Hans-Peter Uhl ergänzte: "Wir sehen uns in Karlsruhe wieder, und das ist gut so."

Dabei ist der Gang vor die Karlsruher Richter in diesem Fall durchaus etwas pikant: Die nämlich hatten im Sommer vor drei Jahren den Gesetzgeber "verpflichtet, spätestens bis zum 30. Juni 2011" das Wahlrecht zu reformieren. Gleichwohl sollte es bis Ende September dieses Jahres dauern, bis der Bundestag an diesem Donnerstag in namentlicher Abstimmung einen entsprechenden Beschluss fasste - mit dem sich nun wiederum das Gericht zu befassen haben wird.

Paradoxer Effekt

Wie die Richter in ihrer Entscheidung vom 3. Juli 2008 (Az: 2 BvC 1/ 07, 2 BvC 7/ 07) urteilten, verstößt das Bundeswahlgesetz punktuell gegen die Verfassung, weil "ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann". Dieser paradoxe Effekt des sogenannten negativen Stimmgewichts tritt im Zusammenhang mit Überhangmandaten auf, die Parteien erhalten, wenn sie in einem Land mehr Direktmandate erringen, als ihnen laut Zweitstimmenergebnis zusteht.

Nach dem jetzt vom Bundestag mit 294 Ja-Stimmen und 241 Nein-Stimmen verabschiedeten Koalitionsentwurf (17/6290, 17/7069) soll die bisher mögliche Verbindung von Landeslisten einer Partei abgeschafft werden. Damit könnten die in einem Bundesland errungenen Zweitstimmen einer Partei nicht mehr mit den in einem anderen Land erzielten Zweitstimmen verrechnet werden. Durch den Verzicht auf Listenverbindungen werde die Häufigkeit des Auftretens des negativen Stimmgewichts "erheblich reduziert". Ergänzt werden soll die Neuregelung "um eine Sitzverteilung auf der Grundlage von Sitzkontingenten der Länder, die sich nach der Anzahl der Wähler in den Ländern bestimmen".

Ist die Zahl der Zweitstimmen einer Partei, die in den 16 Ländern nicht zu einem Sitz geführt haben, größer als die im Bundesdurchschnitt für ein Mandat erforderliche Stimmenzahl, sollen zum Ausgleich weitere Mandate vergeben werden. Diese weiteren Sitze sollen dabei zunächst den Landeslisten einer Partei zugeteilt werden, auf die Überhangmandate entfallen sind.

Alternative Gesetzentwürfe hatten die drei Oppositionsfraktionen vorgelegt, die aber keine Mehrheit fanden. Die SPD-Fraktion sah in ihrer Vorlage (17/5895) vor, die Zahl der Abgeordneten gegebenenfalls "so weit anzupassen, dass Überhangmandate im Verhältnis der Parteien zueinander vollständig ausgeglichen werden". Damit entfalle das negative Stimmgewicht "bis auf seltene und unvermeidliche Ausnahmefälle", schrieb die Fraktion.

Nach den Gesetzentwürfen der Linksfraktion (17/5896) und der Grünen (17/4694) sollten Direktmandate künftig bereits auf der Bundesebene und nicht mehr auf Länderebene auf das Zweitstimmenergebnis angerechnet werden. Sofern dann in Fällen wie bei der nur in Bayern vertretenen CSU, bei der die Anrechnung auf Bundesebene nicht möglich ist, dennoch Überhangmandate entstanden wären, hätten diese nach dem Willen der Linksfraktion mit Ausgleichsmandaten kompensiert werden sollen. Die Grünen-Fraktion sah dagegen vor, dass in solchen Fällen entstandene Überhangmandate nicht mehr zuerkannt werden. Bei der Bundestagswahl 2009 hatte es 24 Überhangmandate gegeben, die alle auf die CDU/CSU entfallen waren; mittlerweile sind es nach dem Ausscheiden von zwei Unions-Abgeordneten noch 22.

Listentrennung verteidigt

Unions-Fraktionsvize Günter Krings (CDU) kritisierte in der Debatte, die Vorstellungen der Links- und der Grünen-Fraktion führten zu "verfassungspolitischen Kollateralschäden" und einer "erheblichen föderalen Ungleichheit". Das SPD-Modell wiederum bewältige nicht das Problem des negativen Stimmgewichts. Dagegen löse der Koalitionsentwurf "bei allen realistischen, lebensnahen Wahl-Szenarien" die Aufgabe, das negative Stimmgewicht zu beseitigen. Ursache für dessen Entstehung sei die Verbindung von Landeslisten bei gleichzeitiger Existenz von Überhangmandaten. Die Koalition habe mit ihrem Modell den Vorschlag des Verfassungsgerichts aufgegriffen, "aus der Listenverbindung eine Listentrennung zu machen". Auch habe das Gericht darauf verwiesen, dass es dabei das Folgeproblem der "unberücksichtigt bleibenden Reststimmen" gebe. Dieses Problem habe die Koalition gelöst, indem diese Reststimmen aus den Ländern "bundesweit eingesammelt" und zu Zusatzmandaten addiert werden können. Krings warf zugleich der Opposition vor, sie habe sich im Streit um die Wahlrecht-Reform Konsensangeboten der Koalition verweigert.

