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Keine Rückkehr zum Verfassungstag

GESCHICHTE Weder Tag noch Ort der Wahl des Staatsoberhauptes sind gesetzlich festgelegt

12.03.2012
2023-08-30T12:17:27.7200Z
4 Min

Wer hoffte, nach der Wahl von Christian Wulff zum Bundespräsidenten Mitte 2010 werde der Weg frei sein, um am Ende seiner Amtszeit eine vielen lieb gewordene Tradition wieder aufzunehmen, sah sich mit dem Rücktritt des Staatsoberhauptes im vergangenen Monat getäuscht. Drei Jahrzehnte hindurch nämlich - immerhin fast die Hälfte der mittlerweile 62-jährigen Geschichte der Bundesrepublik - ist der Bundespräsident stets an einem 23. Mai gewählt worden - eine Tradition, die nach dem Rücktritt von Wulff-Vorgänger Horst Köhler durchbrochen werden musste. Sie hätte wieder aufgenommen werden können, wenn Wulff seine reguläre Amtszeit von fünf Jahren bis zum 30. Juni 2015 absolviert hätte - oder

in diesem Jahr bis zum 25. April (aber auch nicht viel länger) gewartet hätte, um seinen Auszug aus Schloss Bellevue zu verkünden.

Siebenmal hintereinander

Ein besseres Datum als der 23. Mai lässt sich nämlich für die Wahl des ersten Mannes - oder der ersten Frau - im Staate wohl kaum finden: Es ist schließlich der Verfassungstag, an dem 1949 das Grundgesetz verkündet wurde, und so wurde immerhin schon siebenmal hintereinander das Staatsoberhaupt an diesem für das Selbstverständnis der Bundesrepublik so wichtigen Tag gewählt.

Eine schöne Tradition, aber auch eine ungeschriebene, denn das Grundgesetz legt nur fest, dass die Bundesversammlung spätestens 30 Tage vor dem Ende der Amtszeit des amtierenden Präsidenten zusammenkommen muss - bei "vorzeitiger Beendigung" etwa durch Tod oder wie im Falle der Amtsinhaber Köhler und nun auch Wulff durch Rücktritt maximal 30 Tage danach.

Wann genau das Staatsoberhaupt gewählt wird, bestimmt der Präsident des Bundestages, zu dessen Aufgaben laut Verfassung die Einberufung der Bundesversammlung gehört. Als erster Parlamentspräsident hatte sich Karl Carstens 1979 für den 23. Mai entschieden, und er sollte dann auch der erste Bundespräsident werden, der am Verfassungstag gewählt wurde - wie nach ihm 1984 und 1989 Richard von Weizsäcker, 1994 Roman Herzog, 1999 Johannes Rau und schließlich 2004 und 2009 Horst Köhler. Nach dessen Rücktritt am 31. Mai 2010 Mai berief Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) die 14. Bundesversammlung zum 30. Juni und damit - wie auch 2012 - letztmöglichen Termin ein.

Die Amtszeit Wulffs als neuer Bundespräsident begann an diesem 30. Juni 2010 in dem Moment, in dem er die Wahl angenommen hatte, obgleich seine Vereidigung erst zwei Tage später erfolgte - eine Besonderheit, die sich bei der Wahl seines Nachfolgers oder seiner Nachfolgerin wiederholen wird. Sie beruht auf dem Umstand, dass die Amtszeit Köhlers und Wulffs mit deren sofortiger Demission beendet war.

Start am 18. März

Bei allen ihren Vorgängern seit dem lange zuvor angekündigten Rücktritt von Heinrich Lübke zum 30. Juni 1969 hatte die Amtszeit jeweils an einem 1. Juli begonnen; die Nachfolge Wulffs dagegen wird nun an einem 18. März angetreten. Nur bei einer neuerlichen "vorzeitigen Beendigung" der Amtszeit des Staatsoberhauptes - die noch dazu in den passenden Zeitkorridor fallen müsste - ließe sich eine Rückkehr zum 23. Mai als Datum der Bundesversammlung praktizieren, da es kaum vorstellbar ist, jemanden rund zehn Monate vor Beginn seiner Amtszeit in das höchste Staatsamt zu wählen.

Den Anhängern des Verfassungstages mag es ein schwacher Trost sein, dass das neue Staatsoberhaupt am 18. März ins Amt gewählt wird - der ist immerhin als Jahrestag der März-Revolution von 1848 und der ersten freien Volkskammer-Wahl von 1990 gleichfalls ein Schlüsseldatum für das demokratische Deutschland. Doch wird dies, fünfjährige Amtszeiten vorausgesetzt, ein Einzelfall bleiben, da dann die kommenden Bundesversammlungen spätestens an einem 17. Februar stattzufinden haben -dem Jahrestag des Wulff-Rücktritts.

Heimstatt in Berlin

Solche Unwägbarkeiten spielen bei der Wahl des Versammlungsortes keine Rolle - mittlerweile jedenfalls: Seit der deutschen Einheit tagt die Bundesversammlung im Berliner Reichstagsgebäude. Den großen Plenarsaal des Bundestages in der Hauptstadt zu nutzen, ist naheliegend, vor allem aber ein Symbol für die überwundene Teilung Deutschlands. Die nämlich machte Berlin auch als Ort der Bundespräsidentenwahl für viele Jahre zum Streitobjekt zwischen Ost und West.

Gesetzliche Vorschriften über den Tagungsort gibt es nicht, abgesehen von der Tatsache, dass nach dem "Gesetz über die Wahl des Bundespräsidenten" der Bundestagspräsident neben dem Zeitpunkt der Bundesversammlung auch den Ort ihres Zusammentritts bestimmt. Nach der ersten Wahl 1949, zu der noch die Ministerpräsidenten der Länder in den damals neuen Bundestags-Plenarsaal nach Bonn geladen hatten, trat die Bundesversammlung vier Mal - 1954, 1959, 1964 und 1969 - in der (West-)Berliner Ostpreußenhalle zusammen. Wurden dagegen beim ersten Mal noch von keiner der vier Siegermächte Einwände geltend gemacht, werteten die Sowjetunion und die DDR die Wahl Berlins zum Tagungsort ab 1959 als Provokation und reagierten mit Protestnoten, Drohungen und schließlich auch mit Verkehrsbehinderungen auf den Zugangswegen zu der geteilten Stadt. 1969 verkündete die DDR knapp einen Monat vor der fünften Bundesversammlung ein Durchreiseverbot für deren Mitglieder, die Berlin damit nur noch auf dem Luftweg erreichen konnten; Manöver des Warschauer Pakts im Raum von Berlin wurden angekündigt, und am Wahltag selbst donnerten MiG-Kampfflugzeuge über West-Berlin.

Erst mit dem Vier-Mächte-Abkommen von 1971 verzichtete der Westen auf weitere Präsidentenwahlen an der Spree. In einem Brief der drei westlichen Botschafter an den Bundeskanzler hieß es: "In den Westsektoren Berlins werden keine Sitzungen der Bundesversammlung und weiterhin keine Plenarsitzungen des Bundesrates und des Bundestages stattfinden."

So mussten die Wahlleute künftig wieder an den Rhein reisen, an dem nun ab 1974 vier Bundesversammlungen in Folge in der Bonner Beethovenhalle stattfanden. Die letzte Präsidentenwahl dort erfolgte am 23. Mai 1989 - ein knappes halbes Jahr, bevor der Mauerfall auch der Bundesversammlung den Weg nach Berlin wieder frei machen sollte.