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Krieg und Frieden

ESSAY Nicht an den Nationen ist Europa 1914 gescheitert, sondern an autoritären Mächten, die sie beherrschten

02.01.2013
2023-08-30T12:23:51.7200Z
30 Min

Das kommende Jahr ist ein Jahr jener Gedenktage, die innerhalb weniger Wochen das gesamte 20. Jahrhundert neu deuten, aber auch Europas heutige Lage etwas besser erfassen helfen können.

Anfang August, wenn sich der Ausbruch des Großen Krieges zum 100. Mal jährt, werden in vielen Ländern Staats- und Hauptaktionen abgehalten werden. Und einen Monat später wird man wohl, zumindest an der Weichsel, des 75. Jahrestags des deutsch-sowjetischen Überfalls auf Polen, also des Beginns des Zweiten Weltkrieges, gedenken. Diese beiden Termine werden allerdings von einer ganzen Serie viel erfreulicherer Gedenktage an jene ostmitteleuropäische Revolution vor 25 Jahren begleitet, mit der die Sowjetunion zu Fall gebracht und die Spaltung Europas überwunden wurde. Den Auftakt bildeten im Frühjahr 1989 der polnische Runde Tisch und anschließend der überwältigende Wahlsieg der Solidarnosc, danach öffneten die Ungarn ihre Grenzen, was zur Flucht von tausenden DDR-Deutschen nach Westen im Sommer und schließlich zur Öffnung der Berliner Mauer im Herbst jenes annus mirabilis führte.

"Das kurze Jahrhundert"

Die 75 Jahre zwischen der "Urkatastrophe" von 1914 und dem "Wunderjahr" 1989 nannte Eric Hobsbawm das "kurze Jahrhundert", im Unterschied zum "langen" 1789 bis 1914. In diesem 20. Jahrhundert beging Europa militärischen, politischen und vor allem moralischen Selbstmord und ging durch das Purgatorium des Kalten Krieges, um schließlich wie Phönix aus der Asche wiederaufzuerstehen.

Die europäische Idee - der historische Zusammenschluss der europäischen Staaten und Nationen zu einer Entität - mag immer wieder Rückschläge erleiden. So bringt die Schuldenkrise in der Euro-Zone wieder nationale Egoismen zum Vorschein. Doch die Europäische Union als Entwurf und Realität besitzt eine enorme Ausstrahlungskraft auf die fragilen Anrainerstaaten im Osten und die geplagten Menschen im Süden. Man hat es in den vergangenen Monaten während der Demonstrationen auf dem Kiewer Majdan und an den Stränden von Lampedusa gesehen.

Jede Epoche sucht nach einem eigenen Zugang zur Vergangenheit. Sie erforscht die Ursachen der historischen Abläufe neu und glaubt, daraus Schlüsse und Lehren für ihre eigene Gegenwart ziehen zu können. So neigen Historiker, Ideologen und Politiker immer wieder dazu, die Gründe und Konsequenzen dramatischer Umwälzungen auf griffige Formeln zu bringen: als Mahnung oder Ansporn für die Zukunft. Der Große Krieg von 1914 ist zwangsläufig im aggressiven Imperialismus des 19. Jahrhunderts vorprogrammiert, behaupteten Marxisten bereits an dessen Ende. Nein, Nationalismus und Sozialdarwinismus waren es, entgegnen die Sozialisten. Noch in seiner letzten Rede vor dem Europaparlament sagte François Mitterrand: "Le nationalisme, c'est la guerre" - "der Nationalismus ist der Krieg".

Weder noch, kontern heute namhafte Historiker, von wegen Schuldfrage. Der Krieg war ja nur ein schrecklicher Ausrutscher der Zeitgeschichte, die fatale Folge einer Pannenkette im Krisenmanagement, und gerade das ist die Lehre für heute, urteilt Christopher Clark. "Die Zeit der großen Debatten über die Ursachen des Ersten Weltkriegs ist vorbei", meint Oliver Janz. Man müsse den Ersten Weltkrieg "als ein für sich allein stehendes, komplexes Ereignis behandeln", fügt Herfried Münkler hinzu.

Mit dem Zerfall der großen Ideologien 1989 erodieren heute auch monokausale Deutungen der Geschichte und das hegelianische Vertrauen in ihre "Gesetzmäßigkeiten". Historie entspringt einem so komplizierten Geflecht widersprüchlicher Kräfte, Entscheidungen und Zufällen, dass sie immer auch hätte anders verlaufen können. Nie zuvor haben sich sowohl die Trivialliteratur als auch die seriöse Geschichtsschreibung so oft mit den alternativen Varianten der "ungeschehenen Geschichte" beschäftigt. Was wäre gewesen, wenn der Erzherzog nach dem ersten Attentatsversuch Sarajewo verlassen hätte? Wenn die Briten sich im August 1914 nicht zur Allianz mit Frankreich und die Deutschen sich 1917 nicht zum U-Bootkrieg entschieden hätten? Wenn der Zar nicht abgedankt hätte? Wenn Stresemann - wie Brandt 1970 - in Locarno auch die polnische Grenze anerkannt hätte? Wäre es besser gewesen, wenn 1939 Polen auf Hitlers Angebot eingegangen wäre? Oder wenn die Bundesrepublik die Oder-Neiße-Grenze bereits bei ihrer Gründung anerkannt hätte?

Diese Fragen werden ernst gestellt, auch wenn sie nicht immer ernst beantwortet werden. Sie sind ein Beleg für die Verunsicherung im Umgang nicht allein mit der Vergangenheit, sondern auch mit der Gegenwart. Wenn die Geschichte anders hätte verlaufen können, dann stimmt es nicht, dass wir in einer Welt ohne Alternativen leben. Alle monokausalen Deutungsmuster haben ausgespielt. Weswegen dann manche dazu auffordern, etwas anderes auszuprobieren: die EU runterzufahren, den Euro aufzulösen, die nationalen Belange in den Vordergrund zu stellen. Die alten Dogmen gelten ja nicht mehr uneingeschränkt…

Dennoch ist es unangebracht, die alten Deutungsmuster achselzuckend zu verwerfen. Sowohl Imperialismus als auch Nationalismus und Sozialdarwinismus trugen 1914 zur Kriegsbegeisterung bei, die allerdings bei weitem nicht so durchgängig war, wie die Bilder schöner Frauen, die den aufmarschierenden Soldaten Blumen schenkten, es glauben machen wollen.

