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Wachsen im Alter

PRODUKTIVITÄT Die künftige "Erfahrungsgesellschaft" kann dynamischer und produktiver sein als angenommen

06.08.2012
2023-08-30T12:17:36.7200Z
4 Min

Manche Autofirmen gehen daran, ihre Produktionstechniken umzustellen. Überkopfarbeiten, also etwa das Herumschrauben in der Höhe, sollen möglichst wegfallen. Älteren Kollegen macht dieses anstrengende Herumwerkeln oft sehr zu schaffen, und für sie bedeuten die neuen Methoden eine Erleichterung. In Unternehmen wird man sich künftig noch mehr altersgerechte Investitionen einfallen lassen müssen: Dies nutzt der Produktivität Älterer, überdies vermögen solche Innovationen Arbeitnehmer vielleicht zu motivieren, länger im Beruf zu bleiben. Der demografische Wandel hin zu einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung zwingt Betriebe zum Umdenken. Besonders der vielbeschworene Fachkräftemangel, bislang angesichts des großen Reservoirs an Erwerbslosen noch ein begrenztes Phänomen, dürfte wegen des Wettbewerbs um Arbeitnehmer im Übrigen auch höhere Löhne zeitigen.

Produktivität sinkt nicht

Sind Ältere nicht weniger leistungsfähig und leistungswillig als bestens qualifizierte, dynamische jüngere Kollegen? Christoph Schmidt plädiert unter Verweis auf Fallstudien im produzierenden Gewerbe für differenzierte Sichtweisen. Jüngere würden zwar weniger Fehler als der ältere Teil der Belegschaft machen, doch seien diese gravierender. Umgekehrt unterliefen Älteren Missgriffe häufiger, die aber aufgrund größerer Erfahrung weniger schwerwiegend seien. Für den Bochumer Wirtschaftsprofessor belegt dieses Beispiel, dass die Arbeitsproduktivität alternder Belegschaften nicht zwangsläufig abnehmen muss.

Schmidt sitzt als Sachverständiger in der Enquetekommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität", in der die Auswirkungen des demografischen Wandels zu den höchst strittigen Themen gehören. Auf den ersten Blick liegt eine simple Gleichung nahe: Die Zahl der Erwerbstätigen geht zurück, und diese werden im Schnitt immer älter - weswegen logischerweise das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sinkt und sich die Politik auf Schrumpfungsprozesse einstellen muss. Doch stimmt diese Rechnung? Wird ein solcher negativer Trend nicht kompensiert durch Produktivitätssteigerungen, wird die Abnahme an Beschäftigten nicht ausgeglichen durch mehr Ältere, mehr Frauen, mehr Zuwanderer?

Senioren mit anderen Werten

"Alle stochern mit Stangen im Nebel", sagt Meinhard Miegel, Ex-Chef des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft. Zwar sei in der Geschichte immer mal wieder das Phänomen einer schrumpfenden Bevölkerung aufgetreten, doch eine alternde Gesellschaft mit wenig Kindern und Jugendlichen sei "etwas völlig Neues", für die "Bewältigung dieser Herausforderungen gibt es keine historischen Vorbilder", mahnt der Professor. Wie gravierend wird dieses Problem indes überhaupt sein? Es existieren teils sehr unterschiedliche Schätzungen. Als Richtschnur mag eine von Schmidt genannte Ziffer gelten: Der Rückgang der Zahl der Erwerbspersonen werde in den nächsten vier Jahrzehnten rund 30 Prozent betragen.

Miegel hat eine eher pessimistische Sicht der Dinge. Er warnt davor, angesichts einer "qualitativ anderen Gesellschaft" statistische Trends etwa bei der Produktivität oder der BIP-Entwicklung einfach linear fortzuschreiben. Für Miegel ist es "ungewiss", ob es noch zu spürbaren Produktivitätsfortschritten kommen wird. Eine alternde Gesellschaft verhalte sich nicht "betont dynamisch-expansiv", so Miegel. Vom 45. Lebensjahr an seien die Leute weniger daran interessiert, die Wirtschaftsleistung zu erhöhen. In diesem Alter zählten nicht mehr so sehr Veränderungen und Konsumorientierung, sondern Werte wie Ruhe, Genuss, Freizeit. Zweifel im Blick auf künftige Wachstumsraten hegt er auch deshalb, weil zusehends medizinische und pflegerische Dienstleistungen benötigt würden, und solche Branchen seien für "Produktivitätssteigerungen nur bedingt zugänglich".

