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Bundespräsident Der Präsident, den wir gerne hätten

Essay Überlegungen zum höchsten Staatsamt in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Abgang von Christian Wulff

12.03.2012
2023-08-30T12:17:27.7200Z
7 Min

Stolze 29 Jahre lang hat Gerd Depenbrock, der Leiter des WDR-Studios in der Hauptstadt, über das politische Geschehen in der Bundesrepublik berichtet, erst aus Bonn, dann aus Berlin. Als er jetzt in den Ruhestand verabschiedet wurde, erinnerte die Intendantin des Westdeutschen Rundfunks, Monika Piel, daran, dass Depenbrock in dieser langen Zeit drei Bundeskanzler und sechs Bundespräsidenten habe kommen und gehen sehen. Da war unter den vielen hundert journalistischen und politischen Zuhörern für einen Moment im allgemeinen Schmunzeln auch Erstaunen spürbar. Drei Kanzler, aber sechs Präsidenten? Gilt doch gemeinhin, ohne dass sich jemand über die Stichhaltigkeit dieser Annahme Gedanken macht, der Bundespräsident als das Element der Kontinuität und verlässlicher Beständigkeit im hektischen Hauptstadtbetrieb. Immerhin ist er ja das Staatsoberhaupt, obwohl das Grundgesetz ihn an keiner Stelle als solches benennt. Das gefühlte, nicht das tatsächliche Gewicht dieses Begriffes "Staatsoberhaupt" hat einen Ewigkeitswert und eine Bedeutung wie die Nationalhymne oder die Fahne schwarz-rot-gold, ist also der Tagesdiskussion enthoben.

Kanzler prägen Perioden

Das mag alles so sein. In der Realität sind es aber offenbar nicht die Präsidenten, sondern die Kanzler, die mit ihren langen Amtszeiten ganze Perioden prägen. Das liegt nicht nur daran, dass sie, im Gegensatz zum Staatsoberhaupt, dem die Verfassung nur eine einmalige Wiederwahl zugesteht, immer wieder antreten und gewählt werden dürfen. Das hängt mit dem Alter zusammen, in dem man Kanzler oder Kanzlerin wird. Es ist, nehmen wir Adenauer einmal aus, eher die Lebensmitte. Aber was die Regierungschefs aus ihren Amtszeiten machten, hängt eben auch mit ihrem Naturell zusammen, und wie sie mit dem Amt, mit seinem Gewicht, umgingen. Sich Kurt-Georg Kiesinger als Tatmenschen vorzustellen, fällt schwer. Helmut Schmidt besinnlich im Sessel sitzend, das will auch kein Bild ergeben. Der war der erste "Macher" im Amt, obwohl auf Konrad Adenauer und Helmut Kohl, die beiden Langzeitkanzler, das Wort genauso zuträfe. Von letzterem sagte die so genannte, späte "Generation Golf2 leicht fassungslos, der sei bei ihrer Einschulung schon Chef gewesen und am Ende der Regelstudienzeit immer noch. Ob wir einmal von einer Ära Schröder sprechen, oder den Namen Merkel mit dem Begriff verbinden, mag die nächste Generation entscheiden.

Brutale Frage

Aber wir hatten, das geriet angesichts der letzten Turbulenzen um Bellevue eben in Vergessenheit, sehr wohl Präsidenten, die ihrer Zeit einen prägenden Stempel gaben. Natürlich sprechen wir völlig unstrittig von einer Ära Heuss. Es gab auch eine Ära Heinemann, obwohl der erste Sozialdemokrat im höchsten Staatsamt aus eigenen Stücken nach einer Amtszeit ausschied. Es gab eine Ära von Weizsäcker, aber dann wird es schon schwierig, ohne dass man den Nachfolgern Unrecht tun möchte. Roman Herzog und Johannes Rau waren jeweils nur fünf Jahre Hausherr in Schloss Bellevue, Horst Köhler beendete die zweite Periode aus eigenem Entschluss Knall auf Fall, und Christian Wulff schließlich schied aus, bevor er Kontur gewinnen konnte, wobei über ihn weder die Medien noch die Öffentlichkeit, der politische Gegner oder gar ein Internet-Shitstorm urteilen werden, sondern die Staatsanwaltschaft und vielleicht ein Gericht. Noch bei keinem Bundespräsidenten vor ihm aber hat sich so schnell und so brutal die Frage gestellt, welche Art von Mensch sich die Deutschen eigentlich an der Spitze des Staates wünschen, weil in der ganzen menschlichen Unzulänglichkeit - und die darf man ungeachtet der offenen juristischen Fragen konstatieren - doch schlagartig deutlich wurde, was wir von unserem obersten Repräsentanten erhoffen und was wir bei ihm auf keinen Fall sehen wollen.