Blutige Spur

Es ist eine Binsenwahrheit, dass der nationale Egoismus zu jenen Kräften gehörte, die dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zugrunde lagen, und dass der Nationalismus - ein Religionsersatz seit der französischen Revolution und den napoleonischen Kriegen - seine blutige Spur durch das gesamte 19. Jahrhundert zog, die schließlich in die großen Schlachthäuser der beiden Weltkriege führte. Gedacht als kurzer "Waffengang", der im Sommer 1914 die Figuren auf dem europäischen Schachbrett günstiger positionieren sollte, wucherte er zu einem weltweiten Tornado, der ganze Völkerschaften gegen vermeintliche "Erbfeinde" mobilisierte und mit gigantischen Materialschlachten, massenhaften Opferzahlen, unerbittlicher Propaganda und aberwitzigen strategischen Plänen und Friedensvorstellungen geführt wurde. Vor dem Versailler "Diktat" von 1919 war ja der "Frieden" von Brest-Litowsk 1918 mit Russland geschlossen worden, in dem sich die deutsche Heeresleitung Ostmitteleuropa nach eigenem Gutdünken zuschnitt.

"Urkatastrophe"

Doch nicht der Nationalismus allein überzog Europa im 20. Jahrhundert mit zwei Weltkriegen und anschließend zwei totalitären Ideologien, die in blankem Völkermord mündeten. Der Sommer 1914 war kein Naturereignis, kein Asteroideneinschlag, der eine heile Welt der "belle epoque" zerschlug. Die "Urkatastrophe" war ja die Folge des 19. Jahrhunderts, des auf dem Wiener Kongress fatal arrangierten Konzerts der Mächte mit seiner Verachtung für die Demokratie und die nationale Emanzipation der Völker, mit seiner ungelösten deutschen, italienischen, polnischen oder Balkanfrage, die nach der Zerschlagung des demokratischen "Völkerfrühlings" 1848 durch die Truppen reaktionärer Herrscherhäuser später zu Aufständen und Vereinigungskriegen führten.

Nicht an den europäischen Nationen ist das Europa des 19. Jahrhunderts gescheitert, sondern an den autoritären Mächten, die sie beherrschten, darunter solche Vielvölkerstaaten wie Österreich-Ungarn, das russische Imperium, auch Großbritannien - man denke nur an Irland - und nicht zuletzt das Deutsche Reich, wenn man die Teilungen Polens im 18. Jahrhundert nicht vergisst. Ihre Herrscher waren europaweit eng miteinander verwandt, dachten aber machtpolitisch. Und so welterfahren die politischen Eliten auch waren, handelten sie doch staatsegoistisch. Eine europäische Gesinnung war ihnen fremd.

Die Idee einer europäischen Vereinigung, einer Art Vereinigten Staaten von Europa, stammte im 19. Jahrhundert nicht von ihnen, sondern von solchen Intellektuellen wie Victor Hugo oder den Sprechern der demokratischen Bewegungen auf Schloss Hambach, die sich mit den Unterdrückten in anderer Herren Länder solidarisierten oder wie manche polnische Dichter im Pariser Exil sich nach einer res publica europeana sehnten.

"Dreißigjähriger Krieg"

Erst nach dem Scheitern der Revolution von 1848 kamen die Stoßgebete nach einer Befreiung von der Bevormundung durch einen "allgemeinen Krieg der Völker" (Adam Mickiewicz) oder Entwürfe für eine freiheitliche "Weltrevolution" (Karl Marx). Nicht allein der Nationalismus und die wieder einmal falsch konzipierten "Friedensdiktate" waren es also, die Europa im 20. Jahrhundert den zweiten "Dreißigjährigen Krieg" bescherten, sondern der fehlende europäische Bürgersinn der französischen Revolution, die durch die jakobinische Schreckensherrschaft und Napoleon ihre eigene Ideen niedertrampelte.

Für die Gründungsväter der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft spielte das Trauma der beiden Weltkriege eine fundamentale Rolle und die deutsch-französische Versöhnung war der Tragebalken der neuen europäischen Ordnung. Für die Ostmitteleuropäer, die nach 1989 dazu stießen, kam der Stolz hinzu, dass sie mit ihrer "samtenen Revolution" nicht nur den Kommunismus niedergerungen, sondern - weil ohne Guillotine und Bonapartismus - sowohl das französische Jahr 1789 als auch das russische 1917 korrigiert hatten.

Die Marschroute gab ihnen dabei allerdings die glaubwürdige Perspektive einer Mitgliedschaft im vereinten Europa vor. Wer sie hatte, geriet nicht aus der Bahn. Wer sie nicht bekam, wie Jugoslawien, das Land der Attentäter von Sarajewo 1914, versank im Bürgerkrieg. Insofern gehören die Jahrestage 1914-1939-1989 eng zusammen.

Das kommende Jahr ist ein Jahr jener Gedenktage, die innerhalb weniger Wochen das gesamte 20. Jahrhundert neu deuten, aber auch Europas heutige Lage etwas besser erfassen helfen können.

Anfang August, wenn sich der Ausbruch des Großen Krieges zum 100. Mal jährt, werden in vielen Ländern Staats- und Hauptaktionen abgehalten werden. Und einen Monat später wird man wohl, zumindest an der Weichsel, des 75. Jahrestags des deutsch-sowjetischen Überfalls auf Polen, also des Beginns des Zweiten Weltkrieges, gedenken. Diese beiden Termine werden allerdings von einer ganzen Serie viel erfreulicherer Gedenktage an jene ostmitteleuropäische Revolution vor 25 Jahren begleitet, mit der die Sowjetunion zu Fall gebracht und die Spaltung Europas überwunden wurde. Den Auftakt bildeten im Frühjahr 1989 der polnische Runde Tisch und anschließend der überwältigende Wahlsieg der Solidarnosc, danach öffneten die Ungarn ihre Grenzen, was zur Flucht von tausenden DDR-Deutschen nach Westen im Sommer und schließlich zur Öffnung der Berliner Mauer im Herbst jenes annus mirabilis führte.

"Das kurze Jahrhundert"

Die 75 Jahre zwischen der "Urkatastrophe" von 1914 und dem "Wunderjahr" 1989 nannte Eric Hobsbawm das "kurze Jahrhundert", im Unterschied zum "langen" 1789 bis 1914. In diesem 20. Jahrhundert beging Europa militärischen, politischen und vor allem moralischen Selbstmord und ging durch das Purgatorium des Kalten Krieges, um schließlich wie Phönix aus der Asche wiederaufzuerstehen.

Die europäische Idee - der historische Zusammenschluss der europäischen Staaten und Nationen zu einer Entität - mag immer wieder Rückschläge erleiden. So bringt die Schuldenkrise in der Euro-Zone wieder nationale Egoismen zum Vorschein. Doch die Europäische Union als Entwurf und Realität besitzt eine enorme Ausstrahlungskraft auf die fragilen Anrainerstaaten im Osten und die geplagten Menschen im Süden. Man hat es in den vergangenen Monaten während der Demonstrationen auf dem Kiewer Majdan und an den Stränden von Lampedusa gesehen.