"Produktivität schlägt Demographie": So kontert Norbert Reuter Miegels Prognosen. Der Sachverständige rechnet auch künftig mit Produktivitätsfortschritten und Wachstumsraten. Bei einem Produktivitätsplus von einem Prozent werde bis 2060 das BIP insgesamt leicht, das BIP pro Kopf sogar deutlich steigen. Sollte es gelingen, die Erwerbstätigenquote unter den bis zu 65jährigen auf 80 Prozent anzuheben, dann werde diese Entwicklung noch positiver verlaufen. Schrumpfung und Alterung führten nicht zu einem "grundsätzlichen Knappheitsproblem", so der Wirtschaftsexperte beim Verdi-Vorstand: "Wir können uns der demographischen Herausforderung gelassen stellen." Trotz demografischer Veränderungen wird sich nach Verdi-Berechnungen der im Prinzip für jeden zur Verfügung stehende Reichtum bis 2050 verdoppeln.

Schmidt betont, man starte in den demografischen Wandel mit einem beachtlichen materiellen Lebensstandard. Trotz des Rückgangs der Zahl der Erwerbspersonen werde das BIP pro Kopf weiter klettern, mit zunehmendem Alter wachse die Arbeitsproduktivität der Berufstätigen. Für Karl-Heinz Paqué ist historisch belegt, dass gerade in Zeiten von Arbeitskräfte- und besonders von Fachkräftemangel der Wille zu technischen Neuerungen stärker werde und Produktivitätsschübe zu verzeichnen seien. Wie der Magdeburger Wirtschaftsprofessor meint auch dessen Münchner Kollege Kai Carstensen, eine alternde Gesellschaft könne durchaus innovativ sein. Früher habe sich die Ruhestandsgeneration auf viele Jüngere verlassen können, weswegen Ältere kaum Anreize zu wirtschaftlichem Engagement verspürt hätten - was der demografische Wandel jedoch ändern werde.

Der CSU-Abgeordnete Georg Nüßlein ist überzeugt, dass 50- bis 60-Jährige aktiver und dynamischer sein werden als ehedem: Deren Bereitschaft, neue Projekte zu wagen, werde angesichts einer höheren Lebenserwartung wachsen. "Defätismus" lehnt auch Waltraud Wolff ab: "Der technische Fortschritt wird rasant zunehmen." Überdies könne eine ältere Bevölkerung, so die SPD-Parlamentarierin, eine "Erfahrungsgesellschaft" hervorbringen.

Nun hat ein höherer Anteil Älterer in der Bevölkerung unweigerlich größere Belastungen für die sozialen Sicherungssysteme zur Folge, wovor nicht nur Miegel warnt. Inwieweit diese Kosten vom Staat oder von Beitragszahlern zu stemmen sind und wie viel sich über den Produktivitätsfortschritt finanzieren lässt, ist offen. Paqué sieht nicht nur Risiken: Der Gesundheitssektor könne sich auch als Wachstumsmotor entpuppen.

Unstrittig ist in der Kommission, dass eine schrumpfende und alternde Erwerbsbevölkerung zusätzlicher Arbeitskräfte bedarf: Man werde mehr Ältere, Frauen und Zuwanderer gewinnen müssen.

Notwendig ist auch eine altersgerechte Gestaltung der Arbeitswelt sowie mehr Fortbildung. Vor dem Gremium entwarf Professorin Heike Solga vom Wissenschaftszentrum Berlin ein differenziertes Szenario für eine von der Vorsitzenden der Kommission, Daniela Kolbe (SPD), geforderte "Kultur des lebenslangen Lernens". Zum Instrumentenkasten zählt auch eine familienfreundliche Organisation des Berufslebens. Und dann ist da noch der wachsende Bedarf an Arbeitskräften aus dem Ausland. Kolbe fragt: "Wie attraktiv sind wir überhaupt für Zuwanderer?"