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Brücken über den Rhein

OBERRHEIN Grenzüberschreitungen gehören im Elsass und in Südbaden zum Alltag. Die Zollhäuser wurden in Restaurants umfunktioniert. Die Zöllner arbeiten als…

02.01.2013
2023-08-30T12:23:50.7200Z
5 Min

Möge Frankreich überzeugt sein, dass wir Deutsche nicht die geringste Lust an Eroberungen jeglicher Art pflegen. Ohne Rachegedanken an Vergangenheit, wünschen wir uns ehrlich und für immer mit unseren Nachbarn in Frieden und Freundschaft zu leben." - Wer ist wohl der Urheber der Botschaft? Vielleicht Konrad Adenauer, im Januar 1963, als er mit Charles de Gaulle den Élysée-Vertrag unterschrieb? Nein, der Autor ist Eduard Fauler, seinerzeit Bürgermeister von Freiburg im Breisgau. Der Empfänger: Henri de Peyrimhoff, Bürgermeister von Colmar im Elsass. Sendedatum: 22. August 1867. Es ging um die neue Bahnstrecke Paris-Budapest. Das Projekt war schon finanziert. Der deutsch-französische Krieg von 1870 verhinderte das Vorhaben.

Sprachbrücke

Frankreich und Deutschland sind nicht allein zwischen 1870 und 1945 zu betrachten. Man darf auch den ersten "deutsch-französischen Gipfel" im Jahre 842 keinesfalls vergessen: Zwei der drei Enkel Karls des Großen, Karl von Frankreich und Ludwig der Deutsche, verbinden sich gegen den dritten, Kaiser Lothar. Die Urkunde, die als "Straßburger Eide" in die Geschichte eingehen sollte, wurde zweisprachig verfasst. Damals wurde eine erste gemeinsame sprachliche Brücke gebaut.

Heute strotzt die Oberrheinregion nur vor kleinen und großen Brücken und grenzüberschreitende Projekte schießen wie Pilze aus der Erde. Sogar die Schweiz klinkt sich ein, obwohl sie nicht zur EU gehört. Um Basel soll bis 2050 gar eine neue deutsch-französisch-schweizerische Metropole entstehen. Der Flughafen ist schon tri-national:Basel-Mulhouse-Freiburg.

Prix Bartholdi

Zwischen dem baden-württembergischen Hartheim und Fessenheim im Elsass planen Madame le Maire Fabienne Stich und Bürgermeister Harald Kraus einen deutsch-französischen Themenpark. Sie werben dafür in ihrer zweisprachigen Zeitung "Le pont - die Brücke": "...um so den Menschen links und rechts des Rheins die Möglichkeit zu geben, sich über ihre Nachbarn zu informieren, oder besser noch, sie zusammenzubringen."

Die deutsch-französische Polizei, mit Sitz in Kehl am Rhein, fahndet mehrsprachig. Die Beamten beherrschen beide Sprachen. Allein die Handschellen sind noch nicht kompatibel. Aber das wird auch noch.

Der Elsässer Frédéric Auguste Bartholdi, Schöpfer der Freiheitsstatue in New-York, ist Namensgeber des "Prix Bartholdi". Mit diesem Preis werden besondere - beispielsweise bi- oder trilinguale - Studiengänge der Region ausgezeichnet. "Die Auszeichnung", sagte einst Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), stärke "Wissenschaft und Wirtschaft und fördert die Entwicklung einer europäischen Metropolregion am Oberrhein, die wir mit unseren Partnerländern weiter vorantreiben wollen." Passend dazu bildet das deutsch-französische Gymnasium in Freiburg die Crème de la Crème aus der Region aus, zweisprachig, bien sûr.

Erasmus

Hunderte von deutsch-französischen Liebespaare etablieren sich zwischen Schwarzwald und Vogesen. Die Kinder wachsen zweisprachig auf. der italienische Sprachakrobat Umberto Ecoschreib einmal über das europäische Studenten-Austauschprogramm "Erasmus", dass es sich nicht nur intellektuell, sondern auch sexuell oder, wenn man so will, genetisch auszahle: "Ich habe viele Studierende kennengelernt, die nach einer gewissen Zeit im Ausland dort geheiratet haben. Wenn dieser Trend sich verstärkt, und immer mehr zweisprachige Kinder geboren werden, können wir in 30 Jahren eine europäische Führungsschicht haben, deren Mitglieder in der Regel mindestens zweisprachig sind. Das wäre nicht wenig."