Jede Epoche sucht nach einem eigenen Zugang zur Vergangenheit. Sie erforscht die Ursachen der historischen Abläufe neu und glaubt, daraus Schlüsse und Lehren für ihre eigene Gegenwart ziehen zu können. So neigen Historiker, Ideologen und Politiker immer wieder dazu, die Gründe und Konsequenzen dramatischer Umwälzungen auf griffige Formeln zu bringen: als Mahnung oder Ansporn für die Zukunft. Der Große Krieg von 1914 ist zwangsläufig im aggressiven Imperialismus des 19. Jahrhunderts vorprogrammiert, behaupteten Marxisten bereits an dessen Ende. Nein, Nationalismus und Sozialdarwinismus waren es, entgegnen die Sozialisten. Noch in seiner letzten Rede vor dem Europaparlament sagte François Mitterrand: "Le nationalisme, c'est la guerre" - "der Nationalismus ist der Krieg".

Weder noch, kontern heute namhafte Historiker, von wegen Schuldfrage. Der Krieg war ja nur ein schrecklicher Ausrutscher der Zeitgeschichte, die fatale Folge einer Pannenkette im Krisenmanagement, und gerade das ist die Lehre für heute, urteilt Christopher Clark. "Die Zeit der großen Debatten über die Ursachen des Ersten Weltkriegs ist vorbei", meint Oliver Janz. Man müsse den Ersten Weltkrieg "als ein für sich allein stehendes, komplexes Ereignis behandeln", fügt Herfried Münkler hinzu.

Mit dem Zerfall der großen Ideologien 1989 erodieren heute auch monokausale Deutungen der Geschichte und das hegelianische Vertrauen in ihre "Gesetzmäßigkeiten". Historie entspringt einem so komplizierten Geflecht widersprüchlicher Kräfte, Entscheidungen und Zufällen, dass sie immer auch hätte anders verlaufen können. Nie zuvor haben sich sowohl die Trivialliteratur als auch die seriöse Geschichtsschreibung so oft mit den alternativen Varianten der "ungeschehenen Geschichte" beschäftigt. Was wäre gewesen, wenn der Erzherzog nach dem ersten Attentatsversuch Sarajewo verlassen hätte? Wenn die Briten sich im August 1914 nicht zur Allianz mit Frankreich und die Deutschen sich 1917 nicht zum U-Bootkrieg entschieden hätten? Wenn der Zar nicht abgedankt hätte? Wenn Stresemann - wie Brandt 1970 - in Locarno auch die polnische Grenze anerkannt hätte? Wäre es besser gewesen, wenn 1939 Polen auf Hitlers Angebot eingegangen wäre? Oder wenn die Bundesrepublik die Oder-Neiße-Grenze bereits bei ihrer Gründung anerkannt hätte?

Diese Fragen werden ernst gestellt, auch wenn sie nicht immer ernst beantwortet werden. Sie sind ein Beleg für die Verunsicherung im Umgang nicht allein mit der Vergangenheit, sondern auch mit der Gegenwart. Wenn die Geschichte anders hätte verlaufen können, dann stimmt es nicht, dass wir in einer Welt ohne Alternativen leben. Alle monokausalen Deutungsmuster haben ausgespielt. Weswegen dann manche dazu auffordern, etwas anderes auszuprobieren: die EU runterzufahren, den Euro aufzulösen, die nationalen Belange in den Vordergrund zu stellen. Die alten Dogmen gelten ja nicht mehr uneingeschränkt…

Dennoch ist es unangebracht, die alten Deutungsmuster achselzuckend zu verwerfen. Sowohl Imperialismus als auch Nationalismus und Sozialdarwinismus trugen 1914 zur Kriegsbegeisterung bei, die allerdings bei weitem nicht so durchgängig war, wie die Bilder schöner Frauen, die den aufmarschierenden Soldaten Blumen schenkten, es glauben machen wollen.

Blutige Spur

Es ist eine Binsenwahrheit, dass der nationale Egoismus zu jenen Kräften gehörte, die dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zugrunde lagen, und dass der Nationalismus - ein Religionsersatz seit der französischen Revolution und den napoleonischen Kriegen - seine blutige Spur durch das gesamte 19. Jahrhundert zog, die schließlich in die großen Schlachthäuser der beiden Weltkriege führte. Gedacht als kurzer "Waffengang", der im Sommer 1914 die Figuren auf dem europäischen Schachbrett günstiger positionieren sollte, wucherte er zu einem weltweiten Tornado, der ganze Völkerschaften gegen vermeintliche "Erbfeinde" mobilisierte und mit gigantischen Materialschlachten, massenhaften Opferzahlen, unerbittlicher Propaganda und aberwitzigen strategischen Plänen und Friedensvorstellungen geführt wurde. Vor dem Versailler "Diktat" von 1919 war ja der "Frieden" von Brest-Litowsk 1918 mit Russland geschlossen worden, in dem sich die deutsche Heeresleitung Ostmitteleuropa nach eigenem Gutdünken zuschnitt.

"Urkatastrophe"

Doch nicht der Nationalismus allein überzog Europa im 20. Jahrhundert mit zwei Weltkriegen und anschließend zwei totalitären Ideologien, die in blankem Völkermord mündeten. Der Sommer 1914 war kein Naturereignis, kein Asteroideneinschlag, der eine heile Welt der "belle epoque" zerschlug. Die "Urkatastrophe" war ja die Folge des 19. Jahrhunderts, des auf dem Wiener Kongress fatal arrangierten Konzerts der Mächte mit seiner Verachtung für die Demokratie und die nationale Emanzipation der Völker, mit seiner ungelösten deutschen, italienischen, polnischen oder Balkanfrage, die nach der Zerschlagung des demokratischen "Völkerfrühlings" 1848 durch die Truppen reaktionärer Herrscherhäuser später zu Aufständen und Vereinigungskriegen führten.

Nicht an den europäischen Nationen ist das Europa des 19. Jahrhunderts gescheitert, sondern an den autoritären Mächten, die sie beherrschten, darunter solche Vielvölkerstaaten wie Österreich-Ungarn, das russische Imperium, auch Großbritannien - man denke nur an Irland - und nicht zuletzt das Deutsche Reich, wenn man die Teilungen Polens im 18. Jahrhundert nicht vergisst. Ihre Herrscher waren europaweit eng miteinander verwandt, dachten aber machtpolitisch. Und so welterfahren die politischen Eliten auch waren, handelten sie doch staatsegoistisch. Eine europäische Gesinnung war ihnen fremd.

Die Idee einer europäischen Vereinigung, einer Art Vereinigten Staaten von Europa, stammte im 19. Jahrhundert nicht von ihnen, sondern von solchen Intellektuellen wie Victor Hugo oder den Sprechern der demokratischen Bewegungen auf Schloss Hambach, die sich mit den Unterdrückten in anderer Herren Länder solidarisierten oder wie manche polnische Dichter im Pariser Exil sich nach einer res publica europeana sehnten.