Rolle der Medien

Sicherlich hat die moderne Medienwelt, hat das Internet, haben die Indiskretion und der bröckelnde Respekt vor Königsthronen mit dazu beigetragen, dass sich die gekrönten und die ungekrönten Großkopfeten nicht mehr so sicher, so unverletzlich fühlen dürfen. Das war lange anders, wobei fein zwischen dem Privaten und dem Dienstlichen unterschieden wurde, und die Sitten von Land zu Land auch noch einmal verschieden sind. In Präsidialdemokratien wie den USA oder Frankreich erfuhr die Öffentlichkeit von den Amouren eines Präsidenten Kennedy nichts, weil die Medien davon nicht wussten, oder darüber schwiegen. Die Rechtsbrüche eines Richard Nixon aber kosteten ihn ein Jahrzehnt später das Amt, sein Sexualleben hingegen interessierte nicht. Unsere Nachbarn im Westen hatten wohl nie einen Zweifel daran, dass Präsidenten wie Valerie Giscard d'Estaing, Francois Mitterand und Jacques Chirac keine Kinder von Traurigkeit waren und ganz genau wussten, wo ihre Vorteile zu finden waren. Und die Deutschen? Ihnen ging es mit ihren Präsidenten wohl meistens so wie Kindern mit den Eltern - dass sich bei denen etwas im Schlafzimmer abspielt, konnte und wollte man sich vor allem nicht vorstellen. Die einzige Ausnahme war Walter Scheel, dessen leider so tragisch verstorbene Frau Mildred der Inbegriff der modernen, dynamischen Partnerin war und die beide zusammen als ein voll im Leben stehendes Paar wahr genommen wurden.

Modernes Deutschland

Und dann kam dieser Wulff. Er selber der Schwiegersohntyp par exzellence, eine attraktive Frau, fröhliches Kinderlachen, eine Patchworkfamilie im Schloss Bellevue. Da fiel so ziemlich alles aus dem Rahmen des gewohnten Präsidententypus, da grüßte das moderne Deutschland. Hatte der Mann nicht Probleme wie Millionen andere Menschen in diesem Staat? War er nicht einer von uns? Was ihn auf den ersten Blick so sympathisch machte, war auf den zweiten genau das Problem. Der Mann schien unsere Fehler zu haben, er ließ fünf gerade sein, hatte offenbar zu viel von der "Ich bin doch nicht blöd"- und "Geiz-ist-geil"-Werbung inhaliert, mochte an so manchem Schnäppchen nicht vorbei gehen. So sehr sich die Bürger aber wohl wünschen, ihr Präsident möge nicht abgehoben, sondern volksnah sein (das liebten die Deutschen an Johannes Rau und an Horst Köhler), so sehr erwarten sie aber doch, dass die Nummer eins im Staate sich nicht auf alle kleinen Versuchungen einlässt.

