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Alltag Armut

SOZIALPROJEKTE Immer mehr Menschen in Deutschland können sich immer weniger leisten. Sie sind auf Hilfe angewiesen

06.08.2012
2023-08-30T12:17:35.7200Z
7 Min

Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich einmal so weit unten stehe und kilometerweit für ein paar Lebensmittel laufe." Die 82-Jährige wirkt jünger als sie ist, doch ihre großen Augen schauen tieftraurig. Ihren Nachnamen verrät sie zwar auf Nachfrage. "Aber meinen Namen nicht in die Zeitung, bitte", fügt sie mit erhobener Stimme hinzu, ihre Augen werden noch größer, ängstlicher. Ihr grauhaariger Tischnachbar verabschiedet sich, "auf eine Zigarette". Es bleibt noch Zeit - Zeit, bis die Lebensmittelausgabe beginnt.

Erst Frühstück, dann Lebensmittelausgabe: ein gewöhnlicher Mittwoch in der evangelischen Advent-Kirche im Berliner Ortsteil Pankow. 15 bis 17 Ehrenamtliche versorgen hier allwöchentlich 80 bis 100 Mitmenschen mit Grundnahrungsmitteln. Menschen, die trotz vermeintlicher Grundsicherung wie Sozialhilfe oder Hartz IV nicht immer genug zum Leben haben. Und das ist bei immer mehr Menschen der Fall, nicht nur in fernen Ländern. Die Armut scheint zurück zu sein in Deutschland.

Mitte des vergangenen Jahrhunderts waren der Krieg und seine Folgen, waren Zerstörung und Vertreibung Ursachen der sogenannten "absoluten Armut" - dem Leben am äußersten Rande der Existenz. Die Betroffenen litten unter schwerwiegenden Entbehrungen, mussten um ihr Überleben kämpfen. Die Armut im Deutschland der Gegenwart nennt sich "relative Armut": eine Unterversorgung an materiellen und immateriellen Gütern, von Statistikern ermittelt, gemessen am allgemeinen Lebensstandard. Dazu gehört auch die Beschränktheit der Lebenschancen einiger im Vergleich zu denen der Mehrheit. Arme Menschen hierzulande können in der Regel gerade noch ihre Grundbedürfnisse befriedigen, doch sie leiden an einer chronischen Mittellosigkeit und einem Mangel an Chancen.

Euphemismus

Die Politik nennt "Armut" nicht gern "Armut". Weitaus häufiger spricht sie über "Armutsgefährdung" - was nichts anderes ist als "relative" Armut, eben anders ausgedrückt. Das sind immerhin zwölf Millionen Menschen bundesweit, also 14,5 Prozent der Bevölkerung, jeder siebte Bürger, so das Ergebnis des Armutsberichts 2011 des Paritätischen Wohlfahrtsverbands.

2010 lag die Armutsgefährdungsschwelle für einen Single-Haushalt bei 826 Euro, für eine vierköpfige Familie lag sie bei 1.735 Euro. Auf Basis dieser Berechnung wurde der Armutsbericht 2011 erstellt. In Berlin sind demnach sogar 19,2 Prozent der Einwohner relativ arm, ein Bruchteil von ihnen wird mittwochs in der Danziger Straße 201 versorgt.

"Zehn Jahre bin ich wegen meiner Tochter zuhause geblieben, aber 37 Jahre lang habe ich gearbeitet, als Kassiererin." Die alte Dame, die ihren Namen nicht geschrieben sehen will, redet sich in Rage. Das Frühstück ist beendet, ehrenamtliche Helfer räumen ab, nur ein unbenutztes Messer ist auf dem runden Tisch aus hellem Holz liegen geblieben. Nun sitzt die alte Frau allein dort.

"Das waren noch Kassen mit Kurbeln, uralte Scheißdinger, im Osten eben," kann sie sich Jahrzehnte später noch empören. 465 brutto habe sie verdient, "Ostmark". Und den ganzen Laden hätten die Kassiererinnen schrubben müssen. Die Leute hätten schon vor Ladenöffnung drängelnd vor der Tür gestanden. Rentner seien das natürlich gewesen. Nun ist sie selbst eine von ihnen.

514 Euro Rente bekomme sie. Obwohl sie jahrelang "freiwillig geklebt" habe, für die Versicherung. EHundert und ein paar Euro betrage ihre Kaltmiete, dazu die Nebenkosten. Die letzte Rentenerhöhung von elf Euro sei direkt von der Nebenkostenerhöhung verschluckt worden. Zum Leben bleibe ihr zu wenig. Deshalb komme sie mittwochs hierher, zu Fuß. Eine Stunde brauche sie. Ihr Geld reiche nur für eine Fahrt, darum nehme sie die Bahn auf dem Rückweg, wenn sie mit Lebensmitteln beladen ist. Das alles hätte sie sich nie träumen lassen, wiederholt sie, die Frau mit den traurigen Augen.