"Dreißigjähriger Krieg"

Erst nach dem Scheitern der Revolution von 1848 kamen die Stoßgebete nach einer Befreiung von der Bevormundung durch einen "allgemeinen Krieg der Völker" (Adam Mickiewicz) oder Entwürfe für eine freiheitliche "Weltrevolution" (Karl Marx). Nicht allein der Nationalismus und die wieder einmal falsch konzipierten "Friedensdiktate" waren es also, die Europa im 20. Jahrhundert den zweiten "Dreißigjährigen Krieg" bescherten, sondern der fehlende europäische Bürgersinn der französischen Revolution, die durch die jakobinische Schreckensherrschaft und Napoleon ihre eigene Ideen niedertrampelte.

Für die Gründungsväter der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft spielte das Trauma der beiden Weltkriege eine fundamentale Rolle und die deutsch-französische Versöhnung war der Tragebalken der neuen europäischen Ordnung. Für die Ostmitteleuropäer, die nach 1989 dazu stießen, kam der Stolz hinzu, dass sie mit ihrer "samtenen Revolution" nicht nur den Kommunismus niedergerungen, sondern - weil ohne Guillotine und Bonapartismus - sowohl das französische Jahr 1789 als auch das russische 1917 korrigiert hatten.

Die Marschroute gab ihnen dabei allerdings die glaubwürdige Perspektive einer Mitgliedschaft im vereinten Europa vor. Wer sie hatte, geriet nicht aus der Bahn. Wer sie nicht bekam, wie Jugoslawien, das Land der Attentäter von Sarajewo 1914, versank im Bürgerkrieg. Insofern gehören die Jahrestage 1914-1939-1989 eng zusammen.

Das kommende Jahr ist ein Jahr jener Gedenktage, die innerhalb weniger Wochen das gesamte 20. Jahrhundert neu deuten, aber auch Europas heutige Lage etwas besser erfassen helfen können.

Anfang August, wenn sich der Ausbruch des Großen Krieges zum 100. Mal jährt, werden in vielen Ländern Staats- und Hauptaktionen abgehalten werden. Und einen Monat später wird man wohl, zumindest an der Weichsel, des 75. Jahrestags des deutsch-sowjetischen Überfalls auf Polen, also des Beginns des Zweiten Weltkrieges, gedenken. Diese beiden Termine werden allerdings von einer ganzen Serie viel erfreulicherer Gedenktage an jene ostmitteleuropäische Revolution vor 25 Jahren begleitet, mit der die Sowjetunion zu Fall gebracht und die Spaltung Europas überwunden wurde. Den Auftakt bildeten im Frühjahr 1989 der polnische Runde Tisch und anschließend der überwältigende Wahlsieg der Solidarnosc, danach öffneten die Ungarn ihre Grenzen, was zur Flucht von tausenden DDR-Deutschen nach Westen im Sommer und schließlich zur Öffnung der Berliner Mauer im Herbst jenes annus mirabilis führte.

"Das kurze Jahrhundert"

Die 75 Jahre zwischen der "Urkatastrophe" von 1914 und dem "Wunderjahr" 1989 nannte Eric Hobsbawm das "kurze Jahrhundert", im Unterschied zum "langen" 1789 bis 1914. In diesem 20. Jahrhundert beging Europa militärischen, politischen und vor allem moralischen Selbstmord und ging durch das Purgatorium des Kalten Krieges, um schließlich wie Phönix aus der Asche wiederaufzuerstehen.

Die europäische Idee - der historische Zusammenschluss der europäischen Staaten und Nationen zu einer Entität - mag immer wieder Rückschläge erleiden. So bringt die Schuldenkrise in der Euro-Zone wieder nationale Egoismen zum Vorschein. Doch die Europäische Union als Entwurf und Realität besitzt eine enorme Ausstrahlungskraft auf die fragilen Anrainerstaaten im Osten und die geplagten Menschen im Süden. Man hat es in den vergangenen Monaten während der Demonstrationen auf dem Kiewer Majdan und an den Stränden von Lampedusa gesehen.

Jede Epoche sucht nach einem eigenen Zugang zur Vergangenheit. Sie erforscht die Ursachen der historischen Abläufe neu und glaubt, daraus Schlüsse und Lehren für ihre eigene Gegenwart ziehen zu können. So neigen Historiker, Ideologen und Politiker immer wieder dazu, die Gründe und Konsequenzen dramatischer Umwälzungen auf griffige Formeln zu bringen: als Mahnung oder Ansporn für die Zukunft. Der Große Krieg von 1914 ist zwangsläufig im aggressiven Imperialismus des 19. Jahrhunderts vorprogrammiert, behaupteten Marxisten bereits an dessen Ende. Nein, Nationalismus und Sozialdarwinismus waren es, entgegnen die Sozialisten. Noch in seiner letzten Rede vor dem Europaparlament sagte François Mitterrand: "Le nationalisme, c'est la guerre" - "der Nationalismus ist der Krieg".

Weder noch, kontern heute namhafte Historiker, von wegen Schuldfrage. Der Krieg war ja nur ein schrecklicher Ausrutscher der Zeitgeschichte, die fatale Folge einer Pannenkette im Krisenmanagement, und gerade das ist die Lehre für heute, urteilt Christopher Clark. "Die Zeit der großen Debatten über die Ursachen des Ersten Weltkriegs ist vorbei", meint Oliver Janz. Man müsse den Ersten Weltkrieg "als ein für sich allein stehendes, komplexes Ereignis behandeln", fügt Herfried Münkler hinzu.

Mit dem Zerfall der großen Ideologien 1989 erodieren heute auch monokausale Deutungen der Geschichte und das hegelianische Vertrauen in ihre "Gesetzmäßigkeiten". Historie entspringt einem so komplizierten Geflecht widersprüchlicher Kräfte, Entscheidungen und Zufällen, dass sie immer auch hätte anders verlaufen können. Nie zuvor haben sich sowohl die Trivialliteratur als auch die seriöse Geschichtsschreibung so oft mit den alternativen Varianten der "ungeschehenen Geschichte" beschäftigt. Was wäre gewesen, wenn der Erzherzog nach dem ersten Attentatsversuch Sarajewo verlassen hätte? Wenn die Briten sich im August 1914 nicht zur Allianz mit Frankreich und die Deutschen sich 1917 nicht zum U-Bootkrieg entschieden hätten? Wenn der Zar nicht abgedankt hätte? Wenn Stresemann - wie Brandt 1970 - in Locarno auch die polnische Grenze anerkannt hätte? Wäre es besser gewesen, wenn 1939 Polen auf Hitlers Angebot eingegangen wäre? Oder wenn die Bundesrepublik die Oder-Neiße-Grenze bereits bei ihrer Gründung anerkannt hätte?