Die Kraft des Wortes

Und da man aus schlechten Erfahrungen eher lernt als aus guten - was wirklich schade ist -, machen sich viele Menschen jetzt Gedanken, wie unser Staatsoberhaupt eigentlich sein soll. Dieses Land leistet sich einen Präsidenten, den es für die Funktionsfähigkeit des Staates nicht braucht, zu dem es aber gerade deshalb aufschauen möchte. Die Würde des Präsidenten sollte unantastbar sein - auch durch ihn selbst. Seine einzige Macht ist die Kraft des Wortes, ohne dass er deswegen ein guter Redner sein muss. Wir erhoffen von ihm Ausstrahlung. Sie kann väterlich sein wie bei Heuss. Moralisch fordernd wie bei Heinemann. Hoheitsvoll und dennoch volksnah wie bei Carstens. Wahrhaft präsidial wie bei Weizsäcker. Fröhlich wie bei Scheel. Schalkhaft und anekdotisch wie bei Rau. Ein bisschen tadelnd und schlechtes Gewissen weckend wie bei Herzog. Aber die Frau, oder der Mann, der es ja wohl wieder werden wird, sollte jene Werte vorleben, von denen wir uns wünschen, dass sie dieses Land auszeichnen. Er sollte ein guter Nachbar sein, er sollte Missstände hier und überall da, wo wir sie auf der Welt ändern könnten, beim Namen nennen. Sie/Er soll nicht engstirnig, sondern tolerant sein. Deutschland ist ein sehr freies und ziemlich offenes Land, für Zuwanderer aus aller Welt, für andere Religionen, und es ist nicht nur ein großes, sondern auch ein großzügiges Land. Der Präsident sollte all das fördern und einfordern. Es wäre schön, wenn unser Präsident nicht nur deutsch spräche. Er darf gerne auch ein bisschen russisch oder englisch oder französisch oder spanisch verstehen, denn, pardon, liebe Politik, Europa spricht eben nicht deutsch, auch wenn es deutsch versteht. Ach ja: Und er sollte ein Herz für Minderheiten haben, gerade, weil er keine Angst haben muss, irgendwelche Mehrheiten dadurch zu verlieren.

Gegenpol

Unser neuer Präsident oder unsere neue Präsidentin sollte natürlich Autorität haben - bitte nicht so extrovertiert, kein Bundesclown, keine Stimmungskanone, keiner, der mit seinen Reden ganze Säle zum Toben bringt. Wir brauchen im Bellevue keinen Volkstribun, ganz im Gegenteil. Unser Staatsoberhaupt soll sich nicht anmaßen, was ihm laut Verfassung nicht zusteht - er soll nicht der bessere Kanzler sein. Aber einen Gegenpol zur Regierungspolitik wünscht man sich dann schon gelegentlich, das hat zum Beispiel bei Richard von Weizsäcker und Johannes Rau durchaus zum Nutzen der politischen Kultur ganz gut geklappt. Unser Präsident darf im Olympiastadion sitzen und sich über einen Sieg der Fußballnationalmannschaft begeistert freuen - und dabei das Staatsoberhaupt der unterlegen Mannschaft umarmen. Er darf auch mal die Contenance ein bisschen verlieren. Beim Sommerfest im Garten von Schloss Bellevue darf er ein Gläschen Wein zu viel trinken, wenn seine Frau oder seine Lebensgefährtin anschließend aufpasst, dass er nicht noch Auto fährt. Überhaupt brauchen wir keinen Heiligen im Schloss. Es sollte wieder als besondere Ehre empfunden werden, wenn der Präsident zu einer Veranstaltung kommt oder gar bei ihr redet. Und eine Einladung ins Schloss Bellevue darf gerne wieder von jedem, dem sie zuteil wird, als eine ganz besondere Auszeichnung empfunden werden.

Früher war das Amt des Bundespräsidenten der krönende Abschluss einer langen Politikerkarriere. Nicht erst mit dem kläglichen Abschied von Christian Wulff, sondern bereits mit dessen Nominierung für das höchste Staatsamt wurde unübersehbar, dass Hausherr im Bellevue zu sein zum Lebensabschnittsjob geworden ist, nach dessen mehr oder minder erfolgreicher Absolvierung der Amtsinhaber sich neue Aufgaben suchen muss. Dass es nach Bundespräsident kein normales Berufsleben mehr geben kann, das ist vorbei. Wollen wir das so? Ob Angela Merkel das alles bedacht hat, als sie sich für Wulff entschied - sie, die doch in dem Ruf steht, alles immer vom möglichen Ende her zu betrachten? Gerd Appenzeller z

Der Autor ist Herausgeber der Berliner Tageszeitung "Der Tagesspiegel"