Kooperation der Kirchen

Die Kirchen machen mit. Die Reformation hat im Elsass unter der Schirmherrschaft von Martin Luther stattgefunden. Damals gehörte "le beau jardin", wie der Sonnenkönig Louis IVX. das "Ländle" bezeichnete, noch zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Ein grenzüberschreitender Kirchenführer durch das Nord- elsass und die Pfalz wurde 2008 von der evangelischen Kirche der Pfalz und den elsässischen Kirchen herausgegeben. Darin steht: "Kirche leben im Herzen Europas". Heute arbeiten 15 deutsche Pfarrer oder Pfarrerinnen im Elsass.

Trotz guter Nachrichten werfen dunkle Wolken ihren Schatten über die Region zwischen Schwarzwald und Vogesen. In dem Augenblick, in dem tausend Brückenträume wahr werden, verstärken sich bei der Mehrheit der Bevölkerung die mentalen Grenzen - wenn man davon ausgeht, dass die Sprache der Schlüssel zur Kultur des Nachbarn ist. Die Elsässer sprechen heute weder Elsässisch noch Hochdeutsch. Sie sprechen nur noch Französisch.

Und das ist eine Folge der Anektion des Elsass durch Nazi-Deutschland: Die jungen Elsässer wurden ab 1942 in die Wehrmacht zwangsrekrutiert, ab 1944 sogar in die Waffen-SS. Wer nicht mitmachte, dessen Familie wurde bestraft. Die Nazis deportierten Elsässer ins "Alt-Reich", wie es hieß. Jene, die überlebten, kamen in der Uniform der Verlierer in das Land der Sieger zurück: Frankreich. Dieses Trauma wurde nie verkraftet.

Verwechslung

Nach 1945 schnitt sich jeder Elsässer freiwillig seine deutsche Zunge ab, um zu verhindern, je wieder von Deutschen in einen Krieg eingezogen zu werden, bloß wegen der Sprache. Doch das Bekenntnis zur deutschen Kultur und die Gefolgschaft gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland wurden in Paris gnadenlos verwechselt. Schließlich saß den übrigen Franzosen die "Collaboration" mit den Nazis noch im Nacken. Der friedliche Akt von De Gaulle und Adenauer kam erst Jahre später. Zu spät für die Elsässer.

Aber auch auf der deutschen Rheinseite verliert man das Interesse an der Sprache des Nachbarn. Englisch ersetzt Französisch und das deutsch-französische Gymnasium in Freiburg wird die sprachliche Verarmung der Mehrheit nicht verhindern. Wir stehen also vor einem Paradoxon: politisch und wirtschaftlich sind wir auf Tuchfühlung. Wir haben noch nie so eng zusammen gearbeitet. Sprachlich aber wächst die Distanz: Im Sommer 2011 organisierte Deutsch-Französische Jugendwerk in Straßburg ein "Poetry Slam". Deutsche und französische Künstler trafen sich in der elsässischen Hauptstadt, um das Beste von sich zu geben. Die Texte sollten gemischt auf Deutsch und Französisch sein. Dabei gab es nur ein Problem: Kein Künstler beherrschte beide Wettbewerbssprachen. So mussten sie sich auf Englisch unterhalten.

Europäischer Geist

Es sind also vielmehr die deutsch-französischen Familien, die die europäische Hoffnung der Region tragen. Wie sagte Olivier aus Freiburg? "Premièrement, je suis de coeur français. Deuxièmement mon âme est allemande. Troisièmement mon esprit est européen!" Und Bernadette aus Colmar formuliert es umgekehrt: "Erstens, mein Herz ist deutsch. Zweitens, meine Seele ist französisch. Drittens, mein Geist ist europäisch!" Auf den dritten Punkt kommt es an.

Der Elsässer Martin Graff ist Publizist und mehrfacher Preisträger des deutsch-französischen Journalistenpreises.