Diese Fragen werden ernst gestellt, auch wenn sie nicht immer ernst beantwortet werden. Sie sind ein Beleg für die Verunsicherung im Umgang nicht allein mit der Vergangenheit, sondern auch mit der Gegenwart. Wenn die Geschichte anders hätte verlaufen können, dann stimmt es nicht, dass wir in einer Welt ohne Alternativen leben. Alle monokausalen Deutungsmuster haben ausgespielt. Weswegen dann manche dazu auffordern, etwas anderes auszuprobieren: die EU runterzufahren, den Euro aufzulösen, die nationalen Belange in den Vordergrund zu stellen. Die alten Dogmen gelten ja nicht mehr uneingeschränkt…

Dennoch ist es unangebracht, die alten Deutungsmuster achselzuckend zu verwerfen. Sowohl Imperialismus als auch Nationalismus und Sozialdarwinismus trugen 1914 zur Kriegsbegeisterung bei, die allerdings bei weitem nicht so durchgängig war, wie die Bilder schöner Frauen, die den aufmarschierenden Soldaten Blumen schenkten, es glauben machen wollen.

Blutige Spur

Es ist eine Binsenwahrheit, dass der nationale Egoismus zu jenen Kräften gehörte, die dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zugrunde lagen, und dass der Nationalismus - ein Religionsersatz seit der französischen Revolution und den napoleonischen Kriegen - seine blutige Spur durch das gesamte 19. Jahrhundert zog, die schließlich in die großen Schlachthäuser der beiden Weltkriege führte. Gedacht als kurzer "Waffengang", der im Sommer 1914 die Figuren auf dem europäischen Schachbrett günstiger positionieren sollte, wucherte er zu einem weltweiten Tornado, der ganze Völkerschaften gegen vermeintliche "Erbfeinde" mobilisierte und mit gigantischen Materialschlachten, massenhaften Opferzahlen, unerbittlicher Propaganda und aberwitzigen strategischen Plänen und Friedensvorstellungen geführt wurde. Vor dem Versailler "Diktat" von 1919 war ja der "Frieden" von Brest-Litowsk 1918 mit Russland geschlossen worden, in dem sich die deutsche Heeresleitung Ostmitteleuropa nach eigenem Gutdünken zuschnitt.

"Urkatastrophe"

Doch nicht der Nationalismus allein überzog Europa im 20. Jahrhundert mit zwei Weltkriegen und anschließend zwei totalitären Ideologien, die in blankem Völkermord mündeten. Der Sommer 1914 war kein Naturereignis, kein Asteroideneinschlag, der eine heile Welt der "belle epoque" zerschlug. Die "Urkatastrophe" war ja die Folge des 19. Jahrhunderts, des auf dem Wiener Kongress fatal arrangierten Konzerts der Mächte mit seiner Verachtung für die Demokratie und die nationale Emanzipation der Völker, mit seiner ungelösten deutschen, italienischen, polnischen oder Balkanfrage, die nach der Zerschlagung des demokratischen "Völkerfrühlings" 1848 durch die Truppen reaktionärer Herrscherhäuser später zu Aufständen und Vereinigungskriegen führten.

Nicht an den europäischen Nationen ist das Europa des 19. Jahrhunderts gescheitert, sondern an den autoritären Mächten, die sie beherrschten, darunter solche Vielvölkerstaaten wie Österreich-Ungarn, das russische Imperium, auch Großbritannien - man denke nur an Irland - und nicht zuletzt das Deutsche Reich, wenn man die Teilungen Polens im 18. Jahrhundert nicht vergisst. Ihre Herrscher waren europaweit eng miteinander verwandt, dachten aber machtpolitisch. Und so welterfahren die politischen Eliten auch waren, handelten sie doch staatsegoistisch. Eine europäische Gesinnung war ihnen fremd.

Die Idee einer europäischen Vereinigung, einer Art Vereinigten Staaten von Europa, stammte im 19. Jahrhundert nicht von ihnen, sondern von solchen Intellektuellen wie Victor Hugo oder den Sprechern der demokratischen Bewegungen auf Schloss Hambach, die sich mit den Unterdrückten in anderer Herren Länder solidarisierten oder wie manche polnische Dichter im Pariser Exil sich nach einer res publica europeana sehnten.

"Dreißigjähriger Krieg"

Erst nach dem Scheitern der Revolution von 1848 kamen die Stoßgebete nach einer Befreiung von der Bevormundung durch einen "allgemeinen Krieg der Völker" (Adam Mickiewicz) oder Entwürfe für eine freiheitliche "Weltrevolution" (Karl Marx). Nicht allein der Nationalismus und die wieder einmal falsch konzipierten "Friedensdiktate" waren es also, die Europa im 20. Jahrhundert den zweiten "Dreißigjährigen Krieg" bescherten, sondern der fehlende europäische Bürgersinn der französischen Revolution, die durch die jakobinische Schreckensherrschaft und Napoleon ihre eigene Ideen niedertrampelte.

Für die Gründungsväter der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft spielte das Trauma der beiden Weltkriege eine fundamentale Rolle und die deutsch-französische Versöhnung war der Tragebalken der neuen europäischen Ordnung. Für die Ostmitteleuropäer, die nach 1989 dazu stießen, kam der Stolz hinzu, dass sie mit ihrer "samtenen Revolution" nicht nur den Kommunismus niedergerungen, sondern - weil ohne Guillotine und Bonapartismus - sowohl das französische Jahr 1789 als auch das russische 1917 korrigiert hatten.

Die Marschroute gab ihnen dabei allerdings die glaubwürdige Perspektive einer Mitgliedschaft im vereinten Europa vor. Wer sie hatte, geriet nicht aus der Bahn. Wer sie nicht bekam, wie Jugoslawien, das Land der Attentäter von Sarajewo 1914, versank im Bürgerkrieg. Insofern gehören die Jahrestage 1914-1939-1989 eng zusammen.

Das kommende Jahr ist ein Jahr jener Gedenktage, die innerhalb weniger Wochen das gesamte 20. Jahrhundert neu deuten, aber auch Europas heutige Lage etwas besser erfassen helfen können.

Anfang August, wenn sich der Ausbruch des Großen Krieges zum 100. Mal jährt, werden in vielen Ländern Staats- und Hauptaktionen abgehalten werden. Und einen Monat später wird man wohl, zumindest an der Weichsel, des 75. Jahrestags des deutsch-sowjetischen Überfalls auf Polen, also des Beginns des Zweiten Weltkrieges, gedenken. Diese beiden Termine werden allerdings von einer ganzen Serie viel erfreulicherer Gedenktage an jene ostmitteleuropäische Revolution vor 25 Jahren begleitet, mit der die Sowjetunion zu Fall gebracht und die Spaltung Europas überwunden wurde. Den Auftakt bildeten im Frühjahr 1989 der polnische Runde Tisch und anschließend der überwältigende Wahlsieg der Solidarnosc, danach öffneten die Ungarn ihre Grenzen, was zur Flucht von tausenden DDR-Deutschen nach Westen im Sommer und schließlich zur Öffnung der Berliner Mauer im Herbst jenes annus mirabilis führte.

