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Spitzeleinsatz mit Sprengkraft

NSU-AUSSCHUSS Polizei und Geheimdienste waren möglicherweise doch nahe an der Zwickauer Zelle dran

17.09.2012
2023-08-30T12:17:37.7200Z
6 Min

Im Europasaal 4.900 verwandelten sich die Abgeordneten vergangenen Donnerstag bei der Beschäftigung mit der Erschießung der Polizistin Michèle Kiesewetter und der schweren Verletzung eines Kollegen von ihr in Heilbronn zeitweise in Kriminalisten. Man habe bei dieser inzwischen dem "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) zugerechneten und bis heute rätselhaften Tat vom April 2007 sage und schreibe rund 5.000 Spuren verfolgt, berichtete Christoph Meyer-Manoras. Im Detail debattierten die Parlamentarier mit dem Staatsanwalt und mit Axel Mögelin, dem Chef der Soko "Parkplatz", kontrovers, warum etwa ein bei einer Ringfahndung registriertes Kennzeichen eines nach späteren Erkenntnissen von einem NSU-Mitglied angemieteten Wohnmobils lange Zeit nicht überprüft wurde, wieso eine private E-Mail-Adresse Kiesewetters nicht ausgewertet wurde oder warum im weiteren Umfeld des Tatorts gefundene Taschentücher mit Blutspuren erst mit Verzögerung untersucht wurden. Doch auch diese kriminalistischen Anstrengungen vermögen die Feststellung Mögelins nicht in Frage zu stellen, dass Tathergang und vor allem Motiv dieses Mords "wohl ungeklärt bleiben".

"Merkwürdige" Einlassungen

Zwei Tage zuvor staunte der Untersuchungsausschuss, der Fehlgriffe bei den Ermittlungen zur Erschießung Kiesewetters und neun türkisch- oder griechischstämmiger Kleinunternehmer durchleuchten soll, über die laut Grünen-Obmann Wolfgang Wieland "merkwürdigen" Einlassungen eines hessischen Ex-Verfassungsschützers zum Mord am Kasseler Internetcafe-Betreiber Halit Yozgat im April 2006. Der Geheimdienstler war unmittelbar vor dem Attentat am Tatort. Andreas T. erklärte, er habe keine Schüsse gehört und nichts gesehen. Als einziger Kunde des Lokals hatte er sich nicht sofort als Zeuge bei der Polizei gemeldet, aus "Angst", dass sein privates Internetsurfen "rauskommt".

Bei ihm sei rechtsextremes Schriftgut gefunden worden und früher sei er im Dorf "Klein-Adolf" genannt worden, hakten Abgeordnete nach. Ja, in seiner Jugend habe er sich mit diesem Gedankengut befasst, sagte T., aber das sei vorbei: "Ich bin kein Rechtsextremist." Für Wieland und Unions-Sprecher Clemens Binninger war dieser Auftritt alles andere als glaubwürdig. Das sei jedoch "kein Beweis für eine Verwicklung" in den Mord, sagte der CDU-Politiker. Ermittlungen gegen T. waren eingestellt worden.

Ende August waren der Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy (SPD) und sein Vize Stephan Stracke (CSU) mit Opfern der Kölner Bombenanschläge von 2001 und 2004 zusammengekommen; vergangene Woche nun befasste sich das Gremium zwei volle Tage kritisch mit den Fällen Kiesewetter und Yozgat. Doch mehr noch als diese Themen trieben die Abgeordneten spektakuläre Enthüllungen um, die andeuten, dass Polizei und Geheimdienste am NSU-Trio möglicherweise doch nah dran waren. So hatte das Berliner Landeskriminalamt (LKA) offenbar jahrelang einen Rechtsextremisten als Spitzel geführt, gegen den mittlerweile die Bundesanwaltschaft wegen des Verdachts ermittelt, ein Helfer der Terrorzelle gewesen zu sein. Der V-Mann soll Hinweise zum abgetauchten NSU geliefert haben, den Terroristen Sprengstoff besorgt haben und zeitweise mit NSU-Mitglied Beate Zschäpe liiert gewesen sein. Zudem hat der Streit über die vom Ausschuss ans Tageslicht beförderten Anwerbeversuche des Militärischen Abschirmdiensts (MAD) beim späteren NSU-Aktivisten Uwe Mundlos im Jahr 1995 und über den seitherigen Umgang der Geheimdienste mit diesem Kontakt Volker Limburg, Chef des Verfassungsschutzes von Sachsen-Anhalt, das Amt gekostet.

Aufklärung zugesagt

Ins Rollen gebracht hat die Berliner Affäre der für den Ausschuss tätige Ermittlungsbeauftragte Bernd von Heintschel-Heinegg, der aufgrund einer Unterrichtung durch die Bundesanwaltschaft einen "sehr präzisen und hochbrisanten Hinweis" (Binninger) auf eine Akte bei der Berliner Polizei mit Informationen entdeckte, die 2002 möglicherweise zum Aufenthaltsort des NSU hätten führen können. Die Parlamentarier erregten sich, dass ihnen erneut wichtige Unterlagen vorenthalten worden seien. SPD-Obfrau Eva Högl sprach von einem "Skandal", Wieland von einem "Schlag in die Magengrube". Petra Pau (Linke) will nicht mehr akzeptieren, dass Akten erst dann geliefert werden, wenn sie vom Ausschuss identifiziert worden seien.

