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EU Der Vertrag von Lissabon hat die Machtbalance verändert. Die Euro-Krise gibt vor allem Deutschland mehr Gewicht

20.02.2012
2023-08-30T12:17:26.7200Z
6 Min

In diesen Tagen, pünktlich zum 20-jährigen Jubiläum des Vertrags von Maastricht, macht sich der frühere EU-Kommissionsvorsitzende Jacques Delors Gedanken zur Europäischen Union, die sich nach seinem Empfinden in die falsche Richtung entwickelt. "Man spricht nicht mehr über die Kommission oder den Rat, man spricht über zwei Länder, Deutschland und Frankreich, als ob sie Europa regierten", sagt der Franzose, der von 1985 bis 1994 die EU-Kommission leitete. "Das kann so nicht weiter gehen", sagt Delors und malt eine düstere Zukunft auf. "Entweder verfolgt man die Gemeinschaftsmethode, nach der jeder gleich ist, oder Europa taumelt von einem internen Konflikt zum nächsten."

Das Europa von heute ist nicht mehr der Zusammenschluss, den Delors in seiner Zeit als Kommissionspräsident kannte. Damals war die Gemeinschaftsmethode Standard. Erst identifizierte die EU-Kommission in Brüssel das Wohl der gesamten Gemeinschaft und erarbeitete entsprechende Gesetzesvorschläge. Bei allen großen Entscheidungen der vergangenen Jahre, etwa zur Euro-Rettung, kam dagegen der entscheidende Impuls aus den Mitgliedsstaaten, allen voran aus Deutschland.

Turbulente Zeit

Das lag nicht nur daran, dass der Vertrag von Lissabon, der 2009 in Kraft trat, die Staats- und Regierungschefs formal gestärkt hat und den Europäischen Rat zu einer eigenen Institution erklärt hat. Vor allem seit dem Beginn der Finanzkrise hat die Kommission den EU-Mitgliedsstaaten das Feld überlassen. In der turbulenten Zeit, die 2008 mit der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers begann und seitdem nahtlos in die andauernde Schuldenkrise der Eurozone überging, schien die kurzfristige Abstimmung zwischen den nationalen Hauptstädten oftmals der einzige Weg, überhaupt einen gemeinsamen Nenner zu finden. EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy brachte es vor anderthalb Jahren auf den Punkt: "Oft geht es nicht um die Wahl zwischen Gemeinschaftsmethode und

zwischenstaatlichem Vorgehen, sondern um die Wahl zwischen einem koordinierten

europäischen Standpunkt und dem Nichts."

Der Vertrag von Lissabon und die Krise beschleunigten allerdings eine Tendenz, die zuvor schon spürbar war: Der Einfluss der EU-Kommission schrumpft bereits seit zwei Jahrzehnten, wenn auch schleichend. Gründe für den Machtverlust gibt es gleich mehrere. Einer liegt in den handelnden Personen: Keiner von Delors Nachfolgern brachte dasselbe politische Geschick mit, keiner sein Machtbewusstsein. Jacques Santer und Romano Prodi stellten sich bei entscheidenden Fragen den Staats- und Regierungschefs genauso wenig entgegen, wie es der amtierende Kommissionspräsident José Manuel Barroso tut. Die Hoffnung mancher Beobachter, Barroso werde in seiner zweiten Amtszeit unabhängiger von den Staats- und Regierungschefs agieren, weil er nicht mehr auf ihr Wohlwollen für eine Wiederwahl angewiesen ist, hat sich bisher nicht bestätigt.

Alarmistischer Brief

Barroso fiel seit Ausbruch der Finanzkrise und in der darauf folgenden Schuldenkrise mit wenig konkreten Vorschlägen auf. Als er sich vergangenen August mitten zur Urlaubszeit in einem alarmistischen Brief zu Wort meldete und andeutete, die kurz zuvor getroffenen Beschlüsse zum Euro könnten nicht ausreichen, schickte er die Börsen und den Euro auf Talfahrt. In vielen europäischen Hauptstädten wurde seine Intervention als Wichtigtuerei mit schwerwiegenden Folgen empfunden. Allerdings würde sich heute selbst ein Politiker eines Kalibers Delors´ schwer tun an der Spitze der EU-Kommission.

Mit mittlerweile 27 Mitgliedsstaaten ist die Union heterogener geworden, das gemeinsame Interesse diffuser. Allein die wöchentliche Sitzung der Kommissare ist eine kleine Herausforderung: 27 sitzen am Tisch. Zu Delors Zeiten kamen mittwochs 17 Kommissare zusammen. Außerdem ist die Kommission mit ihren Gesetzesvorschlägen in immer mehr Bereiche vorgedrungen, auch in jene, die Mitgliedsstaaten als ihre ureigenste Kompetenz ansehen. Deshalb sind Konflikte absehbar. Da in vielen Mitgliedsstaaten Politiker die Kommission für unbequeme Vorgaben aus Brüssel verantwortlich machen, gehört die Kommission nicht zu den populären Einrichtungen Europas. Nur noch 36 Prozent der EU-Bürger vertrauen ihr, ergab eine Umfrage des Eurobarometer vom Herbst 2011. Im Jahr 2004, zu Beginn der ersten Amtszeit Barrosos, lag der Anteil immerhin noch bei 52 Prozent. Die schwache Reaktion der Kommission auf die Finanzkrise dürften bei dem Image-Verlust eine entscheidende Rolle gespielt haben. Wenn die EU-Mitgliedsstaaten in der Euro-Krise so sehr zur treibenden Kraft geworden sind, dann liegt das auch an deren Finanzkraft: Nur die Staaten verfügen über die Mittel, um die Eurokrise zu entschärfen. Als 2010 zunächst ein Hilfsprogramm für Griechenland gezimmert wurde und anschließend der vorübergehende Rettungsschirm EFSF, dann spielten Kommissionsmittel eine verschwindende Rolle. Für einen Großteil der Milliarden-Beträge bürgten die Mitgliedsstaaten, allen voran Deutschland. Der EFSF ist keine Gemeinschaftsinstitution, sein Nachfolger, der permanente Rettungsschirm ESM, genauso wenig. "Eine Lösung ist ja nicht automatisch und allein dadurch besser, dass sie durch EU-Organe herbeigeführt oder ausgeführt wird", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer viel beachteten Rede im Herbst 2010 in Brügge.