"Das kurze Jahrhundert"

Die 75 Jahre zwischen der "Urkatastrophe" von 1914 und dem "Wunderjahr" 1989 nannte Eric Hobsbawm das "kurze Jahrhundert", im Unterschied zum "langen" 1789 bis 1914. In diesem 20. Jahrhundert beging Europa militärischen, politischen und vor allem moralischen Selbstmord und ging durch das Purgatorium des Kalten Krieges, um schließlich wie Phönix aus der Asche wiederaufzuerstehen.

Die europäische Idee - der historische Zusammenschluss der europäischen Staaten und Nationen zu einer Entität - mag immer wieder Rückschläge erleiden. So bringt die Schuldenkrise in der Euro-Zone wieder nationale Egoismen zum Vorschein. Doch die Europäische Union als Entwurf und Realität besitzt eine enorme Ausstrahlungskraft auf die fragilen Anrainerstaaten im Osten und die geplagten Menschen im Süden. Man hat es in den vergangenen Monaten während der Demonstrationen auf dem Kiewer Majdan und an den Stränden von Lampedusa gesehen.

Jede Epoche sucht nach einem eigenen Zugang zur Vergangenheit. Sie erforscht die Ursachen der historischen Abläufe neu und glaubt, daraus Schlüsse und Lehren für ihre eigene Gegenwart ziehen zu können. So neigen Historiker, Ideologen und Politiker immer wieder dazu, die Gründe und Konsequenzen dramatischer Umwälzungen auf griffige Formeln zu bringen: als Mahnung oder Ansporn für die Zukunft. Der Große Krieg von 1914 ist zwangsläufig im aggressiven Imperialismus des 19. Jahrhunderts vorprogrammiert, behaupteten Marxisten bereits an dessen Ende. Nein, Nationalismus und Sozialdarwinismus waren es, entgegnen die Sozialisten. Noch in seiner letzten Rede vor dem Europaparlament sagte François Mitterrand: "Le nationalisme, c'est la guerre" - "der Nationalismus ist der Krieg".

Weder noch, kontern heute namhafte Historiker, von wegen Schuldfrage. Der Krieg war ja nur ein schrecklicher Ausrutscher der Zeitgeschichte, die fatale Folge einer Pannenkette im Krisenmanagement, und gerade das ist die Lehre für heute, urteilt Christopher Clark. "Die Zeit der großen Debatten über die Ursachen des Ersten Weltkriegs ist vorbei", meint Oliver Janz. Man müsse den Ersten Weltkrieg "als ein für sich allein stehendes, komplexes Ereignis behandeln", fügt Herfried Münkler hinzu.

Mit dem Zerfall der großen Ideologien 1989 erodieren heute auch monokausale Deutungen der Geschichte und das hegelianische Vertrauen in ihre "Gesetzmäßigkeiten". Historie entspringt einem so komplizierten Geflecht widersprüchlicher Kräfte, Entscheidungen und Zufällen, dass sie immer auch hätte anders verlaufen können. Nie zuvor haben sich sowohl die Trivialliteratur als auch die seriöse Geschichtsschreibung so oft mit den alternativen Varianten der "ungeschehenen Geschichte" beschäftigt. Was wäre gewesen, wenn der Erzherzog nach dem ersten Attentatsversuch Sarajewo verlassen hätte? Wenn die Briten sich im August 1914 nicht zur Allianz mit Frankreich und die Deutschen sich 1917 nicht zum U-Bootkrieg entschieden hätten? Wenn der Zar nicht abgedankt hätte? Wenn Stresemann - wie Brandt 1970 - in Locarno auch die polnische Grenze anerkannt hätte? Wäre es besser gewesen, wenn 1939 Polen auf Hitlers Angebot eingegangen wäre? Oder wenn die Bundesrepublik die Oder-Neiße-Grenze bereits bei ihrer Gründung anerkannt hätte?

Diese Fragen werden ernst gestellt, auch wenn sie nicht immer ernst beantwortet werden. Sie sind ein Beleg für die Verunsicherung im Umgang nicht allein mit der Vergangenheit, sondern auch mit der Gegenwart. Wenn die Geschichte anders hätte verlaufen können, dann stimmt es nicht, dass wir in einer Welt ohne Alternativen leben. Alle monokausalen Deutungsmuster haben ausgespielt. Weswegen dann manche dazu auffordern, etwas anderes auszuprobieren: die EU runterzufahren, den Euro aufzulösen, die nationalen Belange in den Vordergrund zu stellen. Die alten Dogmen gelten ja nicht mehr uneingeschränkt…

Dennoch ist es unangebracht, die alten Deutungsmuster achselzuckend zu verwerfen. Sowohl Imperialismus als auch Nationalismus und Sozialdarwinismus trugen 1914 zur Kriegsbegeisterung bei, die allerdings bei weitem nicht so durchgängig war, wie die Bilder schöner Frauen, die den aufmarschierenden Soldaten Blumen schenkten, es glauben machen wollen.

Blutige Spur

Es ist eine Binsenwahrheit, dass der nationale Egoismus zu jenen Kräften gehörte, die dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zugrunde lagen, und dass der Nationalismus - ein Religionsersatz seit der französischen Revolution und den napoleonischen Kriegen - seine blutige Spur durch das gesamte 19. Jahrhundert zog, die schließlich in die großen Schlachthäuser der beiden Weltkriege führte. Gedacht als kurzer "Waffengang", der im Sommer 1914 die Figuren auf dem europäischen Schachbrett günstiger positionieren sollte, wucherte er zu einem weltweiten Tornado, der ganze Völkerschaften gegen vermeintliche "Erbfeinde" mobilisierte und mit gigantischen Materialschlachten, massenhaften Opferzahlen, unerbittlicher Propaganda und aberwitzigen strategischen Plänen und Friedensvorstellungen geführt wurde. Vor dem Versailler "Diktat" von 1919 war ja der "Frieden" von Brest-Litowsk 1918 mit Russland geschlossen worden, in dem sich die deutsche Heeresleitung Ostmitteleuropa nach eigenem Gutdünken zuschnitt.

"Urkatastrophe"

Doch nicht der Nationalismus allein überzog Europa im 20. Jahrhundert mit zwei Weltkriegen und anschließend zwei totalitären Ideologien, die in blankem Völkermord mündeten. Der Sommer 1914 war kein Naturereignis, kein Asteroideneinschlag, der eine heile Welt der "belle epoque" zerschlug. Die "Urkatastrophe" war ja die Folge des 19. Jahrhunderts, des auf dem Wiener Kongress fatal arrangierten Konzerts der Mächte mit seiner Verachtung für die Demokratie und die nationale Emanzipation der Völker, mit seiner ungelösten deutschen, italienischen, polnischen oder Balkanfrage, die nach der Zerschlagung des demokratischen "Völkerfrühlings" 1848 durch die Truppen reaktionärer Herrscherhäuser später zu Aufständen und Vereinigungskriegen führten.