Ob die Angaben des LKA-Spitzels Thomas S. zur Entdeckung des NSU geführt hätten, ist offen. Zu welchen Erkenntnissen die Recherchen der Berliner Landespolitik führen, stand bei Redaktionsschluss noch nicht fest. Innensenator Frank Henkel (CDU) sagte Aufklärung zu. Die Bundestagsabgeordneten wollen auch wissen, ob das LKA die in der Mordserie ermittelnden Sokos und Staatsanwälte anderer Länder über die Existenz des V-Manns unterrichtet hat.

Derweil wirbeln Medienberichte über Details der Spitzeltätigkeit gehörig Staub auf. Danach soll S., der bei Vernehmungen die Beschaffung von Sprengstoff in den 1990er Jahren für den NSU eingeräumt habe, zwischen 2001 und 2005 fünf Mal Angaben zum Zwickauer Trio gemacht haben. So soll er gesagt haben, auf die Spur des NSU könne man über die rechtsextreme Musikszene in Sachsen kommen. Thomas S. war offenbar 1996/97 mit Zschäpe verbandelt.

Zu der Berliner Affäre gehören Meldungen, wonach das Bundesamt für Verfassungsschutz Unterlagen zu S. geschreddert haben soll. Nach bisherigen Informationen wurden die Ergebnisse dieser 2010 vernichteten Akten nach dem Auffliegen der NSU-Zelle 2011 rekonstruiert und an die Bundesanwaltschaft, aber nicht an den Untersuchungsausschuss weitergeleitet. Die rekonstruierten Dokumente selbst soll der Verfassungsschutz 2012 wieder gelöscht haben.

Auch eine MAD-Affäre ärgert den Ausschuss gewaltig. Während seiner Bundeswehrzeit 1995 war der mutmaßliche Rechtsterrorist Uwe Mundlos wegen rechtsextremistischen Verhaltens vom MAD ins Gebet genommen und dabei gefragt worden, ob er Anschlagspläne aus dieser Szene mitteilen wolle. Mundlos lehnte eine Zusammenarbeit ab. Dem Bundeswehr-Geheimdienst zufolge war dies kein Anwerbeversuch für den MAD - was insofern stimmt, als der MAD nach Mundlos' damals bevorstehendem Ausscheiden aus der Bundeswehr gar nicht für ihn zuständig gewesen wäre. MAD-Chef Ulrich Birkenheier, vom Ausschuss spontan zu einer nichtöffentlichen Vernehmung einbestellt, sagte indes anschließend, eine eventuelle Informantentätigkeit von Mundlos sei Sache des Verfassungsschutzes gewesen, dem man den Fall übergeben habe.

Kritik an Informationspolitik

Seinerzeit übermittelte der MAD ein Doppel dieser Akte an den Verfassungsschutz in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt sowie auf Bundesebene und vernichtete die eigenen Papiere in üblicher Frist. Zwar erhielt der Untersuchungsausschuss im Frühjahr 2012 aus Sachsen einen kurzen Hinweis auf die Existenz von Unterlagen, was aber in einem Aktenberg unentdeckt blieb. Die Dokumente selbst, deren Doppel letztlich doch noch beim Bundesamt für Verfassungsschutz aufgetaucht ist und von denen auch Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) wusste, erhielten die Abgeordneten aber erst jetzt nach einer Anfrage des Grünen-Parlamentariers Christian Ströbele an die Regierung. Der Ausschussvorsitzende Edathy hält diese Informationspolitik "für unglaublich, für unsensibel, wenn nicht bösartig". Ende Oktober will man sich einen ganzen Tag mit dem Kontakt des MAD zu Mundlos befassen. Der sachsen-anhaltinische Geheimdienstchef Limburg trat zurück, weil entgegen bisherigen Beteuerungen auch in seinem Amt die MAD-Akten plötzlich aufgetaucht sind.

So sehr jetzt auch diese Affären die Schlagzeilen beherrschen, so gehen die Fälle Kiesewetter und Yozgat im Ausschuss doch nicht unter. Zoff birgt das Problem in sich, dass es der damalige hessische Innenminister und heutige Regierungschef Volker Bouffier (CDU) sowie der seinerzeitige Verfassungsschutz-Präsident Lutz Irrgang 2006 ablehnten, die zum Kasseler Mord ermittelnde Polizei die Spitzel des V-Mann-Führers Andreas T. vernehmen zu lassen. Bei der Befragung Irrgangs vergangene Woche waren die Bundestagsabgeordneten zuweilen konsterniert, wie hartnäckig der Ex-Geheimdienstler diese Entscheidung wegen des Quellenschutzes verteidigte. Ende September wird dazu Bouffier persönlich im Ausschuss befragt.

"Kein schlüssiges Gesamtbild"

Trotz der im Detail kritisch diskutierten Ermittlungen bei der Ermordung Kiesewetters verteidigten Mögelin und Meyer-Manoras ihr damaliges Vorgehen. Man habe nun mal keine Hinweise auf die Täter gefunden. Die im Rahmen enormer Anstrengungen von Zeugenbefragungen über Funkzellenauswertungen, DNA-Analysen und Profilertheorien bis hin zur Erfassung von 30.000 Autokennzeichen gewonnenen "vielen Puzzleteile" hätten, sagte Mögelin, einfach "kein schlüssiges Gesamtbild" ergeben. Bis zum Auffliegen des NSU 2011, betonte Meyer-Manoras, "haben wir komplett im Dunkeln getappt". Binninger monierte indes, man habe einen "Riesenaufwand bei der Verfolgung aller möglichen Spuren" betrieben, aber die "konkrete Datenauswertung" sei unzureichend gewesen.