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Viele rote Karten von den roten Roben

VERFASSUNGSGERICHT Richter fordern mehr Beteiligungsrechte des Bundestages

15.07.2013
2023-08-30T12:24:02.7200Z
4 Min

Den Begriff "Ansteckungsgefahren" verortet man spontan eher beim Bundesgesundheitsministerium. Dennoch tauchte das Wort häufig beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe auf. Und zwar immer dann, wenn Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) das Gericht von der Vorgehensweise der Bundesregierung bei der Euro-Rettung überzeugen wollte. Die Staatsschuldenkrise in Europa könne auf andere EU-Länder übergreifen - und letztendlich die ganze Euro-Zone mit sich in den Abgrund reißen, wollte er damit ausdrücken.

Seine bildhaften Darstellungen hatten einerseits stets Erfolg, denn die Verfassungsrichter billigten bisher alle Rettungsmaßnahmen. Zugleich jedoch bauten sie die Rechte des Bundestages massiv aus. "Europa ja - aber nicht ohne den Bundestag und seine Abgeordneten", könnte man ihre EU-Urteile in dieser Legislaturperiode übertiteln. Dabei darf man über die spektakulären Verfahren zur Euro-Rettung nicht die vielen anderen Entscheidungen vergessen, in denen Karlsruhe Gesetzesänderungen erzwungen hat. Stellvertretend für viele seien das Ehegattensplitting und die Sukzessivadoption eingetragener Lebenspartnerschaften genannt.

Davor erklärte der Erste Senat 2012 das Asylbewerberleistungsgesetz ebenso verfassungswidrig, wie 2010 die Hartz-IV-Regelleistungen. Auch die gesetzliche Ausgestaltung der Vorratsdatenspeicherung fand keine Gnade vor den Augen der Richter.

Blick nach Brüssel

Im November 2011 kippte das Gericht die Fünf-Prozent-Sperrklausel bei den deutschen Wahlen zum Europaparlament. Hat sich Karlsruhe zwischen 2009 und 2013 damit mehr eingemischt als in früheren Legislaturperioden? Nach Ansicht des Jenaer Staatsrechtlers Professor Michael Brenner trifft das zu. Relativ viele Gesetze seien für verfassungswidrig erklärt worden. "Ohne statistische Zahlen zu kennen, hat man in den letzten vier Jahren schon den Eindruck gewonnen, dass das Gericht sich mehr als bisher in die Sphäre der Politik hinein gewagt hat", sagt er.

Dauerbrenner Euro-Rettung

Dennoch: Am deutlichsten werden in dieser Legislaturperiode wohl die Urteile zur Euro-Rettung in Erinnerung bleiben. Der erste Schlag kam im September 2011. Karlsruhe billigte zwar die Milliardenhilfe für Griechenland sowie den vorübergehenden Rettungsschirm EFSF. Zugleich aber forderten die Richter die grundsätzliche Beteiligung des Bundestages in Euro-Rettungsfragen und betonten dessen haushaltspolitische Gesamtverantwortung. "Als Repräsentanten des Volkes müssen die gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages auch im Rahmen der Europäischen Union die Kontrolle über grundlegende haushaltspolitische Entscheidungen behalten", heißt es unter anderem. EU-Milliardenhilfen müsse im Einzelnen der Haushaltsausschuss zustimmen. Das Parlament darf daher keinem "Vertrag auf Rädern" genehmigen, wie der damals federführende Richter Udo di Fabio es einmal formulierte. Verträgen also, die dauerhafte Mechanismen "mit schwer kalkulierten Folgewirkungen" enthalten (Az.: 2 BvR 987/10 u.a.).

Als nächstes Urteil der Karlsruher Richter kam die Entscheidung zum sogenannten Neuner-Gremium Ende Februar 2012: Die Euro-Länder hatten dem EFSF 2011 unter anderem das Recht eingeräumt, Staatsanleihen krisengeplagter Euro-Staaten aufzukaufen. In Deutschland sollte über besonders eilbedürftige und vertrauliche Hilfen ein neunköpfiges Untergremium des Haushaltsausschusses entscheiden. Die SPD-Bundestagsabgeordneten Peter Danckert und Swen Schulz klagten dagegen erfolgreich: Der Zweite Senat stellte die Abgeordnetenrechte nach dem Grundgesetz in den Mittelpunkt seiner Entscheidung und erklärte den Unterausschuss für weitgehend verfassungswidrig. "Budgetrecht und haushaltspolitische Verantwortung werden grundsätzlich im Plenum wahrgenommen", stellen die Richter klar. Der Unterausschuss benachteilige die nicht im Sondergremium vertretenen Abgeordneten grundlos, denn sie seien "von wesentlichen, die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages berührenden Entscheidungen im vollem Umfang" ausgeschlossen. Eine Ausnahme ließen sie nur beim Anleihekauf auf dem Sekundärmarkt gelten. (Az.: 2 BvE 8/11)

Im Juni 2012 folgte das Urteil zum ESM/Euro-Plus-Pakt. Hier hatte die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen geklagt. Sie sahen sich, beziehungsweise das Parlament, bei der Entscheidung über den dauerhaften Rettungsschirm ESM von der Bundesregierung unzureichend und zu spät informiert. Die Richter gaben ihnen recht. Sobald die Regierung weiß, was sie will, muss sie dem Urteil zufolge das Parlament in Angelegenheiten der EU so informieren, dass eine "frühzeitige und effektive Einflussnahme" auf deren Willen noch möglich ist, hieß es. Das Parlament soll nicht nur abnicken dürfen. Zudem muss es in der Regel schriftlich informiert werden.

Mehr Beteiligungsrechte

Diese Vorgaben sah Karlsruhe nicht eingehalten: Vor allem beim Euro-Plus-Pakt hätte das Parlament viel früher informiert werden müssen, mahnten sie. (Az.: 2 BvE 4/11). Und in dem Eil-Urteil zum ESM im September 2012 musste die Bundesregierung vor Ratifizierung des dauerhaften Rettungsschirms schließlich sicherstellen, dass Unterrichtung und Beteiligung des Bundestages gewährleistet sind. In all diesen Urteilen sieht Professor Brenner einen eindeutigen Trend: Die Euro-Rettung konnte und wollte das Karlsruher Gericht nicht verhindern. "Aber das Verfassungsgericht wollte auf diese Weise sicherstellen, dass das Parlament mitbestimmen darf und nicht ausschließlich die Exekutive die Integration in die Europäischen Union vorantreibt."

Urteil zum Einsatz der Streitkräfte

Doch hat das Bundesverfassungsgericht auch schon früher die Rechte des Parlaments gestärkt. Staatsrechtler Brenner verweist in diesem Zusammenhang auf die Urteile des Gerichts zum Einsatz der Bundeswehr außerhalb Deutschlands seit 1994. Auch hier habe das Gericht stets verlangt, dass der Bundestag jedem Einsatz der Streitkräfte zustimmen muss. Parlamentarische Abstimmungsprozesse sind manchmal vielleicht langsamer als gewünscht. Doch wie sagte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle so treffend: Die parlamentarischen Beteiligungsrechte erwiesen sich auf den ersten Blick vielleicht oft als hinderlich, weil sie Prozesse verlangsamten. Auf längere Sicht bilden sie aber unter anderem das Fundament eines "leistungsfähigen, stabilen und ausgewogenen Gemeinwesens", das von den Bürgern auch mitgetragen würde. "Mit anderen Worten: Demokratie hat ihren Preis."