Der FDP-Abgeordnete Stefan Ruppert betonte, im Gegensatz zur SPD hätten die Koalition sowie Die Linke und die Grünen einen Vorschlag gemacht, der "verfassungsrechtlich in Bezug auf das negative Stimmgewicht in Ordnung ist". Das Modell der Links- und der Grünen-Fraktion würde indes dafür sorgen, dass man in Brandenburg sechs Mal so viel Stimmen für ein Mandat brauche wie in Baden-Württemberg. "Sie verwüsten ganze Landesverbände", monierte Ruppert. Dies sei nicht zu rechtfertigen. Die Koalition habe eine sorgfältige Abwägung aller Argumente vorgenommen und könne sich mit ihrer Entscheidung in Karlsruhe "gut sehen lassen". Der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Peter Altmaier (CDU), zeigte sich überzeugt, "dass dieses Ergebnis jeder juristischen Prüfung standhalten wird".

Kritik an Überhangmandaten

Sein SPD-Kollege Thomas Oppermann hielt dagegen der Koalition vor, ihre Vorlage komme zu spät, beseitige das negative Stimmgewicht nicht und neutralisiere auch nicht die Überhangmandate. Diese Mandate, mit denen sich die Union an der Macht klammern wolle, seien verfassungsrechtlich nicht mehr haltbar, argumentierte Oppermann. Sie seien verfassungswidrig, weil sie denjenigen Wählern ein doppeltes Stimmengewicht geben, die durch Stimmensplitting dafür sorgen, dass neben dem direkt Gewählten ein weiterer Kandidat in das Parlament kommt. Auch führten Überhangmandate zu einer "regionalen Ungleichverteilung der Mandate" und verletzten die Chancengleichheit der Parteien. Zudem könnten sie "die Mehrheit im Deutschen Bundestag umdrehen". Für dessen Zusammensetzung seien die Zweitstimmen maßgebend, doch könne es bei vielen Überhangmandaten dazu kommen, "dass die Parteien, die eine Mehrheit der Stimmen haben, eben nicht mehr eine Mehrheit der Mandate haben".

Die SPD-Abgeordnete Gabriele Fograscher rechnete vor, dass derzeit fast vier Prozent der Parlamentarier aufgrund eines Überhangmandats im Bundestag seien. Erlange der schwarz-gelbe Vorschlag Gesetzeskraft, "werden bald mehr als fünf Prozent der Abgeordneten ein Überhangmandat haben. Das ist Fraktionsstärke, und das kann wirklich keiner wollen", sagte sie.

Der Parlamentarische Fraktions-Geschäftsführer der Grünen, Volker Beck, warf der Koalition vor, sie sei zu keinem Zeitpunkt ernsthaft zu Gesprächen über die Fraktionsgrenzen hinweg bereit gewesen, um zu einer verfassungsgemäßen Lösung der von Karlsruhe gestellten Fragen zu kommen. Der Grund sei, dass sich die Koalition mit dem Gesetz die Chance eröffnen wolle, "ohne Mehrheit beim Volk sich eine Mehrheit im Parlament zu ergaunern". Dies sei ein "Anschlag auf die parlamentarische Demokratie". Darauf werde seine Partei mit einer Organklage reagieren. Auch werde man mit den SPD-Abgeordneten eine Normenkontrollklage in Karlsruhe einreichen.

Für die Linksfraktion sagte ihre Parteivize Halina Wawzyniak, mit dem Koalitionsmodell werde der "unitaristische Charakter" von Bundestagswahlen aufgehoben. Auch sei es unlogisch, erst 16 getrennte Wahlgebiete zu schaffen und dann bei der Berechnung der Fünf-Prozent-Hürde und der Reststimmenverwertung wieder ein Bundeswahlgebiet zu betrachten. Das Koalitionsmodell habe "erhebliche verfassungsrecht- liche Probleme". Wawzyniak, die zugleich den Linke-Vorschlag einer grundlegenden Wahlrechtsreform verteidigte, beklagte zudem eine "Arroganz der Macht der Koalition" und fügte hinzu, das führe "unweigerlich nach Karlsruhe".