Nicht an den europäischen Nationen ist das Europa des 19. Jahrhunderts gescheitert, sondern an den autoritären Mächten, die sie beherrschten, darunter solche Vielvölkerstaaten wie Österreich-Ungarn, das russische Imperium, auch Großbritannien - man denke nur an Irland - und nicht zuletzt das Deutsche Reich, wenn man die Teilungen Polens im 18. Jahrhundert nicht vergisst. Ihre Herrscher waren europaweit eng miteinander verwandt, dachten aber machtpolitisch. Und so welterfahren die politischen Eliten auch waren, handelten sie doch staatsegoistisch. Eine europäische Gesinnung war ihnen fremd.

Die Idee einer europäischen Vereinigung, einer Art Vereinigten Staaten von Europa, stammte im 19. Jahrhundert nicht von ihnen, sondern von solchen Intellektuellen wie Victor Hugo oder den Sprechern der demokratischen Bewegungen auf Schloss Hambach, die sich mit den Unterdrückten in anderer Herren Länder solidarisierten oder wie manche polnische Dichter im Pariser Exil sich nach einer res publica europeana sehnten.

"Dreißigjähriger Krieg"

Erst nach dem Scheitern der Revolution von 1848 kamen die Stoßgebete nach einer Befreiung von der Bevormundung durch einen "allgemeinen Krieg der Völker" (Adam Mickiewicz) oder Entwürfe für eine freiheitliche "Weltrevolution" (Karl Marx). Nicht allein der Nationalismus und die wieder einmal falsch konzipierten "Friedensdiktate" waren es also, die Europa im 20. Jahrhundert den zweiten "Dreißigjährigen Krieg" bescherten, sondern der fehlende europäische Bürgersinn der französischen Revolution, die durch die jakobinische Schreckensherrschaft und Napoleon ihre eigene Ideen niedertrampelte.

Für die Gründungsväter der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft spielte das Trauma der beiden Weltkriege eine fundamentale Rolle und die deutsch-französische Versöhnung war der Tragebalken der neuen europäischen Ordnung. Für die Ostmitteleuropäer, die nach 1989 dazu stießen, kam der Stolz hinzu, dass sie mit ihrer "samtenen Revolution" nicht nur den Kommunismus niedergerungen, sondern - weil ohne Guillotine und Bonapartismus - sowohl das französische Jahr 1789 als auch das russische 1917 korrigiert hatten.

Die Marschroute gab ihnen dabei allerdings die glaubwürdige Perspektive einer Mitgliedschaft im vereinten Europa vor. Wer sie hatte, geriet nicht aus der Bahn. Wer sie nicht bekam, wie Jugoslawien, das Land der Attentäter von Sarajewo 1914, versank im Bürgerkrieg. Insofern gehören die Jahrestage 1914-1939-1989 eng zusammen.

Das kommende Jahr ist ein Jahr jener Gedenktage, die innerhalb weniger Wochen das gesamte 20. Jahrhundert neu deuten, aber auch Europas heutige Lage etwas besser erfassen helfen können.

Anfang August, wenn sich der Ausbruch des Großen Krieges zum 100. Mal jährt, werden in vielen Ländern Staats- und Hauptaktionen abgehalten werden. Und einen Monat später wird man wohl, zumindest an der Weichsel, des 75. Jahrestags des deutsch-sowjetischen Überfalls auf Polen, also des Beginns des Zweiten Weltkrieges, gedenken. Diese beiden Termine werden allerdings von einer ganzen Serie viel erfreulicherer Gedenktage an jene ostmitteleuropäische Revolution vor 25 Jahren begleitet, mit der die Sowjetunion zu Fall gebracht und die Spaltung Europas überwunden wurde. Den Auftakt bildeten im Frühjahr 1989 der polnische Runde Tisch und anschließend der überwältigende Wahlsieg der Solidarnosc, danach öffneten die Ungarn ihre Grenzen, was zur Flucht von tausenden DDR-Deutschen nach Westen im Sommer und schließlich zur Öffnung der Berliner Mauer im Herbst jenes annus mirabilis führte.

"Das kurze Jahrhundert"

Die 75 Jahre zwischen der "Urkatastrophe" von 1914 und dem "Wunderjahr" 1989 nannte Eric Hobsbawm das "kurze Jahrhundert", im Unterschied zum "langen" 1789 bis 1914. In diesem 20. Jahrhundert beging Europa militärischen, politischen und vor allem moralischen Selbstmord und ging durch das Purgatorium des Kalten Krieges, um schließlich wie Phönix aus der Asche wiederaufzuerstehen.

Die europäische Idee - der historische Zusammenschluss der europäischen Staaten und Nationen zu einer Entität - mag immer wieder Rückschläge erleiden. So bringt die Schuldenkrise in der Euro-Zone wieder nationale Egoismen zum Vorschein. Doch die Europäische Union als Entwurf und Realität besitzt eine enorme Ausstrahlungskraft auf die fragilen Anrainerstaaten im Osten und die geplagten Menschen im Süden. Man hat es in den vergangenen Monaten während der Demonstrationen auf dem Kiewer Majdan und an den Stränden von Lampedusa gesehen.

Jede Epoche sucht nach einem eigenen Zugang zur Vergangenheit. Sie erforscht die Ursachen der historischen Abläufe neu und glaubt, daraus Schlüsse und Lehren für ihre eigene Gegenwart ziehen zu können. So neigen Historiker, Ideologen und Politiker immer wieder dazu, die Gründe und Konsequenzen dramatischer Umwälzungen auf griffige Formeln zu bringen: als Mahnung oder Ansporn für die Zukunft. Der Große Krieg von 1914 ist zwangsläufig im aggressiven Imperialismus des 19. Jahrhunderts vorprogrammiert, behaupteten Marxisten bereits an dessen Ende. Nein, Nationalismus und Sozialdarwinismus waren es, entgegnen die Sozialisten. Noch in seiner letzten Rede vor dem Europaparlament sagte François Mitterrand: "Le nationalisme, c'est la guerre" - "der Nationalismus ist der Krieg".

Weder noch, kontern heute namhafte Historiker, von wegen Schuldfrage. Der Krieg war ja nur ein schrecklicher Ausrutscher der Zeitgeschichte, die fatale Folge einer Pannenkette im Krisenmanagement, und gerade das ist die Lehre für heute, urteilt Christopher Clark. "Die Zeit der großen Debatten über die Ursachen des Ersten Weltkriegs ist vorbei", meint Oliver Janz. Man müsse den Ersten Weltkrieg "als ein für sich allein stehendes, komplexes Ereignis behandeln", fügt Herfried Münkler hinzu.