Altersarmut

Die voranschreitende Altersarmut alarmiert längst nicht mehr nur die Sozialverbände, sondern auch die Politik. Im Frühjahr erst hatte Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) ein dreiteiliges Paket zur Armutsbekämpfung vorgestellt: Zuschussrente für Geringverdiener, Zuverdienst für Frührentner und Versicherungspflicht für Selbständige sollen der Bedürftigkeit im Alter vorbeugen. Kritik nicht nur aus der Opposition, sondern auch vom Koalitionspartner FDP und Institutionen wie dem Sozialverband VdK folgten. "Der am stärksten von Armut bedrohte Personenkreis profitiert nicht von den Plänen", argumentierte VdK-Präsidentin Ulrike Mascher. Nicht die langjährig Versicherten, sondern die Langzeitarbeitslosen seien am stärksten betroffen.

Fakt ist, dass mehr als eine halbe Million Rentner zwischen 65 und 74 Jahren weiter arbeiten muss - ein Heer älterer Minijobber. Ihre Zahl ist gegenüber 2000 um fast 60 Prozent gestiegen. Schwarzarbeiter sind in dieser Zahl nicht erfasst und auch nicht die mittlerweile in jeder deutschen Großstadt allgegenwärtigen Pfandflaschensammler. Wie zum Beispiel auf dem Bahnhof Friedrichstraße in Berlin-Mitte. Drei gepflegte Grauhaarige jenseits der 65 Jahre durchsuchen im Abstand von wenigen Minuten die Mülleimer auf dem Gleis der S7 Richtung Potsdamm. Sind sie längst keine Ausnahme mehr.

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat jüngst eine alarmierende Studie veröffentlicht: In den kommenden 50 Jahren werde die durchschnittliche Lebenserwartung in den Industrienationen um etwa sieben Jahre steigen; eine Erhöhung des Renteneintrittsalters sei deshalb unausweichlich.

Der Tischnachbar, der sich in die Raucherpause verabschiedet hatte, ist zurück. Er stimmt in das Klagelied der alten Dame ein: "Nicht nur die Politik ist korrupt, die hier sind es auch", schimpft er, nickt dabei in Richtung eines Ehrenamtlichen. "Die" nämlich würden Wartenummern unter der Hand vergeben und einige Lebensmittel auch. Außerdem, ergänzt die 82-Jährige, müsse sie sich auch noch für ihr gepflegtes Äußeres rechtfertigen. Ihr sei schon vorgeworfen wurden, dass sie viel zu gut gekleidet sei für eine Bedürftige. Die alte Dame führt einzelne Fälle als Belege für zunehmende Streitgkeiten aus. Probleme dieser Art kennt auch der Paritätische Wohlfahrtverband, der bereits im letzten Jahr vor "sozialen Unruhen" gewarnt hat.

"Das hab' ich für fünf Euro gekauft", rechtfertigt sie sich, "bei den Fidschis" und zupft an ihrer Sommerbluse. Kleidung kaufe sie nur noch an den Ständen asiatischer Händler, alles andere könne sie sich seit langem nicht mehr leisten. Schließlich bemerken sie und ihr Tischnachbar, dass der Saal nun endgültig leer ist. Die Lebensmittelausgabe wird gleich beginnen. Sie eilen nach draußen, zur Warteschlange.

Lebensmittelausgabe

An diesem Mittwoch scheint die Sonne vom wolkenlosen Himmel; es ist einer der zählbaren heißen Tage in diesem Sommer. Draußen, vor den schweren, hölzernen Pforten des hundertjährigen Gotteshauses aus braunem Backstein scharen sich die Bedürftigen. Fast bist zur Straße stehen sie bereits. Dabei hat die Ausgabe noch nicht einmal begonnen. So zahlreich wie ihr Erscheinen sind auch ihre Schicksale. Keiner kommt grundlos. Sie alle sind registriert und müssen sich ausweisen. So auch die Mutter mit ihrem blondschöpfigen Kind, einem Mädchen von eineinhalb Jahren. Sie stehen in der Warteschlange, das Kind ist quengelig. Später wird die Mutter erzählen, dass "die Kleene" an ADHS leidet, dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Dafür schlägt sie sich noch erstaunlich gut an diesem Morgen.

