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Ringen um die Überhangmandate

BUNDESTAGSWAHLEN Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts feilen die Fraktionen an einem neuem Wahlrecht

06.08.2012
2023-08-30T12:17:35.7200Z
3 Min

Nun soll es zügig gehen: Bis spätestens zum Jahresende wollen die Bundestagsfraktionen ein neues Wahlrecht verabschieden, und zwar gemeinsam. "Eine möglichst einvernehmliche Lösung" müsse gefunden werden, drängte Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU).

Genau das war den Fraktionen im vorigen Jahr nicht gelungen, als es um die Umsetzung der Karlsruher Entscheidung von 2008 ging. In der hatte das Gericht die Abschaffung des Phänomens des negativen Stimmgewichts angeordnet. Im Alleingang hatte die schwarz-gelbe Koalition, nachdem die von Karlsruhe gesetzte Frist schon abgelaufen war, ihren Entwurf durch das Parlament gebracht. Dessen Kern war, die bisher bei der Zuteilung der Sitze übliche Verbindung der Landeslisten der Parteien wieder abzuschaffen und wie vor 1957 die Listentrennung zu praktizieren. Damit war das negative Stimmgewicht weitgehend beseitigt. Die Opposition und mehr als 3.000 Bürger klagten gegen das Wahlgesetz der Koalition beim Bundesverfassungsgericht und bekamen am 25. Juli Recht. Insbesondere gab das Gericht dem Gesetzgeber mit Blick auf die Überhangmandate einen Auftrag, der auf einen Ausgleich dieser Mandate hinausläuft. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in einem Land mehr Direktkandidaten durchbringt als ihr über das Zweistimmenergebnis an Sitzen zusteht. Zwei weitere Punkte des Gesetzes kippten die Richter: Zum einen rügten sie die Verteilung der Mandate auf die Länder nach der Wahlbeteiligung, weil dadurch wieder das Phänomen des negativen Stimmgewichts auftrete. Dieses aus dem Mischsystem von Mehrheits- und Verhältniswahl resultierende Phänomen wirkt sich - verkürzt gesagt -so aus, dass eine Partei bei der Verrechnung der Mandate zwischen den Ländern Sitze zugewinnen kann, wenn sie weniger Stimmen bekommt, oder Mandate verliert, wenn sie mehr Stimmen bekommt.

Zweitens lehnte das Gericht die Regelung der so genannten Reststimmenverwertung ab. Damit sollten jene Stimmen, die beim Verteilen von Sitzen an die Parteien in den Ländern "übrig" bleiben, bundesweit addiert werden, um Zusatzsitze an die Parteien vergeben zu können. Der Zweite Senat beanstandete, dass die Koalition keine Maßnahmen ergriffen habe, um ein Überhandnehmen der Überhangmandate zu unterbinden. Nach Ansicht der Richter sind mehr als 15 Überhangmandate ohne einen Ausgleich nicht akzeptabel. Abschaffen lassen sich die Überhangmandate im bestehenden Wahlsystem nicht, sie können nur mit Listenmandaten verrechnet oder durch zusätzliche Listenmandate ausgeglichen werden.

Nun wird in der Koalition auf Arbeitsebene vorsorndiert, welche Möglichkeiten es gibt. Unklar ist, ob Schwarz-Gelb bei der Listentrennung bleiben möchte oder doch eine Lösung mit bundesweiter Sitzzuteilung vorschlägt, wie sie vor allem die Linken fordern. Bleibt es bei der Listentrennung, wird die Sitzzuteilung an die Länder nach Einwohnerzahl oder Zahl der Wahlberechtigten vorgenommen.

Suche nach Lösungen

Ob es eine verfassungskonforme Lösung bei der Reststimmenverwertung gibt oder ob sie fällt, ist ebenfalls noch offen. Allerdings werden CDU, CSU und FDP wohl der Kernforderung der SPD entgegenkommen, die Überhangmandate auszugleichen - vermutlich alle, denn jeder Teilausgleich ist wieder "klageanfällig". Entsprechend äußerte sich CSU-Chef Horst Seehofer. Das würden auch die Grünen akzeptieren, obwohl ihr Parlamentarischer Geschäftsführer Volker Beck die Verrechnung von Überhangmandaten mit den Listen einer Partei in Ländern ohne Überhang für die bessere Lösung hält.

SPD-Innenpolitiker Dieter Wiefelspütz hat indes gefordert, das Zweistimmensystem ganz abzuschaffen und damit das Stimmensplitting, das eine Ursache für Überhangmandate sei, unmöglich zu machen. Bei der Bundestagswahl könnte es dann nur noch eine Stimme geben, die für den Wahlkreis und die Parteiliste gleichermaßen gezählt würde. Noch ist unklar, ob die Sozialdemokraten diesen Vorschlag offiziell zu ihrer Linie erklären.