Mit dem Zerfall der großen Ideologien 1989 erodieren heute auch monokausale Deutungen der Geschichte und das hegelianische Vertrauen in ihre "Gesetzmäßigkeiten". Historie entspringt einem so komplizierten Geflecht widersprüchlicher Kräfte, Entscheidungen und Zufällen, dass sie immer auch hätte anders verlaufen können. Nie zuvor haben sich sowohl die Trivialliteratur als auch die seriöse Geschichtsschreibung so oft mit den alternativen Varianten der "ungeschehenen Geschichte" beschäftigt. Was wäre gewesen, wenn der Erzherzog nach dem ersten Attentatsversuch Sarajewo verlassen hätte? Wenn die Briten sich im August 1914 nicht zur Allianz mit Frankreich und die Deutschen sich 1917 nicht zum U-Bootkrieg entschieden hätten? Wenn der Zar nicht abgedankt hätte? Wenn Stresemann - wie Brandt 1970 - in Locarno auch die polnische Grenze anerkannt hätte? Wäre es besser gewesen, wenn 1939 Polen auf Hitlers Angebot eingegangen wäre? Oder wenn die Bundesrepublik die Oder-Neiße-Grenze bereits bei ihrer Gründung anerkannt hätte?

Diese Fragen werden ernst gestellt, auch wenn sie nicht immer ernst beantwortet werden. Sie sind ein Beleg für die Verunsicherung im Umgang nicht allein mit der Vergangenheit, sondern auch mit der Gegenwart. Wenn die Geschichte anders hätte verlaufen können, dann stimmt es nicht, dass wir in einer Welt ohne Alternativen leben. Alle monokausalen Deutungsmuster haben ausgespielt. Weswegen dann manche dazu auffordern, etwas anderes auszuprobieren: die EU runterzufahren, den Euro aufzulösen, die nationalen Belange in den Vordergrund zu stellen. Die alten Dogmen gelten ja nicht mehr uneingeschränkt…

Dennoch ist es unangebracht, die alten Deutungsmuster achselzuckend zu verwerfen. Sowohl Imperialismus als auch Nationalismus und Sozialdarwinismus trugen 1914 zur Kriegsbegeisterung bei, die allerdings bei weitem nicht so durchgängig war, wie die Bilder schöner Frauen, die den aufmarschierenden Soldaten Blumen schenkten, es glauben machen wollen.

Blutige Spur

Es ist eine Binsenwahrheit, dass der nationale Egoismus zu jenen Kräften gehörte, die dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zugrunde lagen, und dass der Nationalismus - ein Religionsersatz seit der französischen Revolution und den napoleonischen Kriegen - seine blutige Spur durch das gesamte 19. Jahrhundert zog, die schließlich in die großen Schlachthäuser der beiden Weltkriege führte. Gedacht als kurzer "Waffengang", der im Sommer 1914 die Figuren auf dem europäischen Schachbrett günstiger positionieren sollte, wucherte er zu einem weltweiten Tornado, der ganze Völkerschaften gegen vermeintliche "Erbfeinde" mobilisierte und mit gigantischen Materialschlachten, massenhaften Opferzahlen, unerbittlicher Propaganda und aberwitzigen strategischen Plänen und Friedensvorstellungen geführt wurde. Vor dem Versailler "Diktat" von 1919 war ja der "Frieden" von Brest-Litowsk 1918 mit Russland geschlossen worden, in dem sich die deutsche Heeresleitung Ostmitteleuropa nach eigenem Gutdünken zuschnitt.

"Urkatastrophe"

Doch nicht der Nationalismus allein überzog Europa im 20. Jahrhundert mit zwei Weltkriegen und anschließend zwei totalitären Ideologien, die in blankem Völkermord mündeten. Der Sommer 1914 war kein Naturereignis, kein Asteroideneinschlag, der eine heile Welt der "belle epoque" zerschlug. Die "Urkatastrophe" war ja die Folge des 19. Jahrhunderts, des auf dem Wiener Kongress fatal arrangierten Konzerts der Mächte mit seiner Verachtung für die Demokratie und die nationale Emanzipation der Völker, mit seiner ungelösten deutschen, italienischen, polnischen oder Balkanfrage, die nach der Zerschlagung des demokratischen "Völkerfrühlings" 1848 durch die Truppen reaktionärer Herrscherhäuser später zu Aufständen und Vereinigungskriegen führten.

Nicht an den europäischen Nationen ist das Europa des 19. Jahrhunderts gescheitert, sondern an den autoritären Mächten, die sie beherrschten, darunter solche Vielvölkerstaaten wie Österreich-Ungarn, das russische Imperium, auch Großbritannien - man denke nur an Irland - und nicht zuletzt das Deutsche Reich, wenn man die Teilungen Polens im 18. Jahrhundert nicht vergisst. Ihre Herrscher waren europaweit eng miteinander verwandt, dachten aber machtpolitisch. Und so welterfahren die politischen Eliten auch waren, handelten sie doch staatsegoistisch. Eine europäische Gesinnung war ihnen fremd.

Die Idee einer europäischen Vereinigung, einer Art Vereinigten Staaten von Europa, stammte im 19. Jahrhundert nicht von ihnen, sondern von solchen Intellektuellen wie Victor Hugo oder den Sprechern der demokratischen Bewegungen auf Schloss Hambach, die sich mit den Unterdrückten in anderer Herren Länder solidarisierten oder wie manche polnische Dichter im Pariser Exil sich nach einer res publica europeana sehnten.

"Dreißigjähriger Krieg"

Erst nach dem Scheitern der Revolution von 1848 kamen die Stoßgebete nach einer Befreiung von der Bevormundung durch einen "allgemeinen Krieg der Völker" (Adam Mickiewicz) oder Entwürfe für eine freiheitliche "Weltrevolution" (Karl Marx). Nicht allein der Nationalismus und die wieder einmal falsch konzipierten "Friedensdiktate" waren es also, die Europa im 20. Jahrhundert den zweiten "Dreißigjährigen Krieg" bescherten, sondern der fehlende europäische Bürgersinn der französischen Revolution, die durch die jakobinische Schreckensherrschaft und Napoleon ihre eigene Ideen niedertrampelte.

Für die Gründungsväter der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft spielte das Trauma der beiden Weltkriege eine fundamentale Rolle und die deutsch-französische Versöhnung war der Tragebalken der neuen europäischen Ordnung. Für die Ostmitteleuropäer, die nach 1989 dazu stießen, kam der Stolz hinzu, dass sie mit ihrer "samtenen Revolution" nicht nur den Kommunismus niedergerungen, sondern - weil ohne Guillotine und Bonapartismus - sowohl das französische Jahr 1789 als auch das russische 1917 korrigiert hatten.

Die Marschroute gab ihnen dabei allerdings die glaubwürdige Perspektive einer Mitgliedschaft im vereinten Europa vor. Wer sie hatte, geriet nicht aus der Bahn. Wer sie nicht bekam, wie Jugoslawien, das Land der Attentäter von Sarajewo 1914, versank im Bürgerkrieg. Insofern gehören die Jahrestage 1914-1939-1989 eng zusammen.