Hinter der Holzpforte laufen die Vorbereitungen für die Lebensmittelausgabe auf Hochtouren. Die 15 Ehrenamtlichen bilden in ihren roten "Laib und Seele"-Polo-Shirts auch optisch ein Team. Sie sind eingespielt, jeder Handgriff sitzt. Die meisten sind von Beginn an, seit 2007, dabei. Der Ablauf ist jeden Mittwoch gleich: Sie leihen einen kleinen Lkw, fahren zu Supermärkten und dem Hauptlager der "Berliner Tafel" und holen Lebensmittel ab. Die Leihgebühr wird aus dem kleinen Obolus von einem Euro finanziert, den jeder Bedürftige für seinen "Einkauf" zu zahlen hat. Anschließend baut das Team in Windeseile einen kleinen Markt auf: erst das Gemüse auf der rechten Seite, dann das Obst, links schließlich Milch, Fleisch und Brot. Alles schön in Kisten drapiert; hier sieht es nicht nur aus wie auf einem Wochenmarkt, es riecht auch so, angenehm nach frischen Früchten und Gemüse. Die Helfer sind zumeist älter als 50, so wie Christiane Gerhardt. Die freundliche Frau mit Brille und Kurzhaarfrisur verteidigt ungefragt die Vorwürfe der Frühstücker: Sie versuchten, die Lebensmittel gerecht zu verteilen und den Bedürftigen kleine Freuden zu bereiten. Zur Begrüßung bekommt jeder einen Schaumkuss, die "Kleene" eine Banane extra. Sie erzählt aber auch, dass viele gar nicht wüßten, was sie mit Obst und Gemüse anstellen sollten. Deshalb habe "Laib und Seele" extra ein Kochbuch herausgegeben, mit Rezepten von Prominenten.

1,3 Millionen Menschen etwa nutzen gegenwärtig die Versorgung durch Lebensmittel-Tafeln. 884 Einrichtungen dieser Art gibt es derzeit in Deutschland. Die Tendenz sei steigend, so der Bundesverband Deutsche Tafel. Die Sozialprojekte sind auf Ehrenamtliche wie Christiane Gerhardt und ihren Mann Lothar angewiesen.

Bereits als Vierte kommt die 82-Jährige in die Halle. Entweder hat sie Glück gehabt und eine niedrige Wartenummer gezogen oder aber sie wurde tatsächlich vorgelassen. Alle über-75-Jährige kommen bevorzugt dran, hatte Frau Gerhardt verkündet. Dass darauf keine Rücksicht genommen werde, hatte die alte Dame moniert. Sie zu fragen ist nicht mehr möglich, zu dicht ist das Gewusel, die alte Dame zu schnell. Auf jeden Fall sind ihre Tüten und der Hackenporsche bereits nach wenigen Minuten prall gefüllt. Dann verliert sich ihre Spur.

Kinderarmut

Nun rückt die Frau mit dem blonden Kleinkind in den Blickpunkt. Sie sieht müde aus. 42 sei sie, sagt sie auf Nachfrage. Ihren Namen will auch sie nicht nennen. Das ist verständlich. In Berlin lebt bereits jedes dritte Kind von Hartz IV, bundesweit fast jedes siebte. Die "Kleene" ist nicht ihr einziges Kind; ihr Ältester sei 22, der Mittlere 15, erzählt die Frau. Einen Mann zu den Kindern gibt es nicht. Die Kleine sei ein "Unfall" gewesen. Sie lebten von Hartz IV, Kinder- und Pflegegeld. "Der Große ist Autist, Pflegestufe I, beim Mittleren wurde eine Behinderung festgestellt, die reicht aber nicht für Pflegegeld. Bei ihr haben sie nichts festgestellt, sonst hätten sie die weggemacht. Aber ADHS kann man ja nicht sehen", sagt die Mutter. Die Betreuung ihrer Kinder sei mehr als ein Vollzeitjob; nur zwischen drei und sechs Uhr morgens könne sie schlafen. Ihre Augenringe bürgen dafür. Auf die Lebensmittelspenden seien sie definitiv angewiesen, sagt die 42-Jährige, bevor sie das Gemüse im Kinderwagen verstaut und nach der hyperaktiven Kleinen sucht.

Zwölf Uhr schlägt es vom Glockenturm. Die Helfer beginnen mit dem Reinigungsarbeiten und die Bedürftigen treten mit prallen Tüten und Taschen den Heimweg an, wie nach einem ganz normalen Wocheneinkauf eben.