Dieser Grundsatz durchzieht ihr Handeln. Ende 2011 schwor sie die Gemeinschaft auf den Fiskalpakt ein, der wegen des britischen Widerstands nicht als europäischer Vertrag abgeschlossen werden kann, sondern ein völkerrechtlicher Vertrag wird. Die EU-Kommission bleibt deshalb außen vor - was die Institution sehr wurmt.

Wenn sich der Einfluss zugunsten der Mitgliedsstaaten verschoben hat, bedeutet das allerdings nicht, dass alle einflussreicher sind. Die Großen, aber allen voran Deutschland, haben an Macht gewonnen, gefolgt mit einigem Abstand von Frankreich, das durch seine wirtschaftliche Schwäche und dem Verlust des Topratings AAA eindeutig zum deutschen Juniorpartner abgestiegen ist. Italiens Ministerpräsident Mario Monti hat bereits deutlich gemacht, dass sein Land ganz vorne mitspielen will, aber auch dessen Wirtschaft ist angeschlagen. Großbritannien hat sich selbst ins Abseits gestellt, seit es den Fiskalpakt ablehnt.

Viele kleinere, aber auch mittelgroße Mitgliedsstaaten sehen die neue Stärke der Großen mit Misstrauen. Die Kommission, die sich traditionell als Anwalt aller Länder verstanden hat, ist zu schwach, um den kleinen zu Hilfe zu kommen.

Gewinner

Im Gegensatz zur EU-Kommission gehört das Europäischen Parlament (EP) allerdings zu den Gewinnern des Vertrags von Lissabon. 40 Politikbereiche fallen zusätzlich in die Kompetenz des EP. Statt zuvor bei 75 Prozent aller Gesetzesinitiativen dürfen die Abgeordneten über 95 Prozent aller neuen Gesetze mitentscheiden. Das Mitentscheidungsverfahren hat schon in der Vergangenheit das EP erheblich gestärkt, ergab eine Studie des Pariser "Think Tanks Notre Europe". Die EU-Kommission habe schon vorab viel stärker berücksichtigt, welche Position EP und Mitgliedsstaaten einnähmen und eigene Ideen, die von beiden abgelehnt würden, gar nicht erst vorgeschlagen. Über die Jahre sei der Anteil an innovativer Gesetzgebung stark zurückgegangen, ergab die Studie. Manche Beobachter begrüßen die Stärkung des EP gegenüber der Kommission, weil dadurch mehr Macht auf eine demokratisch legitimierte Instanz übergeht.

Der Vertrag von Lissabon sieht auch vor, dass der Kommissionspräsident von einer Mehrheit der Europaabgeordneten bestätigt werden muss, nachdem ihn die Staats- und Regierungschefs bestimmt haben. Die Parlamentarier rangen Barroso im Gegenzug für ihre Zustimmung ein Zugeständnis ab, das de facto auf ein Initiativrecht hinausläuft. Auch das ist eine wichtige Neuerung.

Anderswo im neuen Machgefüge gibt es subtilere Veränderungen. Die Europäische Zentralbank (EZB) ist bemüht, ihre Unabhängigkeit von der Politik zu wahren, und der neue EZB-Präsident Mario Draghi stellt seit Amtsantritt zur Schau, dass er sich keine Vorgaben aus Brüssel oder den nationalen Hauptstädten machen lässt. Wenn es hart auf hart kommen sollte, hat die EZB allerdings immer ein starkes Interesse, den Euro zu stützen, um das eigene Überleben zu sichern. In Notenbankkreisen heißt es, unter bestimmten Umständen sei es deshalb durchaus vorstellbar, dass die EZB nicht völlig losgelöst von der Politik agieren wird.

Institutionen wie die Europäische Bank für Investitionen (EIB) oder der Rechnungshof sind von den Machverschiebungen kaum betroffen. Auch für den Europäischen Gerichtshof, ebenfalls in Luxemburg ansässig, ändert sich wenig. Bundeskanzlerin Merkel hatte eine stärkere Rolle für die Richter bei der Defizitkontrolle angedacht. Doch die Möglichkeiten der Richter, bei Haushaltsschlendrian einzuschreiten, bleiben im Fiskalpakt gering. Der Europäische Gerichtshof kann nur aktiv werden, wenn ein Mitgliedsstaat die Schuldenbremse nicht korrekt umsetzt, und dann auch nur, wenn ein anderes Land deswegen klagt.

Trotz aller Veränderungen ist sich der frühere EU-Kommissionsvorsitzende Delors sicher, dass die EU ihren Vorbildcharakter behalten kann. "Wenn unser Modell der Abgabe von Souveränität erfolgreich ist, dann kann das für die ganze Welt eine Inspiration sein."